Kriminalwissenschaften um 1900 und die „Lesbarkeit der Welt“

Literatur und Recht, Text und Kontext, Konsens und Konflikt

Von Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen und Jürgen SeulRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Seul

Der Versuch, das Verhältnis von Literatur und Recht, die neue Entwicklung ihrer Beziehung, die „Rechtskultur“ um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert zu umreißen, zeigt, dass belletristische Autoren sich in zunehmendem Maße mit kriminalistischen und kriminalpsychologischen Themen befassen. Die „Interferenzen zwischen Literatur und Recht“ (Jürgen Joachimsthaler) verändern sich, erreichen eine neuartige, anders gewichtete Dimension. Die Zusammenhänge, die Verschränkungen der beiden Disziplinen erreichen ein verändertes Stadium, zuweilen auch ein anderes Niveau.

Kriminologen und strafrechtliche Theoretiker und Praktiker greifen auffallend gerne auf Darstellungen oder Figuren in Literatur und Kunst zurück. Die fiktionale Literatur wiederum entwickelt im Rückgriff auf rechtliche Vorstellungen zunehmend politik- und rechtskritische Konzepte. Und sie wird damit, wie zahlreiche Konflikte um „Majestätsbeleidigung“ – etwa im „Simplicissimus“ – oder Reaktionen auf satirische Texte im Wilhelminismus zeigen, selbst wiederum zum Gegenstand von gerichtsförmigen Verfahren, in dieser Epoche dann meist zum Nachteil der Literatur und Kunst. Denn ihre Vertreter werden zu Objekten der Unterdrückung im Prokrustesbett von autoritären Rechtssystemen.

Wenn sich Kriminologie und Rechtstheorie in dieser Zeit gerne der heuristischen Methode bedienen, wissenschaftliche „Wahrheiten“ über Täter und Taten aus literarischen Werken abzuleiten, tritt Literatur als Gegenstand an die Stelle fehlender Empirie. Erweist sich hier die Literatur plötzlich als nützliche Hilfskraft oder Hilfswissenschaft – neben Disziplinen wie Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, forensische Medizin oder andere naturwissenschaftliche Verfahren zur Entdeckung oder Überführung von Straftätern – erhält sie, wie die Rolle von Zola im Dreyfus-Skandal mit seiner aufrüttelnden Kritik an Justiz und Militär aufzeigt, eine über bloße Tagesjournalistik weit hinausgehende Funktion. Was unter anderem in diesem weltweit medial beobachteten, kommentierten und in seinem Für und Wider die öffentliche Erregung widerspiegelnden Skandal eines Justizirrtums die widersetzliche Gegenskandalisierung und sich steigernde allgemeine Empörung auslöste, war primär  das Engagement eines Schriftstellers, Zolas, der bekanntlich mit seinem offenen Brief an den Präsidenten der französischen Republik „J’accuse“ als öffentlicher Ankläger, sozusagen als selbsternannter Staatsanwalt gegen Antisemitismus und voreingenommene Justiz auf den Plan trat. Mit Zola griff ein prominenter, erfolgreicher Autor in eine zeitgenössische politische und soziale Debatte erneut und in diesem Falle nach ersten zurückhaltenderen Stellungnahmen im bürgerlichen „Figaro“ polemisch und polarisierend ein. Der Schriftsteller mobilisiert jetzt mit den dreyfusards zahlreiche Intellektuelle und provoziert bewusst Militär und Militärjustiz. Mit dieser mobilisierenden Attacke und mit den Mitteln einer fast schon investigativen Aufklärungskampagne wird Zola letztlich sogar nicht nur eine Art öffentlichen Revisionsprozess einleiten, sondern als Reaktion auf den Dreyfus-Skandal Reformen gegen antisemitische, nationalistische und klerikale Strömungen auslösen.

Auf anderen Ebenen und mit ungleich geringerem Aufsehen und Erfolg mischen sich Literaten mutig in aktuelle Vorgänge im Kontext von Literatur, Presse, Recht und Rechtspolitik ein. Karl Kraus in der „Fackel“ nutzt mit scharfzüngigen und sprachkritischen Angriffen gegen die Berichterstattung spezifische Gerichtsfälle gerne zur Kritik an der Wiener Journaille und zugleich verbindet er unter der Überschrift „Sittlichkeit und Kriminalität“ eine prinzipielle und wirkungsvolle Sprach- und Kulturkritik mit Rechtskritik.

