Zwei Zeilen über Hören, Sehen und Schreiben

Die Kunst der Kürze in einem Gedicht Eugenio Montales aus seinem Zyklus „Xenia“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Eugenio Montale, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1975, neben Giuseppe Ungaretti einer der beiden großen italienischen Dichter des 20. Jahrhunderts, hat für sein Alterswerk viel Kritik erhalten. Bekannt, ja nachgerade berühmt geworden in den 20er Jahren mit den hermetischen Versen seines ersten Buches Ossi di seppia, hat Montale erst 1971, mit 75 Jahren, seinen fünften Gedichtband herausgebracht, 15 Jahre nach dem vierten. Satura, eine Sammlung von durchweg kurzen, meist ungereimten, zwischen 1962 und 1970 entstandenen Gedichten, galt vielen vor allem als eine lyrische Altersschwäche. Einfach, fast schlicht, zu schlicht, gemessen an den früheren Gedichten, kommen die Verse des Bandes daher, wie Gelegenheitsarbeiten ohne größeren formalen und stilistischen Ehrgeiz. Nichts tut jedoch diesen Gedichten mehr Unrecht als eine solche Einschätzung – als würde Kürze schon Kunstlosigkeit bedeuten. Was in ihnen steckt, geben sie allerdings zumeist nicht schon in der ersten Lektüre preis. So ist es auch bei einem Gedicht aus seinem Zyklus “Xenia“ (I, 9):

Ascoltare era il solo tuo modo di vedere.
Il conto del telefono s’è ridotto a ben poco.

Zuhören war deine Art zu sehen.
Die Telefonrechnung ist auf wenig zusammengeschrumpft.

Der Zyklus bezieht sich mit seinem Titel auf das 13. Buch der Epigramme Martials. Ihnen folgend sind die beiden nicht gereimten Verse von 17 und 16 Silben angeordnet nach Art eines Distichons. Durch seine Aufteilung in zwei kurze Sätze ist das Gedicht zweigeteilt, folgt dabei aber nicht dem klassischen Epigramm-Schema von Erwartung und Aufschluss, wie Lessing es bezeichnet hat. Seinen Anlass scheint, ungewöhnlicherweise, erst die zweite Zeile zu benennen: die Entdeckung, dass sich die Telefonrechnung verringert hat. Die Vergangenheitsform des ersten Verses lässt den Leser annehmen, dass der Grund dafür der Tod des Menschen ist, den der Sprecher verloren hat. Wer den ganzen Zyklus liest, weiß aus dem Zusammenhang, dass dieser Mensch die Frau des Dichters ist.

Dass die zweite Zeile, ganz gegen die strenge Epigramm-Regel, gewissermaßen den Anlass nachreicht, mag wie ein Kunstfehler erscheinen. Das ist es jedoch nicht. Auf die erste Entdeckung, mit der das Gedicht einsetzt, folgt eine zweite. Dass die Telefonrechnung erheblich zurückgegangen ist, lässt vermuten, dass die Tote viel telefoniert hat. Der erste Vers klärt uns aber darüber auf, dass sie nicht viel gesprochen – sondern zugehört hat. Wer die anderen „Xenien“ Montales gelesen hat oder auch die Gedichte des ihnen folgenden Zyklus „Satura“, weiß, dass seine Frau sehbehindert war. Dass Zuzuhören ihre Art des Sehens, also offenbar im übertragenen Sinn: des Erkennens von Menschen gewesen ist, sagt uns der erste Vers, ohne dass wir es sogleich beim ersten Lesen ganz verstehen können.

Die Metapher vom Hören als einer Art von Sehen wird durch die Feststellung des zweiten Verses konkretisiert: Das Hören der Frau war ein Zuhören, bei dem man seinerzeit, im Mittelalter des Telefonierens, den anderen, den Sprechenden noch nicht sehen konnte. Nicht nur in diesem Sinn ist es ein besonderes Sehen, ein Sehen im emphatischen Sinn, auf das die sprachliche, indogermanische Verwandtschaft von italienisch ‚vedere‘ mit lateinisch ‚videre‘, indisch ‚vega‘ und deutsch ‚wissen‘ verweist. Es ist ein eindringliches und eindringendes Sehen, eine tiefere Einsicht, wie es in der Umgangssprache, oder eine Wesensschau, wie es in der metaphorischen Sprache der Philosophie heißt.

Der zweite Vers ist dabei keine nachgetragene Banalität, die lediglich das Hören als ein Telefonieren beschreibt. Er ist auch mehr als eine Ausführung des Verbes „era“ im ersten Vers, also der indirekte Hinweis auf den Tod. Dass die Telefonrechnung zurückgegangen ist, verweist auch darauf, dass der Sprecher selbst nicht viel telefoniert. Zuhören, ob am Telefon oder im unmittelbaren Gespräch, ist nicht seine Art zu sehen. Das Gedicht zeigt vielmehr – ohne es zu sagen –, dass das Dichten seine Art des Sehens ist. Im Schreiben erkennt er Menschen; die Erkenntnis über seine Frau drückt er in Versen aus, in denen sich seine Kunst weniger präsentiert als lakonisch-konzentriert versteckt.

Das Gedicht spricht davon, wie ein Mensch andere erkennt oder erkannt hat, und indem es das in Versen tut, demonstriert es seinen eigenen, allerdings anderen Erkenntnisanspruch. So ist es Epitaph und Porträt in einem, ein kleines Liebesgedicht und dazu noch ein Gedankengedicht: über die Unterschiede in der Art, wie Menschen Menschen wahrnehmen – und das alles in zwei Versen.

Literaturhinweis

Eugenio Montale: Satura/Diario. Aus den späten Zyklen. Italienisch/Deutsch. Übertragung und Nachwort von Michael Marschall von Bieberstein. München / Zürich 1976, S. 20.

Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz