Neue Kommentare zu einer entkorkten Flaschenpost
Zwei Studien widmen sich Max Horkheimers und Theodor W. Adornos vor 70 Jahren erschienener „Dialektik der Aufklärung“
Von Hans-Joachim Hahn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZunächst 1944 in einer mimeografierten und nur an Mitglieder und Freunde des früheren Frankfurter Instituts für Sozialforschung im amerikanischen Exil verteilten Erstausgabe veröffentlicht, erschien die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfasste Dialektik der Aufklärung 1947 als gedrucktes Buch im Amsterdamer Exilverlag Querido. Darin war das letzte Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ um eine siebte These erweitert worden. Anfang der 1980er Jahre, die Kritische Theorie hatte mit ihrem populärsten Buch inzwischen längst den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik erreicht, widmete Jürgen Habermas der Dialektik der Aufklärung wiederholt kritische Relektüren, in denen er sich gegen eine völlige Preisgabe des Auflärungsbegriffs, gegen eine aporetische Vernunftkritik und deren performative Widersprüche wendete (König 2016, S. 326f.).
An das Erscheinen des berühmten Buchs erinnerte genau vor 30 Jahren auch ein von Wilhelm van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr publizierter Sammelband, der dessen damals bereits (über) vierzigjährige Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dennoch unter den Begriff der „Flaschenpost“ stellte. Diese Metapher, die innerhalb des Kreises der Mitglieder des Instituts um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Anfang der 1940er Jahre zur Charakterisierung des prekären Status’ seiner Gesellschaftskritik Verwendung fand, wurde zum vielzitierten Topos im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie. Für die Herausgeber_innen des Sammelbands Ende der 1980er Jahre stand gleichwohl außer Zweifel, dass die „Flaschenpost“ inzwischen ihre Adressaten gefunden hatte: Nachdem sich die Erstausgabe nur sehr zögerlich verkaufte, erschien erst 1969 eine leicht überarbeitete Fassung in gebundener Form, die 1971 ins Taschenbuch kam. Bis 1987 wurden dann in Folgeauflagen immerhin 70.000 Exemplare verkauft und machten die Dialektik der Aufklärung zum meistrezipierten Text der Kritischen Theorie. Dass der sperrige Text unterdessen, weitere drei Jahrzehnte später, als „Klassiker“ gehandelt wird, verdankt sich insgesamt einer eindrücklichen und komplexen Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie in der Bundesrepublik, die kaum aus den reinen Verkaufszahlen der Dialektik der Aufklärung abzuleiten ist. Zweifellos hatten auch Habermas’ kritische Relektüren vom Beginn der 1980er Jahre und deren teils vehemente Zurückweisungen einen nicht geringen Anteil an der neuerlichen Aufmerksamkeit für das Buch.
Auch die zwei hier zu besprechenden Veröffentlichungen aus den Jahren 2016 und 2017 widmen sich der berühmten Studie: Helmut Königs Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der ‚Dialektik der Aufklärung‘ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (2016) sowie die von Gunnar Hindrichs herausgegebene Aufsatzsammlung Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, die als Band 63 der von Otfried Höffe verantworteten Reihe Klassiker auslegen im De Gruyter-Verlag erschien. Beide Studien wählen einen „kommentierenden Zugang“ (Hindrichs), was die offensichtliche historische Differenz zum Echo auf die „Flaschenpost“ aus den Jahren 1944/47 bezeichnet. Während beiden aktuellen Veröffentlichungen der Zugang über kommentierende Ansätze gemein ist, unterscheiden sie sich bei näherem Hinsehen jedoch beträchtlich: Nicht nur widmet sich Königs umfangreicherer Band primär dem Antisemitismus-Kapitel der Dialektik, während in Hindrichs Aufsatzsammlung lediglich einer von elf Texten das Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ kommentiert. Vielmehr schlagen einige der Beiträger_innen in Hindrichs Textsammlung einen deutlich anderen Ton an als König. Darin offenbart sich wohl weniger eine unterschiedliche Auffassung des Kommentars, sondern vor allem ein unterschiedliches Politikverständnis.
Vom „zeitraubenden Gang durch die Sekundärliteratur“ sollen die Bände der Reihe „Klassiker auslegen“ absehen und empfehlen sich daher als „Pflichtlektüre für Studierende, Hochschullehrer und Forscher“, so der Klappentext von Hindrichs Sammelband. Im Hinblick auf das von Hindrichs vorgelegte Buch scheint dieser Anspruch zunächst insofern eingelöst, als auf zentrale Denker und Positionen der Philosophietradition eingegangen wird, die in der Dialektik der Aufklärung verhandelt werden. Der heute als Professor für Sozialphilosophie an der Frankfurter Universität lehrende und dem von Max Horkheimer begründeten Institut für Sozialforschung assoziierte Martin Saar hält dabei für offensichtlich, dass die Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche neben der auf Karl Marx und Sigmund Freud als dritte große „Theorie-Referenz“ in der Dialektik der Aufklärung anzusehen sei, bedeutsamer noch als die von Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. So unstrittig die Bedeutung Nietzsches, dessen mehrschichtige Bedeutung Saar klar herausarbeitet, so unklar bleibt hingegen die Funktion von Marx für die Dialektik der Aufklärung in dem Sammelband, denn bezeichnenderweise ist ihm kein eigener Aufsatz gewidmet.
Hindrichs selbst bezeichnet in seiner Einleitung die Dialektik der Aufklärung als „Vollzug kritischer Theorie“, nachdem er kritische Theorie im Anschluss an Marx’ elfte Feuerbachthese als Beurteilung der Welt „unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderung“ definiert hatte, einen Gesichtspunkt, „den sie an die Aufhebung der Klassengesellschaft bindet.“ Die Gewissheit aber einer quasi naturgesetzlichen Entwicklung hin zur „Aufhebung der Klassenherrschaft“ war Horkheimer und Adorno nach dem Hitler-Stalin-Pakt und insbesondere im Hinblick auf den Genozid an den europäischen Juden abhanden gekommen. Dagegen erweckt Hindrichs den Anschein, als hätte es zwischen Horkheimers ursprünglicher Formulierung des Programms kritischer Theorie in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie aus dem Jahr 1937 und dem Erscheinen der Dialektik der Aufklärung 1944/1947 keine substanzielle Veränderung im Theoriedesign der Kritischen Theorie gegeben.
Ähnlich äußert sich Emil Angehrn in seinem Kapitel zum Verhältnis von kritischer Theorie und Psychoanalyse, wenn er die „wechselseitige Verweisung zwischen den heterogenen Fragerichtungen der Psychoanalyse und der Kritik der politischen Ökonomie“ sowohl zur These als auch zum erkenntniskritischen Anspruch „des auch für die Dialektik der Aufklärung verbindlichen Grundkonzepts kritischer Theorie“ rechnet. Dagegen heißt es in dem Beitrag von Hauke Brunkhorst, dass Horkheimer und Adorno Anfang der 1940er Jahre „zum eigenen Programm auf Distanz“ gingen, nachdem „sich der geschichtliche Horizont verdüsterte“. Beiträge wie dieser reflektieren die sich allmählich ab Anfang der 1940er Jahre vor dem Eindruck erster Nachrichten über das Ausmaß des Holocaust im amerikanischen Exil vollziehenden Veränderung des Projekts Kritischer Theorie.
Gérard Raulet scheint zwischen beiden Positionen zu schwanken, wenn er einerseits für „selbstverständlich“ hält, dass die in den „Aufzeichnungen und Entwürfen“ der „Dialektik der Aufklärung“ vertretene Theorie der Herrschaft weiterhin auf den sozialpsychologischen Grundlagen basiere, die Horkheimer während der 1930er Jahre erarbeitete; andererseits vollziehe Horkheimer aufgrund des Scheiterns des ursprünglichen „groß angelegte[n] Dialektik-Projekt[s]“ gerade die entscheidende Wendung, die die zweite Phase der Kritischen Theorie und einen völlig neuen philosophischen Stil begründet“ hätte.