Der Pitaval als Stofflieferant für die Literatur

Mit derartigen Entwicklungen einher geht der Rückgriff auf das schon im 19. Jahrhundert beliebte und geläufige Genre des Pitaval, der Sammlung von populären und vor allem sensationellen Rechtsfällen. Der „Pitaval der Gegenwart“ setzt diese Tradition zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso fort wie etwa Hugo Friedländer mit seiner elf Bände erreichenden Dokumentation und Aufarbeitung „Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung“. Verbrechen und Strafe, „Schuld und Sühne“ geraten damit in eine engere, man kann fast sagen interdisziplinäre Verknüpfung und in einen aus je eigengesetzlichen Perspektiven gespeisten Erkenntniszusammenhang. Dieses schon fast symbiotische Miteinander indiziert den regen Austausch, in welchem die „schöne“ Literatur“ sich Themen der Kriminalistik, der Biographie von „Verbrechermenschen“ (Peter Strasser) und der Kriminalpsychologie zuwendet. Der biografisch unterfütterte Roman ist ein dafür wichtiges Genre, der „Schlüsselroman“ ein anderes Phänomen. Thomas Mann wird, in Lübeck und anderwärts als Schlüssellochgucker mit angeblich skandalösen, kränkenden Abbildungen der persönlichen und sozialen Realitäten einer Familie und Stadt diffamiert, in seinem grandiosen Traktat „Bilse und ich“ (1906) die tiefgründigen und markanten Differenzen zwischen der Schlüsselgeschichte „Aus einer keinen Garnison“ (1904) und seinen „Buddenbrooks“ (1901) aufhellen. Seine künstlerischen Argumente haben angesichts der fragwürdig entschiedenen moderneren Fälle um „Mephisto“ und „Esra“ noch immer Gewicht.

„Kriminalität erzählen“

„Erzählte Kriminalität“ wird, wie Jörg Schönert gezeigt hat, um 1900 bei Karl May zu einem weit ausgreifenden, differenzierten Thema der Publizistik, der Fachwissenschaft, der belletristischen und wissenschaftlichen Biographie, der rechtlichen Theorie und Kasuistik. Die in etwa zeitgleiche Entwicklung von Detektiv- und Kriminalgeschichten als Massenphänomen, in denen sich parallel zu kriminologischen und strafrechtlichen Diskursen die Denkfiguren über Ermittlung und Entlarvung, über gesellschaftliche „Ordnung“ durch gerechte Strafe für Mord und Totschlag widerspiegeln, kann nicht nur als eine Erscheinung angloamerikanischer Importe von Star-Detektiven à la Sherlock Holmes und Pinkerton interpretiert werden. Der Fortschritt der forensischen Wissenschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden ermöglicht einerseits eine präzisere Aufklärung und Überführung in Strafverfahren und eine Verbesserung auch im Interesse unschuldig Verfolgter in Indizienprozessen, produziert aber andererseits fragwürdige Gewissheiten im öffentlichen Bewusstsein, dass solche progressive Wahrheitssuche stets nur der Gerechtigkeit und einer auf dieser Idee errichteten gesellschaftlichen Ordnung diene.

In der Trivialliteratur und Kolportage mit ihren simplen manichäischen Einteilungen der Welt in Gut und Böse zumeist ohne Anspruch auf authentische Darstellung oder faktische Bezüge werden bei Karl May oder Robert Kraft die heldischen Groß- und abscheulichen Gewalttaten in der je eigenen „Realität“ und mit kollektiven Wunschträumen versetzten ewigen Fortsetzungen von Verfolgungsjagden um die ganze Erde präsentiert., Die Abenteuer germanophiler, christlich imprägnierter Heldenfiguren und abgrundtief unmoralischer Bösewichter und Gesetzesbrecher wiederum dienen der naiven Vorstellung von einer prästabilisierten Harmonie in einer zwar untergründig anfechtbaren oder gefährdeten, aber letztlich stabilen sozialen, hierarchisch gegliederten und nicht „revolutionär“ oder gar anarchisch gefährdeten Gesellschaftsordnung. Auf einer vergleichbaren Linie liegt auch ein Teil der kriminalwissenschaftlichen Literatur. Es geht um die einfachere, überzeugendere oder gelungenere Aufdeckung von Straftaten und die Erfassung und Erklärung von Kriminalität. Die Ursachenforschung  zu Verbrechen und Tätergruppen wird zwar auch aus voyeuristischer Neugier betrieben, aber noch mehr erfolgt sie in popularisierter Form und zur  Umsetzung der allgemeinen Information und Diskussion oder auch nur zwecks Propagierung von Abschreckungseffekten. Die Popularisierung rechtlicher Stoffe trägt auf beiden Ufern zu einer Grenzverschiebung und zur Durchlässigkeit der Grenzen bei.

