Was zum #@!:-(! sind denn nun genau Graphic Novels?

Ein weitgehend gelungen überarbeiteter Einführungs- und Überblicksband widmet sich einem vielfältigen Subgenre der Comicliteratur

Von Stefan ElitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Elit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem breiten Feld des Comics floriert in den jüngsten Jahrzehnten auch im deutschsprachigen Raum die Graphic Novel, zumindest was die Verwendung dieses Gattungsbegriffs für ein immer breiteres Segment von längeren buchmäßigen Comicveröffentlichungen betrifft, und vielleicht setzt sich zumindest im allgemeineren Buchhandel auch hierzulande bald durch, was im anglo-amerikanischen Raum bereits der Fall ist: Neben den Regalschildern ‚Romane‘, ‚Fantasy‘ und ‚Manga‘ steht gar nicht mehr ‚Comic‘, sondern quasi-hyperonymisch ‚Graphic Novels‘, und darunter befinden sich jegliche Formen des Comics, die es zur in der Regel mindestens fünfzigseitigen Publikation mit etwas wertigeren Buchdeckeln geschafft haben, egal ob sich zwischen diesen altbekannte Serienhelden-Heftinhalte, Sammlungen von Cartoons, kunstvolle novellistische Bildgeschichten oder tatsächlich im engeren Sinne inhaltlich romanhaft strukturierte, nicht serielle Bild-Text-Erzählungen befinden.

Wenn der Begriff der Graphic Novel so ‚genutzt‘ wird, handelt es sich marktökonomisch gesehen zunehmend um ein Labelling, das einem – jenseits des starken Mangabereichs – in die Absatzkrise geratenen Verlagsbereich zu neuem Glanz verhelfen soll. Entsprechend skeptisch sehen zahlreiche Comicforscher die forcierte Setzung des Begriffs, mit dessen Verwendung für sie einhergeht, dass das neue Label nicht nur von Verlagskapitalisten gesetzt wird, sondern auch von konservativen Bildungsbürgern oder zumindest für diese – als Käufer, die endlich die Gattung Comic würdigen. Graphic Novel mag insofern auch zur gewünschten Abgrenzung einer neuen hochkulturellen Teilgattung von der breiten Masse allzu populärkultureller Comicsparten dienen.

Auf den ersten Blick scheint der vorliegende Sonderband der Zeitschrift Text + Kritik eine Bestätigung dieser Entwicklung darzustellen, die somit auch die Literaturwissenschaft erreicht hätte, handelt es sich bei dem Band doch um die neu fokussierte Fassung eines Vorgängerbandes derselben Herausgeber, der sich 2009 noch breiter Comics, Mangas, graphic novels widmete, und der im selben Jahr auch bereits im Rahmen dieses Forums rezensiert worden ist (vergleiche Stefan Höppner: Vom Leben gezeichnet). Der Vorgängerband erhielt seinerzeit bereits ein großes Lob für die einführende Leistung in ein lange von der Germanistik vernachlässigtes Feld. Es wurde jedoch auch einige Kritik deutlich. Diese richtete sich zum einen auf eine fehlende Beschäftigung mit deutschsprachigen Comic-Künstlern, zum anderen auf eine zu geringfügige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Literatur und Comic und schließlich auf ein nicht eingelöstes Versprechen des Bandes, nämlich profunde Analysen vor allem der bildmäßigen Narration von Comics zu bieten.

Der überarbeitete Sonderband ist also einerseits darauf zu prüfen, wie überzeugend er dem neu festgesetzten Gegenstand Graphic Novels nachgeht und ihn als solchen jenseits von Labelling und bildungsbürgerlichem Abgrenzungsversuch identifizieren kann. Zum anderen ist entsprechend der ‚Vorgeschichte‘ des Bandes zu fragen, wie sich der Neuzuschnitt präsentiert und ob die genannten Monita vielleicht sogar aufgegriffen und die Defizite behoben worden sind.

Im Vergleich zum Vorgängerband ist als Erstes eine Erweiterung von etwa 270 auf 325  Seiten festzustellen, was nicht mit einer Vergrößerung der absoluten Zahl wissenschaftlicher Beiträge (jeweils 15 Stück) einhergeht, sondern aufseiten des neuen Bandes lediglich mit einer Ergänzung: die in drei Kapitel lose verteilte comicmäßige Gattungsreflexion durch Ute Helmbold (Noch ein Bier 1-3). Die einzelnen Beiträge sind also in sich umfangreicher. Von den ursprünglichen 15 Aufsätzen sind dabei sechs erhalten geblieben, die allerdings nur zum Teil und ohne starken quantitativen Effekt erweitert wurden; insbesondere kleinere Aktualisierungen und bis in die Gegenwart fortgesetzte Werkbetrachtungen sind hier zu verzeichnen. Neun neue und meist umfassendere Beiträge sind außerdem hinzugekommen.

