Denkfiguren aus dem 19. Jahrhundert

Jacob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ sind anlässlich seines 200. Geburtstags neu erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Frühjahrsheft der Zeitschrift für Ideengeschichte ist dem Basler Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) anlässlich seines 200. Geburtstags gewidmet. Das zugehörige Vorwort der Herausgeber Robert E. Norton und Stefan Rebenich macht einem dabei den Mund wässerig. Es wird Burckhardt „historischer Realismus“ attestiert, die „Komplexität“ seines Werks behauptet, seine Aktualität beschworen und davon gesprochen, dass er uns auch deswegen „nahe“ sei, „weil ihn die Verlierer mehr faszinierten als die Sieger“. Verstärkt wird der Speichelfluss durch das instruktive Nachwort Jürgen Osterhammels zu dieser „Leseausgabe“ (so Osterhammel) der Weltgeschichtlichen Betrachtungen. Leseausgabe deshalb, weil es sich hier um die 1905 von Jakob Oeri herausgegebene, stilistisch geglättete Fassung der nie als Buch gedachten Vorlesung Über das Studium der Geschichte handelt. Osterhammel merkt zwar kritisch an, man könne Burckhardt als bornierten Eurozentriker sehen. Dass er unproblematisiert von „Rassen“ spricht, daraus will ihm Osterhammel, eingedenk der Entstehungszeit der Vorlesung um 1870, allerdings keinen „disqualifizierenden Strick drehen“. Osterhammel wirbt vielmehr für Burckhardt. Er sei ein „Klassiker der Geschichtswissenschaft“, einer der wenigen Historiker, „denen der Fortschritt des „Forschungsstandes“ nichts anhaben kann“. Zustimmend zitiert Osterhammel den Satz des Freiburger Historikers und Burckhardt-Kenners Ernst Schulin, die Weltgeschichtlichen Betrachtungen seien „ein unergründliches, immer wieder zu befragendes Buch“. Unter anderem wird Burckhardts skeptisches Menschenbild, sein tiefes Verständnis für die Psychologie von Führern und Massen betont, das Schema der sogenannten Potenzenlehre (mehr dazu später) sei durch und durch dynamisch, Burckhardt besitze die „unvergleichliche Kunst, Prozesse zu beschreiben“. Kurz: man solle dies Buch wie eine Neuerscheinung lesen. Gut, versuchen wir das mal. Ist das, was man da liest, tatsächlich unergründlich? Ja, und zwar weil man mit dem Kopf tief in den unauslotbaren und modrigen Gedankenbrunnen des 19. Jahrhunderts steckt.

Die ganze Sache fängt munter an. Burckhardt will unsystematisch einige geschichtliche „Beobachtungen“ mal an den einen, mal an einen anderen „Gedankengang“ anknüpfen. Auch methodologisch und erkenntnistheoretisch wird der Ball flach gehalten. Jede Methode der Geschichtsschreibung sei „bestreitbar“. Die Geschichtsphilosophie knurrt Burckhardt mit der Bemerkung an, wir seien „nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit“. Seine „Betrachtungen“ sind denn auch keine Einführung ins Geschichtsstudium, sie sind bloß „Winke zum Studium des Geschichtlichen“. Und was ist das Geschichtliche? Wohl das Wesen der Geschichte – und das ist der Wandel. Für Burckhardt ist Ausgangspunkt und Gegenstand der Geschichte der duldende, strebende und handelnde Mensch, „wie er ist und immer war und sein wird“. Was nun? Geht es in der Geschichte um anthropologische Konstanten oder um Wandel? Wie verhält es sich denn mit Wandel und Konstanz? Burckhardt fasst das so auf: Das Geistige und das Materielle seien wandelbar. Alles bloß Materielle habe etwas Geistiges, habe somit teil an der Unvergänglichkeit des Geistes. Ist das nicht zumindest diffus? Wenn der Geist unvergänglich ist, dann ist er ewig. Dann aber kann er nicht in der Zeit sein. Ist aber nicht Zeit, das Vergehen der Zeit Kennzeichen von Geschichte? Überdies heißt es an einer anderen Stelle, dass jede historische Einzelerkenntnis auch „universalen“ Wert habe, da sie „Zeugnis von der Kontinuität“ (meine Hervorhebung) des menschlichen Geistes gebe. Wandelt er sich nun oder hat er Kontinuität? Offensichtlich bleibt er sich immer irgendwie gleich, denn in der Geschichte geht es ja um den Menschen wie er immer war und ist. Und woher kommt dann bei diesen anthropologischen Konstanten Dynamik der Veränderung? Und was anderes ist es als Geschichtsphilosophie, wenn man vom unwandelbaren Wesen des Menschen ausgeht?

Geschichte entsteht, wenn es zum Bruch mit der Natur kommt „vermöge des erwachenden Bewußtseins“. Ein zweites unterscheidet Geschichte von Natur. Jede Spezies der Natur besitze „vollständig, was zu ihrem Leben gehört“, wohingegen jedes „Volk“ unvollständig sei, sich deshalb „zu ergänzen“ suche. Das ist nun wieder Geschichtsphilosophie. Denn hier wird einem Volk ein Telos, ein Ziel, eine Absicht in einem Lebensverlauf unterstellt: es will sich vervollständigen, wahrscheinlich, so der unausgesprochene Gedanke, weil es nur eine spezifische Ausformung des unvergänglichen Geistes ist.