Den Tätern auf der Spur

In der Kriminalwissenschaft entwickelt sich in Österreich durch Hans Gross, zunächst als Staatsanwalt und Untersuchungsrichter ein wissenschaftlicher Outsider, eine umfassendere, in Europa und in den USA weithin rezipierte Enzyklopädie und empirisch induzierte Forschung. Sie reicht weit über eine bloß faktische lexikalische oder museale Sammlung krimineller Fälle, von Begehungsformen, anschaulicher instrumenta sceleris, von Tätertypen und simpler Ursachenforschung und über die Ausbildung von Ermittlungsbeamten hinaus. In der von Gross gegründeten Zeitschrift geht man der Intention und Handhabung nach ausgerechnet in der als rückständig geltenden Habsburger Monarchie neu, radikal und ganz ungewohnt interdisziplinär vor: Alle Gebiete der Forensik, der praktischen Polizei- und sonstigen Ermittlungsarbeit, der Medizin, der Naturwissenschaften, der Rechtsmedizin, der Psychiatrie und Psychoanalyse werden weit über die erst am Anfang stehenden differierenden Disziplinen der Kriminalpsychologie und Kriminologie hinaus berücksichtigt. Damit und mit seinen umfassenden Handbüchern zur Kriminalwissenschaft und Kriminalpsychologie erweitert sich der Horizont der traditionell engeren Polizeiwissenschaften und Polizeiarbeit und vervielfacht Grundlagen und Perspektiven. Cesare Lombrosos immer noch direkt oder mehr oder weniger umstandslos akzeptierte, aber zunehmend infrage gestellte biologistische Ursachen- und Täter-Lehre, körperliche Tätervermessung zur Aufdeckung von Dispositionen zur Kriminalität als Ausdruck des Wunsches zur anthropologisch genormten „Lesbarkeit der Welt“ (Milos Vec), wird auf diese Weise noch nicht gründlich überwunden, aber doch allmählich mittels Verwissenschaftlichungsprozessen durch neue Ansätze und modernere Denkmodelle, Theorien und empirische Erkenntnisse bereichert und ersetzt.

In der rechtshistorisch oder rechtsvergleichend agierenden juristischen Dogmatik können satirische Attacken eines Rudolf von Jhering gegen die lachhaften Konstruktions-Apparaturen des scheinbar unangreifbaren Römischen Rechts in einem imaginären Rechts-Himmel publizistische Erfolge erringen.

Josef Kohler zitiert Shakespeare vor das „Forum der Jurisprudenz“ (1903) und findet damit namentlich in Erich Wulffen im Strafrecht einen gerne zu griffigen Popularisierungen neigenden Nachfolger. Auch hier manifestiert sich der Ansatz, literarische Produkte und Figuren als quasi-empirisches Material zum Beleg der kriminologischen Theorien zu verwenden (Jörg Schönert, Kriminalität erzählen, 2015, S.160; Erzählte Kriminalität, 1991). Zahlreiche Beispiele im Kontext von Literatur und Recht belegen solche kriminalpsychologischen Verfahrensweisen. Franz von Liszt knüpft seine Kritik an Lombrosos höchst einfluss- und folgenreicher Kriminalanthropologie unter anderem daran an, dass dieser im 19. Jahrhundert populäre sozialdarwinistische Forscher, allmählich wissenschaftlich angegriffen und zunehmend überwunden, im Grunde zusammen mit allen seinen Anhängern nur dem folge, „was unsere modernen Dichter in ihren Dramen uns täglich vorführen, von Zola und Ibsen angefangen bis herab auf Richard Voss und Gerhart Hauptmann“. Dieses spitz und herablassend formulierte Verdikt richtete sich also gleichermaßen gegen bestimmte kriminologisch-kriminalpsychologische Lehren und ihnen angeblich gleichgesonnene Literaturerscheinungen.

Der Strafprozess als Kunst der Zukunft

Die Orientierung an Lombrosos Theorien in Paul Lindaus kriminalistischen Romanen mit seiner morbiden Vorliebe für den angeborenen, durch Vererbung übernommenen Mordtrieb endet allerdings in den Konsequenzen mit geheimnisumwitterten Beschwörungen von ewig unlösbaren Rätseln der verbrecherischen Naturen und ihrer Schandtaten und bleibt damit einem Mythos verhaftet. Bei Lindau verbinden sich schließlich die beherzten „Ausflüge ins Kriminalistische“ (1909) mit scharfer Kritik an der Justiz. Anders tritt Erich Wulffen mit seinem Bericht und seiner kritischen Analyse des sensationellen Mordfalles Carl Hau („Der Strafprozeß – ein Kunstwerk der Zukunft“, 1908) an die Öffentlichkeit. Hier billigt er am Ende trotz aller Kritik an einem prominenten psychiatrischen Gutachter die Verurteilung anhand der überwältigend erscheinenden Indizien. Lindau hingegen geißelt das angebliche Fehlurteil. Den Stoff wird dann auch Wassermann aufgreifen. Lindaus Fixierung auf vom „Mordwahnsinn“ beherrschte Täter mit „Tötungstrieb“ reduziert einen Teil der griffigsten und sensationellsten Kasuistik auf solche Kategorien.

Damit weist er allerdings auf einem niedrigeren Niveau voraus auf Texte des Frühexpressionismus und Expressionismus mit ihren literarisch-existentiellen Psychopathographien von Besessenen, Irren, Lustmördern, als psychisch und gesellschaftlich geschädigte Außenseiter ihrerseits Opfer institutioneller Gewalt, die die Taten mitbewirkte (Thomas Anz).

Franz von Liszts „moderne Schule“ sieht kriminelle Handlungen in einem Zusammenhang mit psychischen und sozialen Faktoren. Der Strafzweck der Sühne einer Schuld wird ergänzt und modifiziert durch eine rechtspolitische Strafzwecklehre, die die „Bekämpfung des Verbrechens als soziale Erscheinung“ in den Mittelpunkt einer notwendigen Strafrechtsreform rückt. Sie zielt auch oder vor allem auf Prävention.. Der akademische Diskurs oszilliert zwischen einem Vergeltungs- und einem sog. Täterstrafrecht einerseits, einem Tat- und Zweckstrafrecht andererseits. Liszts Strafrechtslehren wollen die Erfahrungswissenschaft integrieren. Die Verfachlichung geht in einer durch heftige fachinterne Dispute um dogmatische Engführung auf eine „exakte“ normativ ausgerichtete Wissenschaft vom „positiven“ Recht und um die durch Erfahrungswissenschaften unterschiedlicher Provenienz angereicherte Frage nach der Effektivität strafrechtlicher Sanktionen. Liszts modernes Programm verbindet Dogmatik, Kriminologie und Kriminalpolitik. Wie in der literarischen „Rechtskultur“ verschwimmen allenthalben die Grenzen zwischen den bislang eher getrennt gehandelten Disziplinen. Die sichtbaren Distanzen zwischen den Fächern werden nicht aufgehoben, aber die Mauern doch brüchiger, durchlässiger und lassen produktive Austauschprozesse zu. Die kulturhistorisch vielfach untersuchten Vergleiche, wie Juristen, Autoren oder auch die in beiden Gebieten beheimateten und sich wechselweise tummelnden „Dichterjuristen“ die Erfahrungswissenschaften einbezogen oder ausgrenzten, sind auch Teil der rechtshistorischen Forschung geworden (Monika Frommel).

