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„Kriegsenkel“ befragen die Generation ihrer Großeltern

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Eingabe des Suchbegriffs „Kriegskinder“ bei Amazon erhielt ich am Tag, an dem ich die Arbeit an dieser Rezension abschloss, 379 Vorschläge. Der Begriff bezieht sich auf Menschen, die in Deutschland in den Jahren nach 1933 geboren wurden und die den Zweiten Weltkrieg und sein Ende noch bewusst als Kinder erlebten. Sie teilen – so heißt es – das „Schicksal einer Generation“. Inzwischen ist darüber hinaus eine ganze Reihe von Büchern erschienen, die sich mit den Kindern dieser „Kriegskinder“ befassen mit Titeln wie „Kriegsenkel“ oder „Wir Kinder der Kriegskinder“. Angesichts der beachtlichen Zahl solcher Veröffentlichungen erscheint es als geradezu anmaßend, immer noch von einer „vergessenen Generation“ zu reden und zu schreiben.

Das hier zu besprechende Buch scheint dem Rezensenten jedoch von ganz besonderer Qualität zu sein und ragt aus der Fülle an bereits vorliegender Literatur hervor. Über drei Jahren gingen drei Frauen aus der Generation der Kriegsenkel der Frage nach: „Was haben meine Eltern erlebt, als sie so alt waren wie mein eigenes Kind heute? Was hat sie zu denen gemacht, die sie heute sind?“ Diese Fragen stellten die Journalistin und Autorin Anne Waak und die Fotografin Frederike Helwig. In ihrem Vorwort zum Buch geht die Islamwissenschaftlerin, Autorin und Publizistin Alexandra Senfft ebenfalls diesen Fragen nach.

Was ist dabei herausgekommen? Eine Serie von vierundvierzig Porträts über Menschen der Jahrgänge 1934 bis 1942. Die meisten der interviewten und fotografierten Personen sind einer allgemeinen Leserschaft unbekannt, zumindest diesem Rezensenten. Relativ prominent sind der Münchner Barmann und Unternehmer Charles Schumann (Jahrgang 1941) und der Berliner Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele (Jahrgang 1939). Bei Angelika Waak (Jahrgang 1935) kann man vermuten, dass es sich um die Mutter der Interviewerin handelt.

Die Zitate aus den (einstündigen!) Interviews sind denkbar kurz: das kürzeste umfasst vier Druckzeilen („Nach der Kapitulation treiben die Russen die gefangenen deutschen Soldaten durch Meißen, die Offiziere mit ihren gezogenen Säbeln voran. Es sind lange Kolonien [sic!] von deutschen Soldaten, der Zug reißt gar nicht mehr ab.“ Das längste Zitat erzählt eine Kölner Kindheitserinnerung:

Der Winter ist so kalt, dass auf dem Rhein Eisschollen schwimmen. Die Stadt liegt in Trümmern, ein Abenteuerspielplatz. Auf dem Weg zur Schule komme ich an der Gereonskirche vorbei. Einer der zwei Türme ist zerstört, im anderen da hängen noch die Glocken. In der Nähe des Hauptbahnhofs muss ich unter der Bahnüberführung durch, alles steht voller Ruinen. Meine Mutter erklärt mir, hier stand früher das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde. Es stehen nur noch die Außenmauern, wie von unserem Haus in der Blumenthalstraße, in dem wir vor dem Krieg wohnten. In dem eisernen Gerüst des Balkons entdecke ich Reste meines Kinderwagens. Der Dom scheint äußerlich nicht sehr kaputt zu sein, nur an einer Stelle ist wohl eine Bombe oder eine Granate eingeschlagen. Dort haben Sie [sic!] eine Ziegelsteinplombe eingesetzt, damit der Turm nicht zusammenstürzt. Die Hohenzollernbrücke ist vollkommen zerstört und liegt im Rhein. An der Bastei haben amerikanische Soldaten eine Behelfsbrücke gebaut, die so genannte Pattonbrücke. Patton, das war ein amerikanischer General. Wenn da Autos, besonders LKW darüberfahren, rumpeln die Holzbohlen und machen ziemlich viel Krach. Zur Schule fahre ich mit der Straßenbahn. Die Türen sind offen, drinnen ist es voll und draußen hängen die Leute auf dem Trittbrett, ich auch. Es gibt eine neue O-Bus-Linie. Und dass ein Omnibus fährt ohne Motorenlärm, sondern ganz leise ist ein Wunder. Es rumpelt nur ein bisschen, wenn er über die Schlaglöcher fährt.

