Tragödie der Moderne

Zu Michael Jaegers umfassendem Abschluss seiner Studien über Goethes „Faust“

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Goethes 263. Geburtstag am 28. August 2012 feierte die Klassik Stiftung Weimar die Wiedereröffnung des Goethe-Nationalmuseums am Frauenplan mit der Ausstellung „Lebensfluten – Tatensturm“. Sie veranschaulichte das anhaltende Faszinosum Goethe und erklärte sein Fortwirken, in dem sie ihn als Zeugen der um 1800 einsetzenden Moderne präsentierte und Leben und Werk in zeitgenössischen Kontexten zeigte. Der Titel der Schau ist dem Auftritt des Erdgeistes in der Nachtszene des „Faust I“ entnommen: „In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall‘ ich auf und ab, / Webe hin und her! / Geburt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben, / So schaff‘ ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und webe der Gottheit lebendiges Kleid.“

Goethe wurde in Weimar bereits früh zu einer Instanz, im Alter betrachte er sich als ein historisches Sujet, wie Rüdiger Safranski in seiner Goethe-Biographie pointiert formulierte. Das Würdevolle und Steife seines Lebens und Wirkens kontrastierte jedoch auffällig mit der Faustfigur seiner Tragödie. Dabei wollte Goethe seinem Leben den Stempel eines Kunstwerks aufdrücken: „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andre und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu.“

Bereits gemeinsam mit Schiller hatte er auf die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit mit dem ästhetischen Programm der Klassik reagiert. Orientierungspunkt und Ideal war hierbei die griechische Antike. Der verlorenen Ganzheitlichkeit des Lebens und dem „veloziferischen“ Zeitgeist setzte er eine überzeitliche und autonome Kunst entgegen, die auf Harmonie, Schönheit und Vollendung ausgerichtet ist.

Wenn der alte Goethe von der Kollektivität seines Lebenswerks spricht, dann findet darin nicht ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit, kein Narzissmus seinen Ausdruck, sondern Demut und Bescheidenheit am Ende eines langen Dichterlebens. Am 17. Februar 1832, ein Monat vor seinem Tod, sagt Goethe in einem Gespräch zu seinem Freund Frédéric Soret: „Was bin ich denn selbst? Was habe ich gemacht? … Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.“

Das Buch zur Weimarer Ausstellung „Lebensfluten-Tatensturm“ enthält den Beitrag „Faust – oder: Das Drama der modernen Existenz“ von Michael Jaeger, der Faust-Deutungen aufgreift, die er in seinen beiden Büchern Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderneund „Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes“ entwickelte. Zentral in den Faust-Interpretationen Jaegers ist dabei die These, dass „Faust-Mephistos Geist“ die Triebkraft der modernen Fortschritts- und Entwicklungstheorie ist, „die alles Daseiende verneint im Blick auf das Neue, Nochnichtseiende, Bessere, Zukünftige, was dann aber, sobald es da ist, auch gleicht wieder verneint wird. Negation und Innovation der politischen und ökonomischen Revolution gehen ad infinitum.“ Diese Lesart, die in der Goethe-Forschung keineswegs neu ist, sieht in Fausts Drama die Tragödie und Katastrophe der modernen Zivilisation, einen dystopischen Ausblick auf die permanente Revolution der Lebensverhältnisse, die im 19. Jahrhundert ihren unheilvollen Anfang nahm.

In seiner umfassenden und gelehrten Studie „Wanderers Verstummen, Goethes Schweigern, Fausts Tragödie“, die seine Faust-Trilogie unter dem Leitthema „Goethe und die Moderne“ zum Abschluss bringt, rekonstruiert Michael Jaeger die Genese des Tragödienfinales und interpretiert sie als „Schlüsselszene jener ,großen Konfession‘, die uns Goethe in seinem gewaltigen Œuvre hinterlassen hat, in Bruchstücken allerdings und keineswegs als offen ausgesprochenes Bekenntnis, sondern als ein in seine literarischen und selbstbiographischen Texte sowie in seine Briefe und Gespräche eingehendes verschwiegenes Vermächtnis“.

Gerade die paradoxen Erfahrungen der Modernität und ihrer Antagonismen in der alltäglichen Realität, „Abstürze in die Verzweiflung und die Aufschwünge in die Euphorie“ finden sich nach Jaeger in den Texten Goethes, vor allem in der „Faust“-Tragödie: „Das Wiedererkennen der zerrissenen Realität von uns Heutigen in jener Wirklichkeit, die Goethe dargestellt hat, steht am Anfang jund am Ende meiner philologischen und ideengeschichtlichen Arbeit.“

Michael Jaeger gelingt mit seinem Buch eine zeitgeschichtliche und biographische, eine symbiographische Enordnung des „Faust“- Dramas, mit dessen Stoff sich Goethe erstmals  beschäftigte, als er noch in seinem Frankfurter Elternhaus lebte. Goethe schloss im Jahre 1831 das Faustdrama ab und fügt eine Szene in das Manuskript ein, die „man zu den rätselhaftesten und verstörendsten, dann aber auch zu den bedeutungsträchtigsten und modernsten Bildern seines ganzen Werkes zählen wird“. Im fünften Akt des „Faust II“ erscheint ein Wanderer in einer ursprünglichen „offenen Gegend“, der jene „alte Stelle“ wiederfindet, wo er, so beschreibt es Jaeger, „einst von Philemon und Baucis aus dem Schiffbruch seiner Existenz gerettet wurde“. Das Glück dieses Wiederfindens, des kontemplativen Verweilens im Augenblick, verwandelt sich aber schlagartig in Entsetzen und Grauen angesichts der „Transformation der Welt“. Der Wander sieht kein Meer, keinen Strand, keine Wellen, sondern nur noch Ackerland und „dichtgedrängt bewohnter Raum“. Zunächst versteckt er sich noch in der Hütte der beiden Alten, entdeckt begibt er sich in einen aussichtslosen Kampf gegen die von Mephisto ausgeführte Kolonisation, ehe er zusammen mit seinen beiden Lebensrettern auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird, Opfer einer ungehemmten Inbesitznahme und Kolonisierung der Welt. Das Bild des in den Schrecken der apokalyptischen Nacht verstummenden und verschwindenden Wanderers ist, so Jaeger, der „dramatische und ultimative Ausdruck“ für das Schweigen Goethes über sein Tragödienfinale und seine Resignation angesichts der Weltverhältnisse.

Goethe stand den technischen Erfindungen seiner Zeit wie Dampfmaschinen und mechanischen Webstühlen, Eisenbahnen und Dampfschiffen ambivalent gegenüber. Revolutionäre Umwälzungen im gesellschaftlichen Raum lehnte er ab. Er informierte sich stets über die politischen und ökonomischen Entwicklungen durch das Studium von Zeitungen und Schriften, informierte sich über die neuesten Theorien aus Frankreich, die Goethe der Pariser Tagespresse entnahm. In der Studie von Michael Jaeger geraten vor allem die Fortschrittsutopien der Französischen Revolution von 1789 und der Juli-Revolution von 1830, insbesondere der Saint-Simonismus, ins Visier sowie die Faust-Deutungen von Karl Marx, Ernst Bloch, Georg Lukács und anderen marxistischen Theoretikern. Sie alle sind für Jaeger Repräsentanten einer perfektibilistischen und revolutionären Geschichtsphilosophie, die den Untergang der alten, bewahrenden Kultur zelebrieren.

Realhistorischer Hintergrund für die „Faust“-Tragödie ist ein Bruch der Gesellschafts- und Ideengeschichte, der die Überlieferung zerstört und die Welt Alteuropas vom modernen Industriezeitalter trennt. Goethe macht, so Jaeger, Faust-Mephisto zum „Archetypus der Bewußtseinsdisposition jener Epoche der Moderne“. In der Geschichte des Faust-Mythos revoltiert Johannes Faust, ein Zeitgenosse der Reformation und Renaissance, nach den Legenden seit dem 16. Jahrhundert gegen Gott und das christliche Weltbild. Im 18. Jahrhundert führt uns Goethe in seiner Prometheus-Ode eindringlich vor, dass sich Prometheus und Faust einig sind im Protest: „Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei (…).“ Der Mythos der Moderne, heißt es bei Jaeger, „berichtet immer auch von dem Selbstermächtigungsprojekt der Moderne“, der Empörer tritt an Gottes Stelle, die Utopie einer zweiten Schöpfung bestimmt das Ziel der Geschichte. Faust schließt mit dem Teufel auch keinen Kaufvertrag ab, sondern eine Wette. Er setzt darauf, dass es in Zukunft für ihn keinen Augenblick der Ruhe und der Zufriedenheit mehr gibt. Dies wird zum neuen Lebensprinzip. Fausts Wette wird noch radikalisiert durch einen Mobilitätsimperativ, der das Verweilen streng verbietet: „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen: ,Verweile doch! du bist so schön!‘ / Dann magst Du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehen!“

Und doch erlebt Faust den Augenblick des Glücks, in einer Region, in der die Wette ihre Gültigkeit verloren hat, an der Seite Helenas in Arkadien: „Die Gegenwart allein – / ist unser Glück.“ Für Michael Jaeger stellt es eine subtile Ironie Goethes dar, dass gerade die Arkadienszene eine emanzipatorische Errungenschaft der Moderne in Erinnerung ruft: Kritik und kritische Selbstreflektion, anzuwenden auf Pathologien und Phobien, die aus dem ziellosen, Natur und Menschen ausbeutenden Mobilitätszwang entstehen.

Die intellektuellen und kreativen Kräfte, die große Literatur zu stiften vermag, gewähren auch Distanz und Souveränität gegenüber einer Realität, die oft genug als „alternativlos“ etikettiert wird. Jaegers konservative Apologie des klassischen Bildungsideals Goethes führt uns gleichzeitig eindringlich vor Augen, dass die Eroberung und Kolonisierung des Globus im Zeichen der Ungeduld keinen Bezirk mehr verschont.

Eine „List der Vernunft“ vermag es allerdings, ausgehend von Goethes Kritik der Weltverhältnisse einer Spur in der Gegenwartsphilosophie zu folgen, die Bruno Latour, einer der wichtigsten zeitgenössischen französischen Philosophen und Soziologen, gelegt hat. Latour beschreibt in seinem neuen Buch „Das terrestrische Manifest“, dass der „Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein“ geworden ist und welche radikalen Konsequenzen dies für unser Denken und Handeln haben sollte, unter Einbeziehung der ökologischen Bedingungen unserer Existenz. Es ist das Konzept einer postmodernen Bescheidenheit, das gerade vor den gesellschaftlichen und sozialen Fragen nicht die Augen verschließt und auch für einen gestaltenden Konservativismus anschlussfähig sein sollte.

Titelbild

Michael Jaeger: Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie. Oder: Die große Transformation der Welt.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
602 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783826049774

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Titelbild

Bruno Latour: Das terrestrische Manifest.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
136 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518073629

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