Ein rigoristischer Strafrechtstheoretiker wie Karl Binding wird trotz mancher moderner Floskeln sich allen Tendenzen entgegenstemmen, die an der „im Feuer der Notwendigkeit gehärteten öffentlichen Strafe“ rüttelten und das „irdische Fegefeuer“ für den Verbrecher zu löschen trachteten (1908), selbst wenn Binding Lombrosos Begriff des „geborenen Verbrechers“ auch in die „Raritätenkammer des allererlesensten Unsinns“ verbannt sehen wollte.

„Reserveengel der Justiz“

Wenn es um die vielfach diskutierte und immer wieder in Strafprozessen umstrittene totale oder verminderte Zurechnungsfähigkeit, ihre dogmatische oder psychiatrische Basis geht, erreichen die Konflikte oftmals ihre in der Öffentlichkeit ebenfalls eingehend diskutierten Höhepunkte. Hier scheiden sich erneut die Geister zwischen den Vertretern der Erfahrungswissenschaften und denen der Dogmatik. Wenn nach einem Wort von Musil die Psychiatrie als „Reserveengel der Justiz“ in Erscheinung tritt, wird sie nur allzu gerne von den ewigen Rigoristen, den am fatalen Erfolg der Mordtaten und der strengen Sühne – möglichst durch Todesstrafe – ausgerichteten normativen Dogmatikern verteufelt. Dennoch können sich allmählich Einsichten über endogene und exogene Verbrechensursachen und über den Sinn eines fortschrittlicheren, humaneren Strafvollzugs Bahn brechen. Sie gewinnt nicht nur in der Kriminologie, sondern auch in der Literatur und im Alltagswissen an Boden. In diesen Gemengelagen grassieren um und seit 1900 allerdings weiterhin unterschiedlich akzentuierte Ursachentheorien und Tätertypisierungen.

Die Diskurse ranken sich oft um den Begriff des unverbesserlichen „Gewohnheitsverbrechers“ in allen möglichen Erscheinungsformen: vom notorischen Einbrecher und Betrüger bis hin zum Mordgesellen oder zum ewigen Spitzbuben mit seinem unverbesserlichen Hang zum „abweichenden Verhalten“. Abgemildert wird diese Sicht dann durch populäre oder gar bewunderte Figuren wie den „Gentleman-Einbrecher“, den durch elegante Täuschungen und Kniffe ausgewiesenen Betrüger von Betrügern, durch moderne Robin Hood-Phänomene oder durch noch sympathischer wirkende Protagonisten wie den Hauptmann von Köpenick oder den als preußischer Prinz in feinster Gesellschaft erfolgreichen Betrüger Harry Domela. Der Begriff des „gefährlichen Gewohnheitsverbrechers“ wird in der nach 1900 teilweise fortwirkenden Tradition radikalisiert. Nach 1933 wird er mit bekannten Schlagworten in Strafrecht und Öffentlichkeit, welche bestimmte „Tätertypen“ dem generellen Unwerturteil als „krank“, „minderwertig“, „erbunwürdig“ und „lebensunwert“ aussetzen, mit Hilfe einer willfährigen Wissenschaft, Justiz und Polizei der Ausmerzung unterworfen und überantwortet. In der bekannten Analyse Peter Strassers (1984) wird der Mythos „Verbrechermensch“ schon nach 1900 zu einem Produkt der kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. Wer mit Lombroso den geborenen Verbrecher als biologisch sicht- und erklärbares Phänomen und solche Ursachenforschung als „wissenschaftliche Tatsachenerkenntnis“ ausgab, konnte in der Konsequenz relativ umstandslos weltanschaulich dominierten zeitgenössischen Tendenzen frönen, die zu der ideologischen, rassisch geprägten Aufladung eines gnadenlosen NS-Straf- und Verfahrensrechts führen sollten. Auf solchen verschlungenen Wegen bildeten dann scheinbar zweckrational begründete oder ideologisch als unvermeidlich hingestellte Maßnahmen den Mantel für staatliche Verfolgungs- und  massenhafte Mordaktionen.