Wandel also ist das Wesen der Geschichte. Und wie kommt er zustande? Da kann man sich mehrere Antworten aussuchen. Im Hintergrund lungert einmal das „allgemein Menschliche“ herum, den Leuten wird´s langweilig, sie haben immer Hummeln im Hintern – ist das nun eine ausdifferenzierte Psychologie? Dann gibt es die Zeitalterlehre, die hier zwischen floraler Organologie (Wachsen – Blühen – Verwelken), Lebensaltermetaphorik (Adoleszent – Mann – Greis: Frauen kommen bei Burckhardt nicht vor) und abstraktem Dreischritt (Aufstieg – Höhe – Niedergang) oszilliert. Invasionen können zum Beispiel so zustande kommen, dass „jugendliche“ Völker ein altes Kulturvolk zerbröseln wollen. Das ist nun alles andere als unergründlich, und Prozesse werden so doch eher mechanisch beschrieben. Dieser Mix aus ruppigem So-ist-der-Mensch-Pessimismus, Idealismus und die Geschichte strukturierenden Dreischritten machen einen Teil der generativen Grammatik Burckhardtschen Denkens aus.

Es kommen noch einige Grammatikelemente hinzu. So zum Beispiel bei der Erörterung der drei „Potenzen“ Staat, Religion und Kultur. Woher kommt der Staat als Ausdruck des politischen Bedürfnisses des Menschen? Sein Entstehungsgrund ist Gewalt. Überall ist Macht, die, so geschichtlich sie als Wiederkehr des Ewiggleichen erscheint, metaphysisch defizitär ist: Sie sei „an sich böse“ (warum eigentlich?), sei „eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also Andere unglücklich machen“. In der Geschichte geht es also um Wandel durch Macht und Gewalt – auch das ein Stereotyp des politischen und historischen Denkens des 19. Jahrhunderts. Ein weiterer Baustein der Burckhardtschen Denksyntax lässt sich hier ergänzen. Staatsfähig sind nur kulturfähige Völker, kulturfähig sind nur rassisch hochstehende Völker. Burckhardt agiert mit den seit der Aufklärung geläufigen Rassismen. „Negervölker“ gehören zu den „geringern Rassen“, sind nicht kulturfähig und bekommen mithin keinen brauchbaren Staat hin. Ein weiteres Stereotyp erscheint bei der Erörterung der Religion als Ausdruck des „ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur“. Große Religionsstifter (wie große Individuen überhaupt, mehr dazu später) finden ihnen hörige Massen. Hier erkennt man die im 19. Jahrhundert so beliebte Gegenüberstellung von individualisierter Elite und gesichtsloser Masse.

Überdies ist Burckhardt ein in der Wolle gefärbter Bildungsbürger, konventioneller Vertreter seiner Schicht, wenn er Kultur, Kunst, Literatur überhöht. An der Spitze der Kultur stehen die Sprachen, deren „Ursprung“ in der Seele liegt. Sie sind „die unmittelbarste“, je spezifische „Offenbarung des Geistes der Völker“. Am höchsten entwickelt war die Kultur in Griechenland, denn dort war sie in den Wechselwirkungen zwischen den drei Potenzen führend, anders als zum Beispiel im Alten Ägypten, wo die Kultur völlig vom Staat beherrscht war – was jede Initiative erstickte: „Nur“ in den griechischen Stadtstaaten „erreichten alle Kräfte des entfesselten Individuums jene Spannung und Schwingung, welche überall das Höchste zu leisten gestattete“.

Geschichte ist Wandel. Krisen sind Phasen beschleunigten Wandels. Ein wichtiges Beispiel ist der Krieg, den Burckhardt feiert: „Ein Volk“ lerne „seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen“. Bellizismus und Sozialdarwinismus sind verschwistert: Zu langer Friede führt nicht nur zu Schlaffheit, vielmehr entsteht eine Menge „jämmerlicher, angstvoller Notexistenzen“, die sich „mit lautem Geschrei um „Recht“ irgendwie an das Dasein klammern, den wahren Kräften den Platz“ rauben, ja, das „Geblüt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren Kräfte zu Ehren. Jene Notexistenzen bringt er wenigstens vielleicht zum Schweigen“.

Nicht nur in Krisen spielen „große Männer“ eine Rolle. In ihnen verdichtet sich Weltgeschichtliches. Nur durch ihn, den großen Mann, werden bestimmte notwendige Entwicklungen vollzogen. Gekennzeichnet ist er durch Kraft und Machtsinn, er sieht die Dinge klar, kennt den Moment des Eingreifens, besitzt Seelenstärke, steht über den Menschen. Kurz: Die „großen Männer sind zu unserem Leben notwendig, damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz“.

Angesichts dieser Stereotype fällt es schwer, den Aussagen Nortons und Rebenichs über den „Realismus“, die „Komplexität“ und Aktualität Burckhardts zu folgen. Auch Osterhammels Aufforderung, Burckhardt ganz neu zu lesen, scheint mir angesichts der aufgeführten Denkfiguren gewagt.

Titelbild

Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen.
Mit einem Nachwort von Jürgen Osterhammel.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
301 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406718359

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