Der bemerkenswerteste Beitrag des Sammelbands ist gleich der erste, Birgit Sandkaulens ausgezeichnete philosophische Erörterung des Kapitels „Begriff der Aufklärung“, das nichts weniger als „die theoretische Grundlage“ für das Dialektik-Buch darstellt. Bekanntlich beschreiben Horkheimer und Adorno bereits in der Vorrede ihrer Schrift ein aporetisches Verhältnis zum Begriff der Aufklärung: „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich […] als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hätten: die Selbstzerstörung der Aufklärung.“ Zunächst erörtert die Philosophin inhaltliche Aspekte des zugrundeliegenden Aufklärungsbegriffs und danach diskutiert sie das Methodenproblem. Sie beginnt mit der völligen Zurückweisung der für die Aufklärung zentralen Lichtmetaphorik durch die beiden Autoren, die in der Aussage, die „vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ gleich zu Beginn des ersten Kapitels steht. Statt ins Licht führe der von Horkheimer/Adorno diagnostizierte Weg der Aufklärung „immer tiefer in die Finsternis hinein“. Dass diese „grauenhafte Vision“ eine auf Wahrheit beruhende Diagnose sei, stelle „die programmatische These“ dar, „die sich mit der Behauptung der ‚Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit‘ […] auf nichts Geringeres als die gesamte Menschheitsgeschichte erstreckt“. Am Ende des Aufklärungskapitels steht der berühmte Satz: „Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ (DA, S. 48), dessen Sinn Sandkaulen im Sinne der Lichtmetaphorik umschreibt: Wer verblendet sei, sehe nichts, um zugleich nachzuhaken: Wer eine solche These formuliere, wer also den „‚Verblendungszusammenhang‘ als einen ‚Verblendungszusammenhang‘“ erkenne, der erkenne doch zumindest dies. Und weiter: Wer für sich in Anspruch nehme, das von der Aufklärung zu verantwortende „triumphale Unheil“ beim Namen zu nennen, wolle der nicht selbst Einsicht und Erkenntnis befördern, mithin aufklären?
Das wirft die Frage auf, von welchem Standpunkt aus „die Dialektik von Aufklärung und Mythos in ihrer totalen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Zustand der Welt sichtbar“ werde bzw. ob sie überhaupt sichtbar werden könne, „wenn die Menschheitsgeschichte den katastrophischen Verlauf genommen“ habe, der von den Autoren behauptet werde. Pointiert skizziert Sandkaulen somit das Dilemma der Schrift, ganz ähnlich wie es während der letzten Jahrzehnte unter anderem Dieter Henrich, Michael Theunissen, Jürgen Habermas oder jüngst Helmut König unternahmen: „Mit ihrer Kritik unterminieren die Autoren zugleich die Bedingung der Möglichkeit ihrer Kritik, und umgekehrt: Wenn die Bedingung der Möglichkeit der Kritik gegeben ist, läuft ihr radikal negativer Impuls ins Leere.“ In ihrer problemorientierten Lektüre gelingt es der Philosophin so, sich weder „der Suggestivkraft des Textes“ auszuliefern, noch den Text durch zu großen Abstand zu verfehlen.
Der Beitrag über das Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ stammt von Eva-Maria Ziege, die bereits in ihrer Studie zur Kritischen Theorie im amerikanischen Exil (Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil) diesem Gegenstand ein eigenes Kapitel widmete. Dort hatte Ziege zu Recht erklärt, dass die Argumentation des „Dialektik“-Buchs keinesfalls auf das Antisemitismuskapitel zulaufe. Weniger einleuchtend ist dagegen ihre These, der Text könne auch heute noch ohne das „Elemente“-Kapitel gelesen werden, auch wenn sich das rezeptionsgeschichtlich so darstellen mag. So sei das Buch zunächst in den „Spezialdiskurs“ der klassischen Metaphysik eingereiht und in einer späteren Rezeptionsphase dann vor allem unter dem Aspekt der Überlegungen zur Kulturindustrie diskutiert worden. Demgegenüber gelte jedoch für den Entstehungsprozess des Buches, wie Ziege in ihrer Studie von 2009 ausführt, dass während des Schreibens der Antisemitismus „immer mehr ins Zentrum der Arbeit Horkheimers und Adornos an einer philosophischen Theorie der Gegenwartsgesellschaft“ gerückt sei. Ziege betont, merkwürdig ambivalent, dass das „Hineinarbeiten“ der Antisemitismustheorie in das „Dialektik“-Buch, die prominente Rolle, die ihm dort zukommt, „weder selbstverständlich noch notwendig“ gewesen sei. In ihrer anschließenden Verhältnisbestimmung von Antisemitismus und Kapitalismuskritik führt sie dazu aus, Adorno und Horkheimer hätten im Wesentlichen an ihren marxistischen Überzeugungen festgehalten, wobei sie darüber hinaus den Anschein erweckt, dies sei weitgehend bruchlos möglich.
