Zwischen Wahn und Wirklichkeit

In Joyce Carol Oates Roman „Pik-Bube“ wird ein erfolgreicher Schriftsteller von seinen fleischgewordenen Minderwertigkeitskomplexen gequält

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrew J. Rush, knapp über 50, Schriftsteller, offensichtlich glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder, führt ein Doppelleben. Die Welt kennt ihn als nicht ganz so erfolgreichen Autor wie den abgöttisch von ihm verehrten Stephen King. In den Medien wird er gar als Stephen King für den Bildungsbürger gehandelt – ein Bonmot, das man als Qualitätsurteil verstehen könnte, obwohl es Rush gegenüber seinem großen Vorbild mehr herabsetzt denn qualifiziert. 28 Romane hat der Mann jedenfalls geschrieben, mehrere davon wurden verfilmt. Und alle strotzen sie vor politischer Korrektheit, sind unterhaltsam und nicht verstörend, wozu natürlich auch gehört, dass am Ende immer die Guten siegen und die Bösen untergehen. Literatur eben, die sich anständig verkauft, ihren Verfasser reich macht und ansonsten niemandem schlaflose Nächte bereitet.

Nur ihr Verfasser schläft gelegentlich schlecht. Denn im Innersten ist Rush sich sehr wohl der Mängel seiner Romane bewusst, empfindet, wie er einmal bekennt, seine Prosa als „flach und leblos“ und die auftretenden Charaktere als sich mit „leere[n] Banalitäten“ herumschlagende Geschöpfe. Also hat er sich, Bewunderer von Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson, Mary Shelley und anderen Autoren, die die Nachtseite der menschlichen Existenz in ihren Werken beschreiben, eine zweite, geheime Identität zugelegt.

Als „Pik-Bube“ publiziert er die Romane, in denen all das Schmutzig-Ungehörige, all das Splattern und In-den-Eingeweiden-Wühlen stattfindet, das sich der saubere Andrew J. Rush verkneifen muss. Und nicht einmal die eigene Familie erfährt, womit er sich beschäftigt, wenn er in jenem geheimen Raum im Keller seines Hauses verschwindet, in dem aus dem harmlosen „Andy“, wie er sich gern selbst nennt, der „vulgäre, blutige, schockierende“ und beim Schreiben „mit den Backenzähnen“ knirschende „Pik-Bube“ wird, der von hier aus „seinen (weniger seriösen) Agenten, seinen (weniger seriösen) Verlag und seinen Lektor in Manhattan und einen (nahezu unbekannten) Hollywoodagenten“ mit Schundromanen der untersten Kategorie beliefert.

Auch Joyce Carol Oates, inzwischen  80 Jahre alt und – wie ihr Protagonist – Pseudonymen nicht abgeneigt, hat nicht immer nur „große Literatur“ geschrieben. Und auf den ersten Blick gehört auch Pik-Bube in jene Ecke des Werks der in New York Lebenden, wo sich schon all die Bücher befinden, die zwar routiniert geschrieben sind, bei deren Erscheinen der Ruf nach dem Nobelpreis, der Oatesʼ umfangreiches literarisches Schaffen seit geraumer Zeit begleitet, aber ausblieb. Schaut man freilich genauer hin, erweist sich das seinen Leser schnell fesselnde und in eine seeelische tour de force hineinziehende, raffiniert komponierte Buch letzten Endes als Parabel auf den Beruf des Schriftstellers, der den ihn Ausübenden zu einer Art Vampir macht, der aus jedem, der sich mit ihm einlässt, all jene Geschichten heraussaugt, die anschließend seinen Ruhm begründen.

„Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material“, lässt Max Frisch (1911–1991) in seinem „aufrichtigen“ Buch Montauk (1975) seine zweite, zum Zeitpunkt der Publikation  noch mit ihm verheiratete Frau Marianne sagen. Treffender kann man auch das Problem der Andrew Rush umgebenden Menschen nicht auf den Punkt bringen. Denn dessen Karriere baut – und das gleich in doppelter Hinsicht – auf der Ausbeutung anderer auf. Da ist zum einen seine Frau Irina, die ihr weitaus größeres schriftstellerisches Talent zugunsten der Karriere ihres Mannes aufgegeben hat, nicht mehr schreibt, sondern in der Bildenden Kunst, in der sie mehr oder weniger stümpert, ihr Auskommen sucht. Andererseits wird Oatesʼ Held plötzlich mit einem Plagiatsvorwurf konfrontiert, der sein Leben komplett durcheinanderbringt und letztendlich dafür sorgt, dass in dem Mann jene Seite seines Wesens immer stärker wird, die er bisher nur im Verborgenen, in der Welt der Bücher seines zweiten Ichs „Pik-Bube“ auslebte.

Corin Wren Haider heißt die auf den ersten Blick verwirrt wirkende Frau, mit der es Rush plötzlich zu tun bekommt. Je intensiver er sich mit der Dame beschäftigt – nachdem er einen von ihr initiierten Plagiatsprozess gegen sich gewonnen hat –, desto weniger kommt er wieder von ihr los. Denn wenn er in ihr Haus einbricht, findet er nicht nur ganze Regale voller – häufig auch noch handsignierter – Erstausgaben seiner Lieblingsschriftsteller, sondern in Haiders eigenen Manuskripten, die nie ein Verlag zur Publikation angenommen hat, tatsächlich all jene Ideen, mit deren Verwertung er seine Existenz als erfolgreicher und viel gelesener Thrillerautor etablierte.

Pik-Bube treibt ein geschicktes Spiel mit Gegenwart und Vergangenheit (in Letzterer scheint der gesittete Großschriftsteller alles andere als gesittet gewesen zu sein, ja sogar den Tod seines jüngeren Bruders Evan hat er wohl zu verantworten ), Wunsch und Realität (Rush wäre gern ein Großer wie Stephen King, ist sich insgeheim seiner Mittelmäßigkeit aber nur zu bewusst ), Begabung (sowohl seine Frau wie auch die Dutzende von unveröffentlichten Manuskripten hortende C.W.Haider haben mehr davon als Andrew Rush) und Erfolg. Dass das Ganze nur schlimm ausgehen kann, weiß der Leser ziemlich schnell. Mit ihrer Schlusswendung sorgt Joyce Carol Oates dann aber wieder dafür, dass ihr Roman mehr ist als eine schlichte, von Stephen King inspirierte und mit Anspielungen auf dessen Werk durchsetzte Horrorgeschichte.

Titelbild

Joyce Carol Oates: Pik-Bube. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2018.
207 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783426281871

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