Wissenschaftliche Visiten in der Strafkolonie

In der Person des Straf- und Kriminalwissenschaftlers Hans Gross (Graz) findet sich ein herausragendes Beispiel für die Ambivalenzen einer auf Empirie basierten moderneren Lehre in ihrer Kombination mit traditionellen und konservativen Denkmodellen der Degeneration und Entartung, einer rechtspolitisch als notwendig erachteten Ausgrenzung – bis hin zur Deportation der als unverbesserlich eingestuften Asozialen, der unheilbar Degenerierten, der Homosexuellen und bis hin zur ohnehin traditionell verachteten und diskriminierten Gruppe der seit jeher als erblich, also unverbesserlich kriminell charakterisierten Zigeuner. Diese Mischung aus vormodernen und modernen Perspektiven kennzeichnet in dieser Epoche Hans Gross als Begründer und Ahnherrn einer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der K.u.K.-Monarchie in einzigartiger Weise entwickelten Kriminalwissenschaft (Christian Bachhiesl). Deren rasante Verbreitung und Wirkung auf Polizeiwissenschaft, Strafrechtslehre und Rechtspolitik vollzieht sich mit einer weiterhin bemerkenswert wirksamen Rezeption in ganz Europa bis in die USA. Seine Wirkung ist permanenter, eingreifender und ausdauernder als die des mit einem ähnlichen enzyklopädischen Anspruch auftretenden Erich Wulffen in Deutschland. Das Gross’sche Handbuch wird mit seinen Fallgeschichten zugleich ein beliebter, von amerikanischen Detektivromanen ausgebeuteter Stoff-Lieferant. Die geradezu unheimlichen Wirkungen seiner von unersättlicher Sammelwut und fanatischem Gelehrtenfleiß geprägten Werke werden bekanntlich in den Werken Franz Kafkas sichtbar. Kafka hatte in Prag mehrere Semester hindurch bei Hans Gross Straf- und Strafprozessrecht gehört und studiert. Dieses Studium und die Lektüre von Robert Heindls Berichten über seine Besuche in Strafkolonien finden ihren genialen Niederschlag in Kafkas „In der Strafkolonie (1909; sh. Walter Müller-Seidel). Die von  Hans Gross vorgeschlagene Deportation auf Strafinseln etwa vor Mittelmeerküsten wird nicht nur bei ihm und in Österreich zum ernsthaft diskutierten Strafvollzugskonzept und zum Mittel sozialer Prävention.

Der in Deutschland in seinem Studium und in seiner literarischen Produktion vor allem der klassischen Literatur zugeneigte sächsische Staatsanwalt Erich Wulffen folgt Spuren von Hans Gross. Auch er wird sich als Enzyklopädist durch ein umfassendes Handbuch, das die ausgiebigen Anleihen bei Gross nicht verleugnen kann, und eine „Kriminalpsychologie“ (1926) profilieren, mehr noch aber durch populär formulierte literatur- und kriminalpsychologische Deutungen der Weltliteratur. Nach seinem Selbstverständnis gehört er zu den vornehmlich auf fachlich fundierte Empathie, auf Einfühlung und vor allem auf die von ihm gepriesene, aber nicht näher fundierte Intuition in Praxis und Wissenschaft setzenden, umfassend gebildeten Juristen. Nach diesem Idealbild formt er manchen juristischen Protagonisten in seinen damals erfolgreichen, heute durchweg vergessenen Romanen. Die eine oder andere Figur bildet auf diese Art und Weise sein literarisch geschöntes alter ego, in der Regel als  aufrechter Exponent moderner Strafrechtsschulen im unaufhörlichen Kampf gegen eine veraltete, verknöcherte und keiner modernen  Wissenschaft aufgeschlossene Justiz. Wenn Wulffen Dichter wie Shakespeare, Schiller, Ibsen und Hauptmann und deren Figuren von der schriftstellerischen Bühne vor das Forum der Justiz zerrt und sie mit der Mitteln der zeitgenössischen Kriminalpsychologie durchleuchtet, dient ihm die Literatur als Beleg für seine kriminologischen Thesen. Vereinfacht gesagt, steckt in jedem Autor nach Wulffen, wie er dies etwa bei Goethe und Schiller exemplifiziert, eine zu jedem Delikt fähige Verbrecher-Natur. Wilhelm Stekel, ein von Freud abgefallener und verstoßener Psychoanalytiker mit einem untrüglichen Sinn für die Popularisierung der Psychoanalyse, wird vor dem Ersten Weltkrieg die nach seiner Ansicht jedem Schriftsteller inhärenten kriminellen oder pathologischen Tendenzen im Wege einer Umfrage zu erforschen und zu belegen suchen. In Wulffens Perspektive wird die Figur des Hamlet zu einem Symbol für ein Sexualproblem. Ibsens Nora muss sich ebenfalls eine psychiatrisch gefärbte Analyse gefallen lassen.

In späteren Jahren verlegt sich der Jurist auch gerne auf sensationelle Sexualdeliktsformen und bevorzugt publikumswirksame, mit entsprechenden Abbildungen, vor allem mit selbstverständlich wissenschaftlich notwendigen Aktfotos reich garnierte Kompendien. Bei allen derartigen Interessen lehnt Wulffen Freuds Lehren grundsätzlich ab, neigt aber wundersamer Weise den Erkenntnissen des dissidenten, linken Freud-Schülers Alfred Adler zu. In seinen vielseitigen Werken spiegeln sich – kriminologisch, biografisch oder belletristisch grundiert – die zeitgenössischen Richtungen eines nach seiner liberal getönten Anschauung notwendigerweise zu reformierenden Rechtssystems. In einem weithin unbekannten, weil blitzschnell unterdrückten Schlüsselroman „Justitias Walpurgisnacht“ (1913) kulminiert diese scharfe Kritik, welche die sächsische Justiz und Obrigkeit eilends zu einem Dienstverfahren und zu seiner stillschweigenden Degradierung und Versetzung aus der Dresdner Hauptstadt in die provinzielle Zivilgerichtsbarkeit (Amtsgericht Zwickau) veranlasst. Erst 1919 wird er aus dieser Verbannung erlöst und als Ministerialdirektor zum Reformer des sächsischen Strafvollzugs. Er schließt sich politisch der liberalen DDP an. Wulffens zum Teil mit Stummfilmstars wie Pola Negri verfilmten, damals erfolgreichen Kriminalromane und Drehbücher thematisieren nach einigen bitteren Erfahrungen im Dienst meist auf unverfänglichere Art und Weise seine Thesen und eine mehr oder weniger versteckte Kritik an der seine Theorien ablehnenden und seine erfolgreiche Karriere gründlich behindernden Justiz und Politik. Wenn er etwa wie beim Baden-Badener Mordfall Carl Hau noch analytisch die Probleme des Indizienprozesses aufzeigt, so wird in dem Roman „Die geschlossene Kette“ (1919, womit die scheinbar überzeugende Indizienkette von Anklage und Gericht gemeint ist) dieses Mal vorsichtshalber in einem fiktiven, in Graz angesiedelten Mordprozess die fragwürdige Methode der Verurteilung eines Unschuldigen nach österreichischem Recht demonstriert. Zu seinem Credo gehört auch das unaufhörlich verkündete Bekenntnis, Staatsanwälte und Richter hätten statt mit dem scharfen Schwert unbarmherziger Sanktionen die Angeklagten und Straftäter wie jeden Menschen psychologisch und – eine wenig taugliche tautologische Aussage – nur ganz „menschlich“ zu traktieren. Mit diesen Ansichten sollte er, der oft quer lag zu zeitgenössischen Tendenzen, dann alsbald zum Ende seines Lebens auch bei den Nationalsozialisten anecken. Einige seiner Werke wurden verboten und beschlagnahmt.

Rechts- und Sozialgeschichte haben Hintergründe, Motive und Folgen der hier angedeuteten wissenschaftlichen Differenzen der „Schulen“ im Strafrecht, der Versuche, über eine Psychologisierung und über eine Erweiterung richterlicher Freiheiten durch die sog. Freirechtschule – teils von Seiten der der Rechten, teils von Linksliberalen begründet – die rigide Zivilrechtswissenschaft im Sinne größerer Gerechtigkeit prinzipiell aufzulockern, gründlich erforscht. Es mangelt auch nicht an vergleichenden historischen Studien über die juristischen Berufe in unterschiedlichen Kulturen. Ein herausragendes Beispiel bildet etwa die große vergleichende sozialhistorische Untersuchung über Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (Hannes Siegrist). Wie Monika Frommel gezeigt hat, verständigen sich wissenschaftliche und literarische Protagonisten auf unterschiedlich akzentuierten Ebenen im mehr oder weniger fest gefügten Glauben an die „Wahrheit“ der dogmatischen und empirischen Wissenschaft, an Begriffe und Prinzipien wie Anlage, Umwelt und Prävention in einer seit der Jahrhundertwende entwickelten Tätertypologie als Denkschema. Solche Schemata sind, wenn man die Neigung bedenkt, von durch Personen begangene Tatformen sich plastischer und eingängiger vorstellen zu können, und die literarische Notwendigkeit, die fiktiven Produkte durch eindrucksvolle Täter zu bevölkern, leichter vermittelbar und, was die Märkte von Wissenschaft und Medien angeht, auch  eingängiger und profitabler umzusetzen. Heutzutage mit Jakob Grimm von der „Poesie im Recht“ zu sprechen, dürfte schwer fallen. Leichter fällt womöglich die Entdeckung oder Analyse des Phänomens Recht in der Literatur. Wie bei Bilse das Militär und die kritikwürdige Gesellschaft einer kleinen Garnison oder bei Wulffen die bissige Karikatur der sächsischen Justiz in Schlüsselromanen attackiert wurden, so wurde in der Folge in zunehmenden Produkten dieses Genres Personen, Institutionen und Systemen der Spiegel vorgehalten. Literarische, politische und rechtliche Kritik verbindet sich dabei oft mit harten persönlichen Attacken oder durch die verborgene Intention, sich im belletristischen Gewand für reales oder vermeintliches Unrecht zu revanchieren. Doch auch sind die Unterschiede so offenbar, wie sie Thomas Mann in seinem Essay „Bilse und ich“ aufzeigte, mit dem er die Angriffe gegen die „Buddenbrooks“ als angeblich rechtlich angreifbaren Schlüsselroman zu kontern wusste, oder wie bei Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“, in welchem zwar deutlich erkennbar prominente Persönlichkeiten der bayerischen Politik nach 1918 in einem spektakulären Gerichtsfall portraitiert wurden, der jedoch zweifellos als Fiktion hinreichende Distanz zur Faktizität von Justiz und Politik hielt, um nicht selbst zum Objekt der reaktionären Weimarer Justiz zu werden.

Richtet sich der Blick auf die fiktionalen Dimensionen des Rechts (Jürgen Joachimsthaler), dann wird vielleicht bewusster werden, dass das Rechtssystem mit seinen Begriffen, mit seiner Heuristik, mit seinen Normen und seiner Verfahrenspraxis nicht lediglich, wie Luhmann sagt, die Funktion hat, Komplexität zu reduzieren und auf diese Weise innerhalb eines sich selbst referierenden Systems zu legitimieren, sondern dass das System Realität durch Normen, Verfahren und Sanktionen sowohl konstruiert als auch dekonstruiert. So gesehen ist die durch welche Disziplinen auch immer gemeinsam, konsensual oder weniger harmonisch geübte Typisierung und  Programmierung von Normalität und Normabweichungen, von Lebenswirklichkeit, von Gesellschaft und (Rechts-)Kultur immerhin ein Weg, die Konstrukte und Fiktionen in diesen Fächern und Praktiken durchsichtiger und damit womöglich gesellschaftlich-politisch veränderlich und künftig fortschrittlicher erscheinen zu lassen.

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977

Christin Bachhiesl: Zwischen Indizienpradigma und Pseudowissenschaft. Wien u.a. 2012

Isabella Claßen: Darstellung von Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft 1900 bis 1930. Frankfurt a.M. 1988

Monika Frommel: Die Rolle der Erfahrungswissenschaften in Franz von Liszts „Gesamte Strafrechtswissenschaft. In: Kriminalsoziologische Bibliografie 42/1984

Jürgen Jochimsthaler: Gesetz und Fiktion. In: Literaturkritik.de 8/2015

Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung “In der Strafkolonie“ im europäischen Kontext. Stuttgart 1986

Jörg Schönert/Konstantin Imm/Joachim Linder (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Tübingen 1991.

Jörg Schönert: Kriminalität erzählen. Berlin 2015

Jürgen Seul/ Albrecht Götz von Olenhusen (Hg.): Erich Wulffen – Zwischen Kunst und Verbrechen. Kriminalpsychologische Aufsätze und Essays. Berlin 2015

Milos Vec: Die Spur des Täters. Baden-Baden 2002