Die Utopie in den Augen toter Fische

Andrej Platonows jahrzehntelang verbotener Roman „Tschewengur“ liegt in einer überarbeiteten Neuausgabe vor

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1927 feierten die sowjetischen Machthaber ihr „Oktober“-Jubiläum mit einer Heroisierung ihrer zehnjährigen Herrschaft. In Filmen wie Oktober (Sergej M. Eisenstein), Das Ende von Sankt Petersburg (Wsewolod Podowkin), Der Fall der Dynastie Romanow und Der Große Weg (beide Esther Schub) erlebte nicht nur der sowjetische „Montagefilm“ seinen Höhepunkt, sondern es war auch der Abgesang auf die Utopien der Revolution. „Revolution und Klassenkrieg waren die epischen Themen des großen Stummfilms“, resümierte Dwight Macdonald 1938 in einem Rückblick auf die „Glanzzeiten“ des sowjetischen Kinos. „Die Einführung des ersten Fünfjahresplanes 1928 rief nach neuen Themen – Industrialisierung und Kollektivierung –, die schwer zu dramatisieren waren.“

An dieser Bruchstelle – zwischen 1926 und 1929 – entstand Andrej Platonows Roman Tschewengur, der ebenfalls die Geschichte der Sowjetunion von der Revolution über den Bürgerkrieg bis zur „Neuen Ökonomischen Politik“ thematisiert, jedoch an den zunehmend autoritären Strukturen der sowjetischen Bürokratie scheiterte. Als Platonow bei der Veröffentlichung seines Romans auf Widerstände der sowjetischen Zensur stieß, suchte er Unterstützung bei Maxim Gorki, doch dieser fühlte sich von der „anarchistischen Tendenz“ des Romans abgestoßen. Die Protagonisten erschienen ihm wie „komische Käuze“ oder „Halbverrückte“, welche die Revolution in Verruf brachten. Zwar konnte Platonow Teile des Romans in Zeitschriften veröffentlichen, doch verschwand das Werk in der Sowjetunion bis 1988 in den Katakomben des „Unlesbaren“.

Platonows Roman beschreibt eindrücklich das Jahrzehnt vom Sturz des zaristischen Regimes bis zum Aufstieg der stalinistischen Herrschaft in Zyklen von „Utopie und Gewalt“, wie die Zeitschrift Osteuropa 2016 ihre Platonow-Spezialnummer programmatisch für das Schreiben dieses Autors in der „revolutionären Moderne“ der 1920er Jahre betitelte. Der „Aufbau des Sozialismus“ in der Sowjetunion war von Anbeginn von einem „Gewaltrausch“ an Mensch und Natur gekennzeichnet. Im rückständigen Russland fehlten die Voraussetzungen für die historische Realisierung eines sozialistischen Projekts. „Sozialismus setzt Kapitalismus voraus – oder zumindest die Errungenschaften des Kapitalismus“, merkte Herbert Marcuse in seiner Studie Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (1958) an, „nämlich einen hohen Grad an Industrialisierung, eine hohe Arbeitsproduktivität, ausgebildete und disziplinierte Arbeitskräfte.“ In den vom Kapitalismus weitgehend unberührten Landschaften konnten die Voraussetzungen des Sozialismus ausschließlich mit brachialer Gewalt hergestellt werden, womit das humanitäre Ziel des Sozialismus – die Verbesserung der Lebensbedingungen der Individuen – auf den Kopf gestellt und schließlich ad absurdum geführt wurde.

Während des Bürgerkrieges zwischen 1918 und 1921 arbeitete Platonow als Ingenieur für die Eisenbahn, um den Nachschub für die Rote Armee im Kampf gegen die „Konterrevolutionäre“ –  „Weißgardisten“, Anarchisten oder Banditen – aufrecht zu erhalten. In der leninistischen Ratio symbolisierte die Lokomotive den unaufhaltsamen Fortschritt der Geschichte, der sich – ungeachtet der herrschenden Widrigkeiten und Fährnisse – seine Bahn suchte. Für Platonow war die Maschinentechnologie das Mittel zur völligen Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Planeten. In seiner Utopie imaginierte er – blind für die Folgeschäden – ein Projekt der „revolutionären Erderwärmung“, ein „Sibirien ohne Eis“, einen großen Ansturm auf die Geschichte und die Natur, der realiter auf eine Vergewaltigung der bisherigen Gegebenheiten hinauslief. „Wir müssen dafür sorgen“, schrieb er in den Jahren zwischen 1923 und 1926, „dass die Menschheit sich über den ganzen Erdball ausbreitet, indem wir diesen von den Polen bis zu den Tropen gleichwertig und angenehm gestalten. Der Mensch ist nicht nur Kolumbus, er ist auch Mechaniker seines Planeten.“ Ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit übernahm Platonow Lenins Glauben „an den experimentellen und vorläufigen Charakter der russischen Revolution“ (den Marcuse als Vorboten der stalinistischen Politik charakterisierte) und überantwortete sich und sein Werk der sowjetischen „Generallinie“, obgleich die herrschende Kulturbürokratie ihn bis zu seinem Tod als „Unperson“ klassifizierte.

Auf die rückschrittlichen Landschaften Russlands projizierte Platonow eine „technifizierte“ Befreiung der Arbeiter und Bauern von der Mühsal der täglichen Arbeit. „Die Elektrifizierung der Welt ist ein Schritt zu unserem Erwachen aus dem Schlaf der Arbeit – der Beginn der Befreiung von der Arbeit“, schrieb er 1920, „die Übertragung der Produktion auf die Maschine, der Beginn einer wahrhaft neuen, alle Vorstellungen sprengenden Lebensform. […] Die Elektrifizierung ist die Verwirklichung des Kommunismus in der Materie – in Stein, Metall und Feuer.“

In seinem Roman Tschewengur dominiert zunächst nicht die Utopie eines besseren Lebens, sondern die Schwerkraft des Bestehenden. In der südrussischen Steppe sind ihre Bewohner von den Gegebenheiten ihres Daseins überwältigt, da sie es nicht vermögen, einen Einklang mit der Natur herzustellen. Stets schon sind die Steppenbewohner „zermürbt von der Not“ oder heimgesucht von der Dürre, die sich in der Frigidität der weiblichen Reproduktionsfähigkeit ankündigt. In der archaischen Vorstellungswelt ist das „Brachliegen“ des weiblichen Körpers ein übersinnlicher Hinweis auf den kommenden Hunger, ohne dass sich die Steppenbewohner jemals über die eigene Wahrnehmung als Opfer der übermächtigen Verhältnisse der Natur hinaus bewegen noch dass sie eine Verantwortung für ihr Dasein in den Landschaften übernehmen.

In der Figur des Sascha Dwanow liefert Platonow selbst einen autobiografischen Blick auf die scheinbar aussichtslose Lage der ländlichen Bevölkerung in der Steppe. Dwanows Vater, ein Fischer, ertränkt sich selbst und überlässt seinen Sohn einem ungewissen Schicksal. „Der Fischer beobachtete jahrelang den See und dachte immer nur über eines nach – über das Rätsel des Todes.“ Dieses Rätsel schien sich in den stummen, ausdruckslosen Augen toter Fische aufzulösen. Sascha kommt zunächst in einer kinderreichen Familie unter, doch schließlich wird er als „überflüssiger Esser“ in die Steppe vertrieben.

In der Zeit der Revolution und des Bürgerkrieges arbeitet Sascha bei der Eisenbahn. Die Lokomotive verliert zunehmend ihre Antriebskraft, wird langsam, stockt im Betrieb. „Der sowjetische Verkehr ist das Gleis für die Lokomotive der Geschichte“, zitiert Platonow den Spruch eines Propagandaplakates. Dieses Gleis führt ins Nirgendwo der kommunistischen Stadt Tschewengur, in der eine kleine bolschewistische Avantgarde die Realisierung des Kommunismus für sich in Anspruch nimmt. Zusammen mit dem quijotischen Reiter Kopjenkin, der auf einer Rosinante-Nachfolgerin namens „Proletarische Kraft“ unterwegs ist und Rosa Luxemburg als eine Dulcinea von Toboso im revolutionären Zeitalter verklärt, nimmt Dwanow den utopischen Ort in Augenschein: „Hier ist Kommunismus und umgekehrt“.

Die Utopie äußert sich in der totalen Gewalt, denn die Satrapen der bolschewistischen Herrschaft merzen die „Burshuis“, die Vertreter der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, gnadenlos aus, ohne jedoch zum Ziel der utopischen Glückseligkeit zu gelangen. Die Geschichte endet mit einem neuerlichen Gemetzel: Kosaken dringen in die Stadt ein, und in der Schlacht kommt Kopjenkin um. Auf dessen Pferd reitet Dwanow davon, um mit ihm in den See zu reiten, in dem schon sein Vater „in Todesneugier gegangen war“.

In Platonows Roman ist die Utopie das Resultat der totalen Zerstörung: Bourgeoisie und Kleinbürgertum fallen der Extermination zum Opfer; das erträumte Ende der Geschichte ist nicht mehr als eine Erstarrung jeglicher Kreativität und Schreiben wird als Technik der Unterdrückung der illiteraten Massen diabolisiert – am Ende wartet nur der Tod.

Für Joseph Brodsky stand Platanow in einer Reihe mit Franz Kafka und Samuel Beckett als Autor einer Literatur des Absurden. Der englische Literaturkritiker John Bayley kritisierte jedoch an Tschewengur (als der Roman erstmals ins Englische übertragen wurde) einen „Mangel an Form“. In seinen Augen blieb Platonow ein Autor, dessen Einfluss auf andere wichtiger war als sein eigener künstlerischer Status. Dieses Urteil wird Platonow jedoch nicht gerecht. Treffender ist die Kritik Pier Paolo Pasolinis, der Platonow eine unvergessliche Poetik attestierte. „Nur schwerlich gibt es eine Seite“, schrieb Pasolini 1972 in einer Rezension der italienischen Übersetzung des Romans, „auf der man nicht lebendig und gegenwärtig – in kurzen, überreichen Bemerkungen, die das Beste sind – die Erzählerstimme jenes wunderbaren Dichters vernähme, der Platonow ist.“ Diesem Urteil ist nichts hinzuzufügen.

Titelbild

Andrej Platonow: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen. Roman.
Mit einem Nachwort von Ingo Schulze und Dževad Karahasan.
Übersetzt aus dem Russischen von Renate Reschke.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
581 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428030

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