Eine einfache Geschichte

In „Das Zeitlabyrinth“ erzählt Ellen Esser erfrischend, aber unreflektiert aus dem Berliner Werber-Milieu

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schauspielerin Ellen Esser, geboren 1942, ist nach einer Bühnenkarriere in den 1960er und 70er Jahren schon viele Jahre als Künstlerin in eigener Sache unterwegs, schreibt und inszeniert Stücke, malt Bilder und organisiert mit dem von ihr geleiteten Verein „Cooltur030“ Lesungen, Podiumsdiskussionen und Ausstellungen, unter anderem im Berliner Kunsthaus Tacheles.

Jetzt hat sie einen Roman geschrieben, aufbauend auf ihrer Idee einer Kunstinstallation mit dem Namen „Das Zeitlabyrinth“, die sie sich vorstellt als begehbaren Durchgang durch die  Lebensalter des Menschen. Der Zuschauer soll darin Kunstwerken verschiedener Künstler begegnen und so angeregt werden, sein eigenes Leben als Geschichte zu konstruieren. Esser hat auf ihrer Website dazu aufgerufen, eigene Lebensgeschichten und Familiengeheimnisse beizusteuern. Als fiktives Muster dafür kann ihr Roman dienen – und vielleicht kommt er deshalb auch so anspruchslos daher.

Er erschien bei Books on Demand und mutet eher wie der Erstling einer Hobbyautorin an. Zum einen liegt das an der äußeren Form des Buches: Satz und Layout sind einfach, wirken beinahe wie selbst gemacht; ein professionelles Lektorat gab es offenbar nicht, wie die Menge der – manchmal sogar sinnentstellenden – Tippfehler erweist. Es liegt aber auch an dem Romantext selber. Esser schreibt wie eine leidenschaftliche Anekdotenerzählerin, schnell und direkt, nicht wie eine Romanautorin, die ihr Vorhaben strukturiert geplant hat.

Inhaltlich geht es um eine junge Frau, Marie mit Namen, Unternehmensgründerin, erfolgreich, aber abhängig von ihrem noch erfolgreicheren Vater. Ihre psychische Orientierungslosigkeit kompensiert sie durch destruktive sexuelle Abenteuer, die sie noch weiter verunsichern. Dann stellen sich heftige Migräneanfälle ein, die auch ihren beruflichen Erfolg gefährden. Marie sucht nach Heilung, testet die üblichen Psycho- und Esoterikangebote: Gesprächstherapie, Reisen in vergangene Leben, Meditation, Hypnose, Tarotkarten. Am Ende verrät die Freundin ihrer Mutter ein verdrängtes Familiengeheimnis und alle Probleme lösen sich auf: Nicht nur die Migräne verschwindet, auch in der Beziehung zum Vater, zum Bruder und zu ihrem neuen Liebhaber bekommt sie erstmals Boden unter die Füße.

Die Geschichte ist stimmig, aber banal. Erfrischend und lebensecht wirkt sie in den Passagen, in denen die Autorin mit Berliner Schnauze das Berliner Werber-Milieu beschreibt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Peinlichkeiten und handgreifliche sexuelle Begegnungen werden sehr direkt und oft auch mit Witz geschildert. Die Episoden um Künstlerkreise in Kalifornien – natürlich reist man in die USA, wo auch die Auflösung des Familiengeheimnisses stattfindet – erfreuen ebenfalls durch farbige und genaue Beschreibungen.

Was an dem Buch verstimmt, ist seine Oberflächlichkeit. So wie seine Protagonistin auf eine Weise ahnungs- und bindungslos durch die Welt stolpert, dass es beim Lesen geradezu schmerzt, fehlt es auch der Erzählstimme an Gespür oder gar Verständnis für die Welt, die sie darstellt. Pfiffig und treffend bei der Beschreibung alltäglicher Details, bleiben die größeren erzählerischen Zusammenhänge – Figurenkonstellation, gar Nebenfiguren oder Handlungsbogen – schablonenhaft und banal. So sind die Reisen in Maries frühere Leben, die sogenannten „Rückführungen“, obwohl zentrale Handlungselemente, von kaum erträglicher Klischeehaftigkeit, ohne jegliches Gespür für fremde Zeitumstände und für Menschen anderer Epochen. Sie erweisen sich im Laufe der Handlung immer deutlicher als oberflächliche Maskeraden, die nur dazu da sind, die aktuellen Probleme der Zeitreisenden Marie zu illustrieren.

Ähnlich egozentrisch funktionieren Maries Liebesabenteuer: Die junge Frau, die sich von ihrem  übergriffigen Vater nie emanzipiert hat, zieht es hin zu dominanten, gewalttätigen Männern. Gleichzeitig will Marie aber die Kontrolle behalten, wie sie es von ihrem Vater gelernt hat. Sie findet eine naheliegende Lösung: kurze Affären mit nordafrikanischen Männern, Männern aus einer Macho-Kultur also, die in der sozialen Hierarchie aber tief unter ihr stehen. Werden sie zudringlich, beendet sie den Kontakt. Als einer ihrer Liebhaber in seiner Wut darüber körperlich ausfällig wird, ruft Marie die Polizei, um die Abschiebung des Illegalen zu bewirken. Solange sie die Kontrolle über die Geschehnisse hatte, hatten sie der Aufenthaltsstatus und die kriminellen Aktivitäten ihres Liebhabers dagegen nicht interessiert. Das ist aus ihrer Sicht verständlich, wird aber weder von ihr selbst noch von dem Roman insgesamt in irgendeiner Weise reflektiert.

Besonders verärgert dieses fehlende Verständnis bei Maries Begegnung mit esoterischen Praktiken. Hier könnte der Blick über die Tagesprobleme hinaus ins Weite gehen, zu einem Verstehen von Zusammenhängen führen – das Gegenteil ist der Fall. All die psychischen und esoterischen Praktiken, die Marie probiert, werden von ihr schnell und kritiklos konsumiert und bleiben für ihre psychische Entwicklung ebenso wie für den Handlungsverlauf des Romans folgenlos. Die Lösung, die der Text am Ende ziemlich unvermittelt anbietet, kommt aus dem Kreis der Familie.

Reflexion und Geistiges sind nicht die Stärke von Das Zeitlabyrinth. Es sind  die diesseitigen, gegenwärtigen, alltäglichen Passagen, die in diesem Buch lesenswert sind – als leichtfüßige, sprudelnd und treffsicher erzählte Einblicke ins Berlin der Künstler und Werbeagenturen. Da, wo sich der Text an die Dimension eines „Zeitlabyrinths“ macht, versagt er dagegen kläglich.

Titelbild

Ellen Esser: Das Zeitlabyrinth. Roman.
TWENTYSIX, Norderstedt 2017.
440 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783740733100

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