Die übernommenen und neuen Aufsätze sind untereinander vermischt und ohne explizite Sortierung aufgereiht. Es lässt sich jedoch feststellen, dass sich der Band aufgliedert in zwei gattungsbasale Überblicksartikel, zwei kleine Reihen von Werküberblicken großer amerikanischer und französischer Vorreiter und Impulsgeber der Graphic Novel, einen Grundsatzbeitrag zur Frage des Autobiografischen auch im deutschsprachigen Comic und einen Überblicksbeitrag zur deutschsprachigen Graphic Novel, gefolgt von einem sich gut anschließenden Überblick zum Schaffen Ralf Königs. Sehr lose angereiht sind dann ein Beitrag zur besonderen Ästhetik eines Action-Manga-Subgenres, ein Beitrag zur Entwicklung des US-amerikanischen Superheldencomics hin zu den filmischen und Graphic-Novel-artigen Neuinszenierungen der letzten Jahrzehnte, ein Beitrag zur großen Frage des Verhältnisses von Religionen zum Comic und schließlich ein Beitrag zu „textfreien Bildromanen“, der dem modischen Label bewusst einen deutschsprachigen Gattungsbegriff durchaus schon älterer Provenienz entgegensetzt.

Mit Blick auf die Aufgliederung des Gandes insgesamt kann von einer zumindest in größeren Teilen gelungenen Überarbeitung des Vorgängerbandes gesprochen werden. Immer noch erweiterbar erscheint die Beitragsreihe zum deutschsprachigen Raum. Die Schlussreihe zu Gekiga-Manga, Superheldencomic, Religion und textfreiem Bildroman überzeugt nicht vollends, weil die Frage nach der Graphic Novel in den ersten drei dieser Beiträge bisweilen ganz aus dem Blick gerät – bevor sie im allerletzten Aufsatz jedoch fulminant noch einmal neu gestellt wird.

Für die einzelnen Beiträge ist grundsätzlich festzustellen, dass die für den Vorgängerband angemahnte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Comic und Literatur sowie mit der genuin bildmäßigen Narration in Comics allgemein und Graphic Novels im engeren Sinne vielfach vorhanden ist, sei es in einzelnen ästhetischen beziehungsweise Erzählanalysen, sei es in der fundamentalen Reflexion der Gattung (mit Blick auf die Bild-Narration hier erneut als vorbildhaft zu erwähnen: der Schlussbeitrag zu textfreien Bildromanen, verfasst von Dietrich Grünewald). Die generelle Kompetenz, größere Überblicke über teils immense literarische Reihen und auch umfassende Einzelœuvres zu bieten, ist außerdem bei allen Beiträgerinnen und Beiträgern zu konstatieren, so dass Einführungs- und Überblickscharakter des Bandes gut erreicht und abgesichert sind. Monieren lässt sich allenfalls, dass es durch die enge Benachbarung mancher Themen und den häufig weit ausholenden Duktus zu Redundanzen bei den Rekonstruktionen von Gattungsentwicklungen vor allem im US-amerikanischen und französischen Raum kommt. Im Sinne des alten Narrationsprinzips ‚Wiederholung mit Variation‘ erweist sich der erneute Ansatz bei demselben freilich in der Leserperspektive als produktiv, wenn sich die differenzierteste Erkenntnis sozusagen in der rezeptiven Auseinandersetzung mit den wieder und wieder, aber doch nicht identischen verhandelten Gegenständen ergibt.

Eine besonders wichtige Ebene dieser ‚variativen‘ Gattungsdiskussion ist – neben derjenigen zur grundsätzlichen Definition des Subgenres – diejenige des Autobiografischen, die in den meisten Beiträgen verfolgt und zu einem, wenn nicht dem zentralen Moment der Graphic Novel erklärt wird, das deren Entwicklung zumal aus dem allgemeinen Feld des Comics heraus geprägt habe. Hier zeigt die Reihe der Beiträge, die sich mit dem Autobiografischen auseinandersetzen, eine besonders erhellende Unterschiedlichkeit: Während so mancher Aufsatz, sei es im einführenden Überblick, sei es bezüglich einzelner Graphic-Novel-Autoren, in einer allzu starren Verrechnung oder sogar heikel biografistischen Suche und Deklaration verharrt, diskutiert insbesondere Kalina Kupczyńskas Beitrag Poiesis des autobiographischen Comics auf höchstem literaturtheoretischem Niveau und vermeidet einfache Ineinssetzungen konsequent. Mit ihrem Fokus auf die großen Underground-Autoren der Nachkriegszeit kann sie zeigen, dass deren comicmäßige Autobiografik stark mit zeitgenössischen postmodernen Entwicklungen des dekonstruktiven Selbst-Schreibens koinzidieren oder vielleicht sogar korreliert sind. Eine andere, eher dokumentarische Traditionslinie steht dem bis heute gegenüber.

Was zum #@!:-((! denn nun Graphic Novels genau sind, lässt sich nach Lektüre des vorliegenden Bandes zwar weiterhin nicht sagen, allerdings ist, ebenso salopp gesagt, die Ratlosigkeit deutlich begründeter – oder positiv: Die historische und ästhetische Spannweite der Werke, die im Vorfeld dieses Subgenrebegriffs liegen beziehungsweise sich unter diesen Begriff bringen lassen, ist immens, das zeigt sich hier überaus aufschlussreich.

Kein Bild

Andreas C. Knigge / Hermann Korte (Hg.): Graphic Novels.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2017.
330 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783869166155

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch