Abgründe der Geschichte

Éric Vuillards „Tagesordnung“ führt uns die Schwäche der Nazigegner vor Augen – und weiß es besser

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Methode Vuillard, wenn man sie denn so nennen will, ist inzwischen aus einigen Büchern bekannt, insbesondere aus Ballade vom Abendland, Kongo und Traurigkeit der Erde. Der Erste Weltkrieg, die Ausbeutung des Kongos während der belgischen Kolonialzeit und der Wilde Westen als mythische Gründungserzählung der Vereinigten Staaten wurden darin zum Gegenstand eines charakteristischen literarischen Verfahrens, das eine Akzentuierung historischer Fakten mit der deutlichen Präsenz einer an der eigenen Gegenwart – unserer Gegenwart – interessierten Erzählstimme verbindet. Die Tagesordnung (L’ordre du jour) bedeutet eine konsequente Fortführung dieses Verfahrens, aber zugleich dessen meisterhafte Zuspitzung, für die Éric Vuillard im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Hier ist es nun der schier unaufhaltsame und jedenfalls unheimliche innen- wie außenpolitische Erfolg der Nationalsozialisten in der Zeit zwischen 1933 und 1939. Schritt für Schritt verwirklicht sich ein im Grunde nie recht verheimlichtes Programm nationalsozialistischer Politik, ohne dass sich dem jemand in den Weg stellte.

Wenn wir Vuillard darin folgen wollen, ist es fast so etwas wie ein gewaltiger Bluff, mit dem die Nazis da Erfolg haben. Viel mehr noch gelingt es ihnen, bei ihren Gegenübern eine aus Schwäche und Passivität erwachsende Bewunderung für ihr wie tollkühn erscheinendes Machtprogramm anzusprechen. Nicola Denis hat Tagesordnung nun, wie bereits die drei erwähnten Vorgängerwerke Vuillards, ins Deutsche übersetzt. Der Verlag hat auch nicht versäumt, mittels einer roten Banderole auf den Prix Goncourt hinzuweisen und Vuillard so ausdrücklich in eine Reihe zu stellen mit Michel Houellebecq, Mathias Énard und Leïla Slimani. Dabei ist es aber gerade der Gegenwartsbezug, den Vuillards Erzähler Seite für Seite herzustellen versucht, der dem Rezensenten nicht recht behagen will.

Die Faszinationskraft des Verfahrens ist dabei nicht von der Hand zu weisen: Im episodenhaft zugespitzten Bericht mischen sich Fakten und literarische Erzählung. Es ist Vuillards Blick für die skurrilen Momente seiner Literarisierung von Geschichte, für deren kleine, aber atemberaubende Zusammenhänge, der uns diese Geschichte wie eine Farce erscheinen lässt, was im Wissen um die drastischen Folgen dieser grotesken historischen Tatsachen umso deutlicher hervortreten muss. Das beginnt schon mit der Eingangsszene, auf die auch der Klappentext verweist und die in vielen Besprechungen hervorgehoben wurde: „Die Sonne ist ein kaltes Gestirn. Ihr Herz aus eisigen Dornen. Gnadenlos ihr Licht. Im Februar sind die Bäume tot, der Fluss ist versteinert, als speie die Quelle kein Wasser mehr aus, als könne das Meer keines mehr schlucken. Die Zeit erstarrt.“

Am 20. Februar 1933 treffen im Palais des Reichstagspräsidenten Hermann Göring 24 Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft mit Adolf Hitler zusammen, der ihnen eine knappe programmatische Ansprache hält. Doch der eigentliche Zweck der von Hjalmar Schacht organisierten Zusammenkunft ist es, Spenden für die NSDAP im Hinblick auf die Märzwahlen 1933 zu sammeln. Mit den Worten „Und nun, meine Herren, an die Kasse!“, so heißt es, habe Schacht die Veranstaltung beendet, und alle hätten sie Geld gegeben, die Herren Krupp und Stinnes, Opel und Quandt, Kurt Schmitt von der Allianz und Georg von Schnitzler von der I.G. Farben, von Siemens, Tengelmann, der Kohlen- und Stahlindustrie und so weiter. Der „Ewigkeitsgehalt“ dieser Szene, belehrt uns der Erzähler, sei eben in den Namen dieser Wirtschaftsunternehmen zu suchen, deren Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder hier vertreten gewesen seien. Als „ungleich imposantere Silhouette, ein übermächtiger Schatten, kühl und undurchdringlich wie eine Statue aus Stein“ träten hinter den Gesichtern dieser Figuren die von ihnen vertretenen Konzerne hervor, denen wir heute noch tagtäglich begegnen: „Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherung und die Batterie in unserer Uhr.“

Wer nun jedoch annimmt, es ginge in Vuillards Buch um nationalsozialistische Verstrickungen der deutschen Wirtschaft, geht in die Irre. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wird zwar am Ende des Buches nochmals auftreten und beim letzten gemeinsamen Abendessen mit Frau und Sohn in der Villa Hügel, längst senil, Gespenster sehen (die der KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, an denen er beziehungsweise sein Unternehmen sich bereichert hat, wie uns der Erzähler zu glauben nahelegt, und die sein Sohn später nicht einmal nennenswert entschädigen will); außerdem darf Gustav Krupp das Cover des Buches zieren. Doch alle anderen Herren, die sich bei Vuillard als unfähig erweisen, der Skrupellosigkeit der Nazis etwas entgegenzusetzen, soweit sie nicht gar unausgedrückt Sympathien dafür empfinden, kommen aus den Nachbarländern. Das gilt etwa für Lord Halifax, einen der führenden britischen Appeasement-Politiker und ab 1938 Außenminister, der im Herbst 1937 den Goldfasan Hermann Göring und auch Hitler in Deutschland besucht – und im Nachhinein von nichts etwas gemerkt haben wollte. An Stanley Baldwin konnte er gleichwohl schreiben, wie Vuillard zitiert: „Nationalismus und Rassismus sind starke Kräfte, die ich jedoch weder als widernatürlich noch als unmoralisch erachte!“ Und ferner ist da Kurt Schuschnigg, der österreichische Bundeskanzler, der quantitativ bemessen eigentlich eine Hauptfigur ist und dessen Besuch auf dem Obersalzberg am 12. Februar 1938 jedenfalls das Gravitationszentrum des Buches bildet. Nur halbherzig bringt er es dort fertig, in einer „der grandiosesten und groteskesten Szenen aller Zeiten“, wie unser Erzähler kommentiert, die Souveränität seines Landes gegen Hitlers unverhohlene Ansprüche zu verteidigen. Gefragt nach dem österreichischen Beitrag zur deutschen Geschichte fällt ihm peinlicherweise nur der Name Beethovens ein (Quelle dafür ist im Übrigen Schuschnigg selbst mit seinen nach dem Krieg veröffentlichten Erinnerungen). Hitler entgegenzusetzen hat er jedenfalls nichts, weshalb der „Anschluss“ Österreichs nach einigem Hin und Her – Ankündigung einer Volksabstimmung, Ultimatum, Regierungsumbildung – einen Monat später nicht abzuwenden ist.

Vuillard wartet dabei immer wieder mit dem Hinweis auf scheinbar abseitige, bizarre Details auf: Chamberlain etwa, so munkle man, sei in London Ribbentrops Vermieter gewesen. Halifax habe beim Besuch in Berchtesgaden beinahe einen Skandal provoziert, weil er Hitler nicht erkannt und ihm versehentlich seinen Mantel gereicht habe. Die Panzer der Wehrmacht seien beim Einmarsch in Österreich, alles andere als triumphal, aufgrund von Treibstoffproblemen in Stau und Straßengräben steckengeblieben. Ob dies alles der Wahrheit entspricht, ist die Frage. Der Verdacht liegt nahe, der Erzähler mache sich hier selbst die eine oder andere Hochstapelei zunutze – zumindest wie er seine Fakten auswählt, präsentiert und akzentuiert ist eine offenbare Angelegenheit seiner Willkür. In einem ausführlichen Exkurs diskutiert er eine Fotografie, die Kurt Schuschnigg im Jahr 1934 in seiner Wohnung in Genf zeigt. Die Aufnahme ist weit verbreitet und ohne weiteres bei Google auffindbar, sei aber, so Vuillards Erzähler, zurechtgeschnitten worden. Im originalen Bildausschnitt wirke Schuschnigg weit weniger vorteilhaft inszeniert, zum Beispiel seien die Patten seiner Jackentasche hochgeklappt. Dies jedoch ist auch auf dem verbreiteten Ausschnitt deutlich zu erkennen, ganz abgesehen davon, dass das Original der von der belgischen Agentur Meurisse angefertigten Fotografie nicht etwa nur vor Ort in der französischen Nationalbibliothek aufzufinden ist, wie der Erzähler behauptet, sondern schon durch eine simple Internetrecherche gefunden werden kann. Untergründig, und vielleicht doch allzu sehr nur untergründig, vermag aus Vuillards Buch selbst der Eindruck einer Täuschung, eines In-die-Irre-geführt-Werdens im Leser erwachsen. Es unterstreicht Vuillards literarische Leistung, wie er es vermag, seine im historischen Blick vorgetragene These von der dreisten Überrumpelung qua Hochstapelei oder vielmehr einem bereitwilligen Sich-täuschen-Lassen im eigenen Spiel mit dem Leser zu reproduzieren. Die Frage allerdings ist, ob man dieser Parallele als Leser auch gewahr wird. Vuillards Erzähler gibt sich alle Mühe in seinem souverän ironischen Urteilen über die Geschichte und ihre Figuren, sein eigenes Täuschungswerk zu bemänteln. Umso beunruhigender verbleibt deshalb am Ende die Frage, was denn diese Gegenüberstellung eines skrupellosen Macht- und Geltungsstrebens der Nazis mit der Unbedarftheit und Unfähigkeit ihrer Kontrahenten uns eigentlich heute bedeuten kann.

Ohne das Wissen darum, dass am Ende Massenmord und Vernichtungskrieg standen, bleibt von den deutschen Wirtschaftsbossen des Jahres 1933, den Schuschniggs und Appeasement-Politikern dieses Buches eben das übrig, als das sie dort gezeigt werden: Es sind letztlich feige und womöglich charakterlose, jedenfalls schwache Figuren der Geschichte, die sich dem eigentlich offenkundigen, aber wohl doch nicht recht für wahr genommenen bösen Willen der Nationalsozialisten nicht mit ihrem eigenen Willen in den Weg gestellt haben. Aber ein bloßer Wille ohne das Wissen darum, wofür oder wogegen man dort antritt und dass man überhaupt für oder gegen etwas antritt, was soll das eigentlich sein? Wozu dieses Buch darum leider einlädt, ist, was dem historischen Bewusstsein mit dem Wissen und der bequemen Distanz von mehr als 70 Jahren ohnehin immanente Versuchung ist: ein allzu schlichtes Urteil zu fällen und sich über die Figuren der Zeit zu erheben. Wer aber würde denn heute besser als Schuschnigg auf dem Obersalzberg bestehen? Wer würde ungeachtet möglicher eigener Interessen der kaltblütigen Berechnung Hitlers und Görings im Reichspräsidentenpalais widerstehen? Und wieso eigentlich werden bei Vuillard diejenigen, die damals tatsächlich widerstanden haben, mit keinem Wort erwähnt (wie beispielsweise Robert Bosch, der dem Treffen am 20. Februar 1933 trotz Einladung fernblieb)? Der Erzähler bleibt hier distanziert sarkastisch, er urteilt souverän über die armen Würstchen der Vergangenheit, er weiß es eben besser.

Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund. Aber man stürzt immer auf dieselbe Weise, in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen. Und um nur ja nicht mehr herabzustürzen, stützt man sich mit beiden Beinen ab und schreit. Mit Fersentritten zerschmettert man uns die Finger, mit Schnabelhieben zertrümmert man uns die Zähne, pickt uns die Augen aus. Und die Geschichte ist da, vernünftige Göttin, unbewegliche Statue mitten auf dem Festplatz, als Tribut einmal im Jahr ein trockenes Pfingstrosengesteck, als Trinkgeld tagtäglich Brot für die Vögel.

„Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund.“ So darf man als Vuillard-Leser doch recht sicher sein, nicht abermals derselben Gefahr zu begegnen, die einst die Nazis ihren Zeitgenossen bedeuteten. Leider ist aber auch die Gefahr gering, als Vuillard-Leser in der eigenen Selbstgerechtigkeit vorgeführt zu werden, und das ist doch eigentlich etwas enttäuschend. Dass Wirtschaftsbosse, Appeasement-Politiker, ja Millionen Deutsche und Europäer den Nationalsozialisten nichts entgegenzusetzen hatten – keine Moral, keine Prinzipien, keinen festen Willen –, das wissen wir doch bereits. Ob solche Moral, solche Prinzipien, solch fester Wille im Zweifelsfall aber ausgerechnet in der opportunistischen Selbstgewissheit derjenigen wurzeln können wird, die sich heute ohnehin schon auf der richtigen Seite der Geschichte wissen, darf man wohl bezweifeln.

Titelbild

Éric Vuillard: Die Tagesordnung.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
122 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575760

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