Von der Ostfront zum Reichstagsbrand

Leo Lanias Roman „Land im Zwielicht“ aus den 1930er Jahren ist ein melodramatischer, aber lesenswerter Geschichtsunterricht

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Deutschland ist ein Kulturstaat – an den Zügen sieht man es.“ Der letzte Satz in Leo Lanias Land im Zwielicht ist durch seine vorausahnende Ironie fast zu viel des Guten. Als einer der bekanntesten Vertreter des engagierten Journalismus der 1920er Jahre und als lautstarker Kritiker des Nationalsozialismus war Lania als jüdischer Intellektueller wie so viele gezwungen, in den frühen 1930er Jahren vor den Nationalsozialisten zu fliehen und gelangte schließlich auf abenteuerlichem Wege in die USA. Der Roman Land im Zwielicht wurde erstmals 1934 in englischer Übersetzung (Land of Promise) unter Jubel der englischsprachigen Kritik veröffentlicht, einen deutschen Verlag fand das Buch erst im Jahr 1949. Jetzt lädt eine Neuausgabe zum Entdecken eines fast vergessenen Autors ein.

Kurt Rosenberg und Esther Mendel sind die beiden Protagonisten des Romans, der mit Rosenbergs Erlebnissen als Kriegsfreiwilliger an der Ostfront im August 1916 beginnt. Bald lernen er und Esther sich im ukrainischen Borutsch erstmal folgenlos kennen. Erst Jahre später treffen sie sich im Berlin der „Sachlichkeit“ wieder und finden schließlich als Paar zueinander. Aber die Beziehung hält – trotz eines gemeinsamen Sohnes – nicht lange und die Geschichte des Romans endet im April 1933 mit der gemeinsamen Flucht von Esther, ihrem Vater und ihrem Sohn nach Paris. Die melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer nach Deutschland geflüchteten und später von dort wieder vertriebenen Jüdin und einem deutschen assimilierten Juden dient Lania dabei jedoch nur als Aufhänger, um die wichtigsten Daten aus der Zeit der Weimarer Republik zu verknüpfen und mit dem „Schicksal“, jüdisch zu sein, zu verbinden.

Beginnend noch im Krieg mit der Februar- und Oktoberrevolution 1917 in Russland und dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk bereiten sich in der Ukraine bereits Zustände vor, die schließlich in Pogromen enden und Esther samt ihrem Vater nach Berlin verschlagen. Anhand der Ermordung Walther Rathenaus durch die nationalistische, antisemitische Organisation Consul im Jahr 1922, der immer gravierender werdenden Inflation, dem Putschversuch von Erich Ludendorff und Adolf Hitler in München 1923 sowie der Neuwahlen im März 1925 durch den unerwarteten Tod Friedrich Eberts zeigt Lania unterschiedliche Ebenen, auf denen auch in Deutschland der Antisemitismus immer deutlichere Spuren im öffentlichen (und privaten) Leben hinterlässt. Schließlich, im Roman bereits im argen Zeitraffer dargestellt, führen die Weltwirtschaftskrise 1929 und der Reichstagsbrand 1933 nebst den dadurch eingeleiteten Schritten zur Machtergreifung der Nationalsozialisten zur offenen Eskalation. Lania macht bei seiner Verquickung von geschichtlichen Ereignissen und fiktiven Einzelschicksalen nicht immer vor sentimentalen Ausbrüchen halt. So bleiben zum Beispiel die großen Gesten nicht aus, wenn der kommunistische Student Schmidt von den „Völkischen“ ermordet wird. Dabei ist diese Art der Schilderung eine durchaus bewusste: Nach seinen Reportagearbeiten der 1920er Jahre, die der uneingeschränkten „Sachlichkeit“ der Epoche verpflichtet waren, und seiner Mitarbeit an der Piscator-Bühne änderte sich sein Literaturkonzept immer mehr in Richtung Empathie und politische Operationalität. Wie Lania in seiner Autobiografie Welt im Umbruch (1954, engl. Today We Are Brothers, 1942) festhält:

Ich zwang mich, einfach und bildhaft zu schreiben. […] ich lernte, schwierige geistige Probleme und politische Geschehnisse in eine dem ungebildeten Arbeiter verständliche Sprache zu übersetzen, meine Bilder seiner Vorstellungswelt zu entnehmen, ohne flach und vulgär zu werden. Ich lernte, für ein bestimmtes Publikum zu schreiben, mir bei jedem Satz den Mann oder die Frau vorstellend, an die ich das Wort richtete.

Ob alle poetologischen Vorhaben Lanias schließlich geglückt sind, sei dahingestellt. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Land im Zwielicht ungemein lesenswert ist. Die über weiten Strecken vorhandene ironische Distanz des Erzählers, insgesamt aber eine einfühlsame Überlegenheit, siedelt den Roman weit entfernt von billiger Kolportageliteratur an.

Ein zentraler, immer wieder aufgegriffener Referenzpunkt im Roman ist der bereits erwähnte General Erich Ludendorff. Dieser ist nicht nur als einer der Schöpfer der „Dolchstoßlegende“ in die Geschichte eingegangen, sondern ebenfalls durch seine Betätigungen in völkischen Kreisen (und Putschversuchen) der Weimarer Republik. Lania zeichnet Ludendorff als Opportunisten, der sich der jüdischen Bevölkerung windrichtungsabhängig bedient. In einem der ersten Kapitel des Romans gibt Lania ein – von ihm auch als solches ausgewiesenes – Originaldokument von Ludendorff, damals noch in der Armeeleitung tätig, wieder, das die ukrainischen Juden zum gemeinsamen Kampf gegen Russland auffordert. Später taucht Ludendorff bei der Beschreibung eines Zusammentreffens kurz vor dem 9. November 1923 in einem Münchner Lokal auf, als schon „alles verjudet“ ist. Ein weiteres Mal nach dem Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, als er sich – mit antisemitischen Äußerungen auffallend – zur Wahl stellt und verliert.

Ihm gegenüber steht der assimilierte Jude Kurt Rosenberg, der sich im Laufe des Romans vom Kriegsfreiwilligen und Antisozialisten erst zum Pazifisten und Sozialisten, dann zum selbstbezeichneten „Romantiker“ und schließlich – im Moment der Machtergreifung – zum Deutschen, der sich nicht als Jude versteht, wandelt. Dass sein persönlicher Bildungsweg den in diesem Moment sein Haus durchsuchenden Nationalsozialisten egal ist, entzieht sich dabei seiner Vorstellungskraft. Mit Rosenberg bewegt Lania eine Figur durch die Weimarer Republik, die die vermeintlichen Widersprüche und nicht eindeutigen Zuordnungen der Zeit repräsentiert: Sie ist Jude, lebt den „amerikanischen“ Zeitgeist, ist aber auch nationalistisch gesinnt; obwohl noch relativ jung, ist sie durch die Kriegserlebnisse von der Jugend abgeschnitten.

Eine gänzlich andere Variante der (jüdischen) Existenz stellt dabei seine zeitweilige Ehefrau Esther dar: Religiös aufgewachsen, durch die Erfahrung der ukrainischen Pogrome in frühester Kindheit pragmatischer dem Leben zugewandt, beschließt sie Ärztin zu werden und macht sich zeitweilig für die Arbeiterbewegung stark. Schließlich verlässt sie Rosenberg für den von den Nationalsozialisten attackierten Hochschullehrer Graber, eine weitere in komplexen Zusammenhängen gefangene und unfreie Figur. In diesem Durcheinander an konkurrierenden politischen, religiösen und moralischen Ansichten fällt es auch nicht aus dem Rahmen, dass sich Rosenberg in einer Zeit, in der „Geist“ als vages Schlagwort die Gesellschaftszirkel dominierte, für einen nationalistischen und latent antisemitischen Dichter starkmacht. In der gelebten Melange aus unterschiedlichen Weltanschauungen, in der die vermeintlich schwerelose Beschäftigung mit Ideen der Erfahrung vorausausgeht, wird der Dichter erst nach einem persönlichen Erlebnis verschmähter Liebe wirklich zum glühenden Judenhasser. Das ist eine Variante eines wiederkehrenden Themas des Romans. Politik, Wirtschaft oder Antisemitismus entstehen aus persönlichen Erlebnissen, privaten Kränkungen und der Orientierung am Eigennutzen – nicht aus hochgegriffenen Weltanschauungen. Vielmehr dienen die Ideen zur nachträglichen Rechtfertigung. Lania wendet sich damit natürlich auch gegen die „Sachlichkeit“, gegen den „Habitus der Kälte“: Mehrmals im Roman gelingt es den Figuren erst nach längerer Zeit, mit (man möchte meinen) einfachen Begebenheiten wie einem Kuss umzugehen. Die emotionale Obdachlosigkeit und den Zynismus der Zeit, vor allem jenen der Jugend, stellt Lania dabei in essayistischen Einschüben dar, die er zum Teil aus seinen eigenen Reportagen zusammenstellte.

Wie der Herausgeber des Romans Michael Schwaiger in seinem Nachwort festhält, war Lania ein recht ökonomischer Textfabrikant, der einzelne Textstellen mitunter mehrfach verwendete. Dabei sind die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion – was natürlich Lanias Literaturkonzept insgesamt geschuldet ist – sehr fließend. So findet sich beispielsweise eine Szene im Roman, in der Walther Rathenau beschrieben wird, in sehr ähnlicher Form in Lanias Autobiografie wieder. Aber auch auf einer eher biografischen Ebene lassen sich einzelne Szenen im Buch nicht vom Autor trennen. Wenn etwa politisch heterogene Besuchermassen in (freudiger) Erwartung eines Skandals zur Premiere eines Stücks strömen, für das sich ein bekannter kommunistischer Theatermacher verantwortlich zeichnet, dann kann man Lanias Mitarbeit an der Piscator-Bühne kaum ausblenden. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Schwaigers Monografie „Hinter der Fassade der Wirklichkeit“. Leben und Werk von Leo Lania, die ebenfalls gerade im mandelbaum verlag erschienen ist.

Land im Zwielicht ist, trotz einiger stilistischer Einschränkungen, ein sehr aufschlussreiches Buch. Lanias Zeichnung der deutschen Verhältnisse der 1920er Jahre, die immer zwischen den großen Zusammenhängen und der eingeschränkten Perspektive des Individuums hin und her pendelt, zeigt die Schwierigkeiten eines einheitlichen Lebensentwurfs in Krisenzeiten. Wie schnell dabei Weltanschauungen gegeneinander ausgetauscht werden können, darf nach wie vor zu denken geben.

Titelbild

Leo Lania: Land im Zwielicht. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Schwaiger.
Mandelbaum Verlag, Wien 2017.
336 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783854765462

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