Der Politikwissenschaftler Helmut König wirft diesen früheren Ausführungen Zieges zur Antisemitismustheorie der Dialektik der Aufklärung vielleicht genau deshalb vor, dass darin über „Inhalte und Tiefen“ des „Elemente“-Kapitels „allzu elegant“ hinweggeglitten werde. In jedem Fall ist damit ein zentraler Unterschied in den beiden Rekonstruktionen des Kapitels markiert: Indem König den mit dem Holocaust verbundenen Bruch nicht nur erfahrungsgeschichtlich festhält, sondern ihn auch in den theoretischen Annahmen und Reflexionen Adornos und Horkheimers verortet, gelangt er in seiner auch wesentlich umfangreicheren Darstellung zu einer deutlich kritischeren Perspektive auf die Dialektik der Aufklärung und ihrer Aporien, nicht zuletzt im Hinblick auf die Analyse des Antisemitismus.
Seine Studie, die Kommentar und Interpretation miteinander verbindet, besteht aus drei Teilen und einem Epilog zur Rolle der Kritischen Theorie in der Bundesrepublik. Nach einem Wiederabdruck des „Elemente“-Kapitels folgt ein Kommentarteil, in dem die Argumentationen jeder der sieben Thesen ausführlich nachvollzogen und kommentiert werden. Im dritten Teil findet sich die Analyse und eigentliche Leistung Königs. In fünf Kapiteln dröselt der Aachener Politikwissenschaftler sehr genau die verschiedenen Theoriestränge auf, auf die sich die sieben Thesen der „Elemente“ beziehen. In ihrer Verknüpfung anthropologischer, soziologischer, psychologischer, historischer und ökonomischer Perspektiven spiegele sich in den „Elementen des Antisemitismus“ der von der Kritik der Ökonomie ausgehende Denkweg Horkheimer/Adornos, der über die Kritik der politischen Herrschaft (These vom Staatskapitalismus) schließlich zur Vernunft- und Zivilisationskritik reiche, wie König bereits 2011 in seinem Aufsatz Historischer Materialismus und Antisemitismus. Ideologiekritik bei Marx, Adorno/Horkheimer und Kurt Lenk ausführte.
Schon in diesem Aufsatz hat König aus einem Vergleich von Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen mit der Dialektik der Aufklärung ein fundamentales Dilemma abgelesen, das sich Adorno und Horkheimer angesichts des Genozids an den europäischen Juden stellte und auf das sie bekanntlich mit dem Entwurf einer „philosophische[n] Urgeschichte des Antisemitismus“ antworteten. König fragt daher:
Wie kann es mit dem Unternehmen einer kritischen Theorie der Gesellschaft weitergehen, wenn die Kritik der politischen Ökonomie und mit ihr der Historische Materialismus die Rolle des Schlüssels für die Analyse der Gesellschaft verloren hat, wenn also die Behauptungen, die sich auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit beziehen, der Geschichte der Klassenkämpfe und der selbstnegatorischen Dynamik des Kapitalismus obsolet geworden sind?
Auch wenn sich Adorno/Horkheimer Benjamin nicht anschlössen, so reagierten sie doch auf dasselbe Problem, argumentiert König:
Kann es ohne die Einbettung in eine umfassende, übergreifende und analytisch anspruchsvolle Theorie überhaupt noch die Möglichkeit einer Kritik geben, die diesen Namen verdient? Die Theorie des Antisemitismus ist keine Revolutionstheorie und kann dazu auch niemals werden. Und nach Auschwitz ist eine Weiterführung der Kritik der politischen Ökonomie und der von ihr immer behaupteten Schlüsselposition der Kapitalismusanalyse vollkommen unmöglich geworden.
Hier zeigt sich die Differenz zu den Positionen von Hindrichs und Ziege.