Auf der linken Hälfte der jeweiligen Doppelseite stehen solche Texte, die vermutlich von Anne Waak transkribiert und ausgewählt wurden. Auf der rechten Seite sieht man die fotografischen Farbporträts der ausgewählten Interviewpartner, die von Frederike Helwig gemacht wurden, von der – so steht es im Impressum – auch das Konzept stammt. Blättert man das Buch durch, so fällt auf, dass die hier porträtierten vierundzwanzig Frauen und die zwanzig Männer heute in sehr unterschiedlichen materiellen Verhältnissen zu leben scheinen: Die Schauplätze reichen vom offenen Kamin neben der Bücherwand, der begrünten Dachterrasse, dem Eames Lounge Chair bis zum sehr schlichten Balkon, der Kuckucksuhr an der Wand und dem Puzzle auf dem Wohnzimmertisch. Man sieht Ströbele vor beschrifteten Leitz-Ordnern, Schumann in der eigenen Bar (vermutlich). Ledersofas sind wiederkehrende Bestandteile der Inneneinrichtungen. Alle schauen ernst, fast alle der Fotografin direkt ins Gesicht. Selbstbewusstsein strahlen alle aus.

Diese Menschen, die heute in ihrem achten Lebensjahrzehnt stehen, schauten in den Interviews – von denen die Leserschaft nur Bruchstücke mitgeteilt bekommt – und den dazugehörigen Fotosessions zurück auf das, was sie geprägt hat: Bomben, Flucht, Angst, Hunger, Krankheit, Tod, verschwundene Väter, überforderte Mütter, aber auch die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit, in denen die Erinnerungen an den Krieg und dessen generationsübergreifende Folgen vergessen werden sollten.

Das sehr lesenswerte Vorwort von Alexandra Senfft appelliert an „Mut zum Dialog“ und handelt vom schmerzhaften Schweigen der Kriegskinder und der Last der NS-Vergangenheit. Sie selbst hat mit ihrem Buch „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“ (2008) unter Beweis gestellt, in welche Abgründe einer Familienbiographie ihre eigene Suche nach dem Schicksal ihres Großvaters führte, dem SA-Repräsentanten des Deutschen Reiches im Slowakischen Staat Hanns Ludin. In ihrem zweiten Buch, „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“ (2016) hat sie auch andere dazu ermutigt, sich dieser (auto)biographischen Herausforderung mit Erfolg zu stellen. Im Vorwort zu „Kriegskinder“ skizziert sie erneut die zentralen Fragen und deren Antworten: „Was haben sie [die Eltern / Großelterngenerationen] uns an schwierigen Erfahrungen, an Traumata und Belastungsstörungen, an Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern vermittelt, und was geben wir wiederum unbewusst an unsere Kinder weiter?“

So überzeugend die meisten der von Senfft vorgebrachten und inzwischen recht bekannten Argumente und Thesen über den „langen Schatten“ der Täter und Mitläufer sind, so scheint auch sie nicht der Versuchung zu entgehen, wirklich jedes aktuelle Unheil mit dem „transgenerationalem Erbe“ zu Verbindung zu bringen. Nach dem Motto „Was nicht bearbeitet wird, wird als Last an die nächste Generation weitergegeben.“ Die gewagte Aussage „Der NSU, Pegida oder die AfD sind gewiss ebenfalls ein Ausdruck transgenerationeller Weitergabe“ erscheint jedenfalls als eher unterkomplexes Erklärungsmuster. Nicht an allem Unheil sind die Nazis und deren Mittätern Schuld.

Dennoch, und das ist das Bemerkens- und Rühmenswerte an gerade diesem Buch: Es könnte jede und jeden dazu ermutigen und motivieren, auf jene noch verbliebenen Familienmitglieder zuzugehen, die der Generation der „Kriegskinder“ angehören. Und sie erzählen lassen, wie es ihnen erging in jenen letzten Jahren des NS-Unrechtssystems, während des Krieges und in der sogenannten „Nachkriegszeit“. Viel Zeit dürfte dafür nicht mehr gegeben sein.

Aber auch die Generation der „Kriegsenkel“ sollte mit sich selbst und untereinander das Gespräch über die nicht selbst gemachten Erfahrungen beginnen. Dazu schreibt Alexandra Senfft: „Enkel sind somit of das familiäre Gedächtnis, ohne dass sie die Ereignisse selbst erlebt haben und allzu häufig ohne zu verstehen, unter welcher Last sie eigentlich leiden.“

Titelbild

Frederike Helwig / Anne Waak: Kriegskinder. Vorwort von Alexandra Senfft.
Mit einem Vorwort von Alexandra Senfft.
Hatje Cantz Verlag, Berlin 2017.
101 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783775743938

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