Ruinen in der argentinischen Pampa

In „in Auflösung“ erzählt der argentinische Autor Hernán Ronsino vom Verfall der Planstadt Chivilcoy

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Domingo Faustino Sarmiento, im 19. Jahrhundert Präsident Argentiniens und Autor von Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga, erklärte, dass er 1000 Städte wie Chivilcoy – eine Provinzstadt mitten in der argentinischen Pampa – gründen wolle, da er in dieser Planstadt bereits das Vorhaben, die Pampa zu zivilisieren und zu modernisieren, umgesetzt sah. Dass sich seither in Chivilcoy einiges verändert und sich das Narrativ des Fortschritts in der argentinischen Pampa in sein Gegenteil verkehrt hat – das ganze Land durchlebte eine ganze Folge von Wirtschaftskrisen, die Fabriken in den Städten und Dörfern der Pampa stehen leer und es ist eine deutliche Landflucht der jungen Menschen nach Buenos Aires zu verzeichnen –, zeigt uns der argentinische Autor Hernán Ronsino in dem nun auf Deutsch vorliegenden Roman in Auflösung. In fragmentarischer Erzählweise, zu lesen als ,Poetik des Verfalls und des Erinnerungsprozessesʻ, verarbeitet er dabei die Erinnerungen seines Protagonisten Abelardo Kieffers an seinen Heimatort.

Dass sich zwischen die Zeit, in der sich der Protagonist an seine Erlebnisse in Chivilcoy erinnert, und die Ereignisse, die von ihm erinnert werden, die Veränderung in Form von Verfall, Melancholie, Trauer und Resignation geschoben hat, und nichts mehr ist, wie es einst gewesen war, beginnt der Leser während der Lektüre mehr und mehr zu erahnen. Doch aufgrund der höchst zersplitterten Form des Textes erschließt es sich ihm erst wirklich in Sätzen wie „Ein verbrauchter Glanz, ein Lichtfilm, der plattgedrückt über den Dingen lag, machte das Munich zu einer Karikatur dessen, was es einmal gewesen war“ oder:

,,Doch etwas hat begonnen, die durch die Zeit gesickerten Einzelheiten endgültig zu verschleißen, sie auszulöschen: Einzelheiten, deren Dahinschwinden sich auch die gröberen Pinselstriche anschließen werden, und so hinterlässt, wie eine Sanduhr, die Erfahrung des Gato Negro, da jetzt nur noch ein Ring aus Grundmauern ohne Form bleibt, nichts als ein Haufen loser Fasern.“

Die Zeit, so scheint es der Roman zu raunen, ist keine vorwärtsdrängende Erzählung, die nur ihr eigenes Ende als Fluchtpunkt vor sich sieht, sondern eine Überlappung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; ja vor allem Vergangenheit statt Zukunft. Zwar kommt es durchaus zu Projektionen in die Zukunft in Form von Wünschen und Hoffnungen, doch werden diese nicht beständig durch die Ruinen des Vergangenen beeinflusst und verändert? Sind wir nicht hauptsächlich das, was wir erlebt haben und was wir erinnern? In in Auflösung ist es nicht nur die Erinnerung, die in die Gegenwart eindringt, wie ein Pfeil in lebendiges Gewebe, sondern die Vergangenheit ist in dem Alltag der Bewohner von Chivilcoy durch den Verfall der Häuser, durch die Ruinen und stillgelegten Fabriken allgegenwärtig. So ist es dann auch kein Zufall, dass der Protagonist Kieffer, der Chefredakteur der Lokalzeitung ist – was erklärt, warum in seinen bruchstückhaften Erinnerungen die Erzählungen aller Bewohner von Chivilcoy zusammenfließen –, sich gegen Ende des Romans verletzt in der Ruine des ,Gato Negroʻ, des einstigen berüchtigten Treffpunkts der Bewohner, wiederfindet und versucht, sich anhand der Überreste an den einstigen Treffpunkt zu erinnern. 

,,Es wächst eine leichte, geisterhafte Stille wie auf einem Friedhof. Hier wird unmöglich zu erkennen, wo sich alles einmal befunden hat; was alles einmal war. Zum Beispiel das Gato Negro. Inmitten der Kargheit erhebt sich ein Ring aus Grundmauern um einen schwarzen Mosaikboden. Nur daran erkenne ich den Ort wieder. […] Ich versuche, im Kopf zu rekonstruieren, wie sich hier alles verteilt hat.“

Dass der Zustand des Verfalls und die teils schauerlichen Erlebnisse, von denen die Erinnerungen Kieffers, aber auch die der anderen Bewohner von Chivilcoy bestimmt werden, auch von zerschellten Hoffnungen an ein kulturell erfülltes Leben in der argentinischen Pampa durchzogen sind, davon erzählt insbesondere eine Erinnerung Kieffers, die sich nur allzu gut in das dem Roman vorangestellte Zitat des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onettis einfügt: „und er bewegt sich ohne angewidert zu sein oder zu stolpern zwischen den schauerlichen Kadavern der alten Sehnsüchte, […]“. Kieffer erzählt von einem Jungen namens José, der eine Rezension über ein von dem Bewohner Pajarito Lernú verfasstes Buch mit dem Titel Unter dem Namen Kafka geschrieben hat, und dessen Augen so tief und dunkel sind, dass der Leser bereits den baldigen Selbstmord des Jungen erahnt, den der Junge mit folgenden Worten zu erklären versucht: „Einige sind geboren, um in den Krieg zu ziehen, einige kriegerische Geister; andere jedoch vermögen wie ich nichts anderes zu tun, als von Wörtern zu träumen.“ Zwischen Sehnsüchten und Wirklichkeit klafft nur allzu oft ein unüberwindbares Etwas – so lässt sich diese erzählte Erinnerung in in Auflösung deuten , das auch durch ein ewiges Verdrängen von Vergangenem und die vollständige Projektion in die Zukunft nicht ausgelöscht werden kann, da sich die Vergangenheit eben nicht vollständig verdrängen lässt. So zeigt dieser dichte Roman, in dem sich Erinnerungen so unkontrolliert und unsortiert durchkreuzen, dass der Text als Abbild von Erinnerungsprozessen überhaupt gelesen werden kann, dass nur durch die Integration der Vergangenheit in die Gegenwart das Vorwärtsschreiten in die Zukunft zu einer erfolgsversprechenden Version von Geschichte werden kann, nicht aber durch blinden Aktionismus.

Nachdem 2009 Ronsinos Roman Letzter Zug nach Lissabon und 2013 Lumbre in Deutschland veröffentlicht wurden, liegt uns mit in Auflösung nun endlich die deutsche Version des Romans La descomposición vor, der bereits 2007 in Argentinien und Uruguay erschien. Im Sommer soll eine hundertseitige Novelle mit dem Titel Cameron erscheinen, die jedoch – anders als die bisherigen Romane von Ronsino – nicht in Chivilcoy, der Heimatstadt des Autors spielen, sondern in Buenos Aires und sogar in Zürich, der Stadt, in der er gerade als Writer in Residence lebt. Man darf gespannt sein…

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hernán Ronsino: In Auflösung. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Luis Ruby.
bilgerverlag, Zürich 2018.
127 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783037620724

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