Preisverdächtig?

Im ersten Teil seines neuen Romans „Die Ermordung des Commendatore“ entwickelt Haruki Murakami mindestens eine Kunst entschieden weiter, nämlich die, seinen Lesern Rätsel aufzugeben

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leicht lässt sich die Hauptfigur des ersten Teils von Haruki Murakamis Roman Die Ermordung des Commendatore, der namenlose Erzähler, als ausgesprochen typischer Murakami-Protagonist identifizieren. Diesmal handelt es sich um einen professionellen Portraitmaler ohne künstlerische Ambitionen, der rückblickend von den neun Monaten zwischen der Trennung von seiner Ehefrau und der Versöhnung mit ihr berichtet, einer seltsamen und geheimnisvollen ‚Zwischenzeit‘: zwischen Traum und Realität, Wirklichkeit und Fiktion, ein bisschen auch zwischen Leben und Tod. Passenderweise lebt der Erzähler nach längerem Umherirren mit seinem Peugeot 205 in dieser Zeit in einem kleinen Haus, das ganz verlassen im Gebirge exakt auf einer Wetterscheide steht, sodass es vorkommt, „dass im Garten ein starker Schauer niederging, obwohl auf der Vorderseite die Sonne schien.“

Wie fast immer bei Murakami wird also ein männlicher Protagonist durch das Handeln einer Frau in eine Krise gestürzt. Für ihn kommt der Trennungswunsch der Ehefrau ganz plötzlich und unerwartet, sie begründet ihn auf höchst mysteriöse Weise mit einem „sehr realistischen Traum“, dessen Inhalt sie ihm aber nicht mitteilen möchte. Dies ist nur das erste von vielen weiteren Rätseln, mit denen der Protagonist im Lauf des Romans konfrontiert werden wird. Auf dem Dachboden seines neuen Domizils findet er ein unbekanntes Bild des berühmten Malers Tomohiko Amada, der das Häuschen zuletzt bewohnt hat. Das Bild trägt den Titel „Die Ermordung des Commendatore“ und scheint in den 1930er Jahren entstanden zu sein, die der Maler in Wien verbracht hat und die eine grundlegende künstlerische Neuorientierung zur Folge hatten. Was ihm in Europa zugestoßen ist und was das Bildmotiv – eine Szene aus Mozarts Oper Don Giovanni – genau zu bedeuten hat, darüber wird der Maler selbst wohl keine Auskunft mehr geben können, denn er ist dement, lebt mittlerweile in einem Seniorenheim und kann „eine Oper nicht mehr von einer Bratpfanne unterscheiden“, wie sein Sohn es im Roman ziemlich platt formuliert.

Doch damit der seltsamen Ereignisse nicht genug. Auch der Erzähler hat sich gerade entschieden, sich als Maler neu zu erfinden und ab sofort auf Auftragsarbeiten zu verzichten, da wünscht sich ein anonymer Kunde, von ihm porträtiert zu werden und ist bereit, eine ungewöhnlich hohe Summe dafür zu zahlen. Wie aus einer anderen Welt taucht der Auftraggeber namens Menshiki in seinem schwarzen Jaguar auf und stellt den erfahrenen Porträtmaler vor ganz neue Herausforderungen. Denn nicht nur bedeutet sein Name so viel wie „Farbe vermeiden“, auch sein Charakter ist schwer fassbar und seine Haare sind „weder grau noch grau meliert, sondern von ganz und gar reinem, jungfräulichem Schneeweiß.“ Gerade als man denkt, jetzt könne das Malwerk endlich beginnen, wird der Erzähler mitten in der Nacht von einem seltsamen Läuten geweckt, das aus dem Garten zu kommen scheint.

„Vielleicht war es ein spezielles Schlaginstrument? Aber wer um Himmels willen würde hier mitten in der Nacht so etwas spielen und wozu?“ Durch andauernde Selbstbefragungen des Erzählers soll auch der Leser dazu bewegt werden, sich an der Rätselei zu beteiligen, etwa über die vermeintlich glückliche Zeit mit seiner Frau: „Wieso war ich so optimistisch gewesen? Oder besser gesagt: so arglos? Zweifellos gab es in meinem Gesichtsfeld so etwas wie einen angeborenen toten Winkel. Irgendwann hatte ich etwas übersehen. Etwas äußerst Wichtiges.“ Fragen über Fragen, die etwas zu offensichtlich und unelegant das Geschehen mystifizieren und Spannung aufbauen sollen. Es spricht nicht für die Kunstfertigkeit eines Autors, wenn seine Erzählstrategien den Leser zu nerven beginnen.

Und noch etwas nervt gehörig in diesem Roman, und zwar die Sexszenen, die bei Murakami noch nie meisterhaft waren, jedoch auch noch nie so schlecht wie hier. Wie schon Paul Jandl in der NZZ festgestellt hat, ist die Plattheit in diesem Roman geradezu preiswürdig: „Sie zog ihn heraus und rieb ihn mit der Hand. Schließlich glitt sie nach unten und nahm ihn in den Mund, ließ ihre Zunge um ihn kreisen. Ihre heiße, feuchte Zunge.“ Das ist nun wirklich zum Augenrollen. Entgleitet Murakami einfach zuweilen seine Sprachfertigkeit oder spielt der Autor bewusst mit seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die ähnlich der des Erzählers zwischen dem Image des Produzenten von Massenware und jenem des großen Künstlergenies schwankt?

Typischerweise ist auch dieser Murakami-Protagonist ein passiver Einzelgänger, der plötzlich mit lange verdrängten Verlusten und Verletzungen konfrontiert wird. So kehren im Lauf des Romans etwa Erinnerungen an die früh verstorbene Schwester des Malers zurück. Der starke Sog der Erzählung entsteht durch die plastische Vermittlung dieser Gemütslage zwischen tiefer Verunsicherung und Hoffnung auf eine bessere Einsicht in das eigene Seelenleben. Im Roman bringt ein kleines Mädchen diese Hoffnung zur Sprache: „‚Ich wünschte, ich könnte mich selbst verstehen‘, sagte Marie. ‚Ganz meine Meinung‘, pflichtete ich ihr bei. ‚Ich wünschte auch, ich könnte mich selbst verstehen. Aber das ist nicht so einfach. Deshalb zeichne ich.‘“

Die Kunst als Mittel der Selbsterkenntnis ist das zentrale Thema des Romans. Sie kann jedoch nicht bewusst hervorgebracht werden, sondern ähnelt einer fantastischen Traumwelt, auf die man sich nur geduldig einlassen kann und in der andere Regeln gelten als in der Realität. Den ‚Zwischenraum‘ der Kunst als eine Manifestation des Unbewussten und Raum der Inspiration entstehen zu lassen, ist Murakamis große Stärke und ihm in diesem ersten eigentlichen Künstlerroman sogar besser gelungen als bisher. 

Viele Rätsel bleiben im ersten Teil von Die Ermordung des Commendatore ungelöst. Ob es sich dabei allerdings nur um spannende, gut kalkulierte und ebenso gut verkäufliche Sudoku-Rätselspiele handelt oder doch um hohe Erzählkunst, wird sich wohl auch im April nicht eindeutig klären, wenn der zweite Teil des Romans erscheint.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 1. Eine Idee erscheint. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2018.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783832198916

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