Gleich im ersten Satz des „Elemente“-Kapitels bezeichnen Adorno/Horkheimer den Antisemitismus als „Schicksalsfrage der Menschheit“. Zur Erklärung beziehen sie sich zentral auf eine Zivilisationstheorie, die von dem in der fünften These eingeführten „Mimesis“-Begriff geleitet wird. Horkheimer deute, so führt König aus, den Faschismus als eine „Manipulation der mimetischen Revolte ‚durch die herrschenden Kräfte der Zivilisation selbst‘.“ Auch Erich Fromm und Adorno gelangten in Arbeiten im zeitlichen Umfeld der Dialektik zu ähnlichen Einsichten, dazu, dass es „Formen der ‚Revolte der Natur‘“ gebe, „die in die Etablierung erbarmungsloser Herrschaft und Autorität münden“. Daher ließen sich, so folgert König, solche „passiv oder aktiv rebellierenden Gruppen der Zurückgebliebenen nicht mehr umstandslos als Verkörperungen eines anderen Lebens in Anspruch nehmen.“ Diese Ausführungen zu einem zentralen Baustein der Antisemitismustheorie, die in den „Elementen“ ja als umfassende Gesellschaftstheorie angelegt ist, die Reflexionen zum Mimesisbegriff, bilden die Grundlage, auf der König insbesondere die Abwesenheit eines politischen Verständnisses gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, vor allem der Entwicklung von Handlungsoptionen angesichts des Antisemitismus, herausarbeitet.
König schlägt eine, innerhalb der Antisemitismusforschung allerdings kaum mehrheitsfähige, neuerliche Zuwendung zur „Realgeschichte der Gruppen“ vor, wie sie etwa Hannah Arendt in ihrem Totalitarismus-Buch vertritt:
Um die Komplizität von Mimesis und Herrschaft aufzulösen, müsste man die Projektionsthese verlassen und sich der Realgeschichte der Gruppen zuwenden, die in der Perspektive von Horkheimer und Adorno gegen den Zurichtungscharakter der Zivilisation Einspruch erheben. Nur dann wäre auszumachen, ob und wie dort Potentiale und Antriebe enthalten sind, die für das Bestreben nach einem anderen Verhältnis zur Natur anschlussfähig sind, oder ob es sich, wie beim Verbrecher, dann doch eher um eine ‚Negation‘ handelt, ‚die den Widerstand nicht in sich hat‘, und deswegen – als abstrakte Negation – in die Bestätigung und Verstärkung jener Position übergeht, gegen die sie eigentlich gerichtet war.
Die Handlungsmöglichkeiten blieben aber auch begrenzt, weil es fraglich sei, wieweit tatsächlich der Antisemitismus in den theoretischen Versuchen der sieben Thesen erfasst werde. Nicht zuletzt ist es nämlich die Unspezifität der in den „Elementen“ skizzierten Antisemitismustheorie, die König für unzureichend hält. So sei der Eindruck unabweisbar, dass die „Elemente“ mit dem Mimesis- und dem Projektionsbegriff schließlich „in eine allgemeine Gesellschafts- und Zivilisationstheorie“ einmündeten, deren Verbindung zum Thema des Antisemitismus dann nur noch sekundär wäre.
Die Lektüre von Königs Studie empfiehlt sich für alle weiteren Beschäftigungen mit der Antisemitismustheorie Horkheimers und Adornos. Das Buch stellt zweifellos einen Grundlagentext für die „Elemente des Antisemitismus“ dar. Auch Hindrichs Sammelband zur Dialektik der Aufklärung aus der Reihe „Klassiker auslegen“ liefert, ungeachtet einiger hier vorgetragener kritischer Bemerkungen zu einzelnen Aufsätzen, gewissermaßen als ‚Update‘ zum gegenwärtigen Stand der Beschäftigung mit dem „Klassiker“ der Kritischen Theorie wichtige Hinweise und führt dabei gleichsam vor, wie die Dialektik der Aufklärung weiterhin polarisiert. Vielleicht lassen sich einige Beiträge des Sammelbandes in diesem Sinne als Beleg für die These anführen, dass „Horkheimers und Adornos berühmtes Büchlein über die ‚Dialektik der Aufklärung‘ nicht nur eine dystopische, sondern auch eine utopische Lesart“ ermöglicht, wie Ágnes Heller kürzlich in ihrer Schrift Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir wünschen? festhielt. Dass freilich auch andere Lektüren möglich sind, die keiner der beiden gegensätzlichen Lesarten entsprechen und an Formen der Rationalität jenseits instrumenteller Vernunft sowie der Bedeutung politischer Theorie festhalten, zeigen Königs Studie ebenso wie im Sammelband insbesondere die Beiträge von Sandkaulen und Brunkhorst.
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