Gefangen im Lageralltag?
Das Kriegsgefangenenlager Erlangen im Spiegel neuer Quellen
Von Lena Fries und Marius Jakob
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKnapp ein Jahrhundert liegt zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Veröffentlichung der Monografie von Heinrich Hirschfelder, Geschichtslehrer und Erlanger Stadthistoriker, der damit einen Beitrag zur wenig erforschten Geschichte des Erlanger Kriegsgefangenenlagers leisten will. Bisher kann die Forschung hauptsächlich auf allgemeine Werke zur Kriegsgefangenschaft zurückgreifen, zu Erlangen gibt es außer einem Aufsatz des Stadtarchivars Andreas Jakob (2014) nur vereinzelte Untersuchungen. Hirschfelder zielt darauf ab, eine Gesamtgeschichte des Erlanger Lagers zu erstellen und richtet sich an ein stadtgeschichtlich interessiertes Publikum – sein Werk sticht vor allem auf Grund des Einbezugs bisher ungenutzter Quellen hervor.
Der Autor leitet die insgesamt drei Kapitel mit Informationen zu Standort und Aufbau des Erlanger Lagers ein, der Einzug der ersten Kriegsgefangenen steht im Vordergrund. Die Neuankömmlinge sahen sich im Lager mit einem eintönigen Leben konfrontiert. Viele litten an Heimweh und Depressionen, der sogenannten „Stacheldrahtkrankheit“. Nach einer kurzen Skizzierung der Lagerverwaltung führt Hirschfelder diese mit einem biografischen Abriss der beiden Lagerkommandanten fort. Diese hatten sich u.a. mit zahlreichen Problemen zwischen den Gefangenen auseinanderzusetzen: Insbesondere Spannungen zwischen Franzosen und Russen gehörten zur Normalität. Für Erlangen ist allerdings auch Gegensätzliches überliefert: 1918 fragte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat nach einer Erhöhung der Nahrungsrationen für russische Gefangene, da diese durch den Abtransport der Franzosen „eine erhebliche Zuwendung an Lebensmitteln“ verlieren würden. Der wirtschaftliche Nutzen der Gefangenen hatte stets oberste Priorität. Damit einher gingen zahlreiche auswärtige Arbeitseinsätze, welche wiederum Gelegenheit zur Flucht boten. Nach dem „Steckrübenwinter“ 1916/17 verschlechterte sich, auch durch die hohe Anzahl neuer Insassen, die Lage der Kriegsgefangenen. Auch diesbezüglich gehörten Konflikte zur Tagesordnung, denn im Gegensatz zu den Russen konnten sich die Franzosen aus der Heimat versorgen lassen. Da es auch der deutschen Zivilbevölkerung schlechter ging, wurden die Gefangenen verstärkt in der Landwirtschaft beschäftigt. Um deren Produktivität zu steigern, setzte das deutsche Militär „Wirtschaftsoffiziere“ ein, deren Einsatz laut Hirschfelder zwar sinnvoll war, jedoch nicht alle Probleme lösen konnte. Das dritte Kapitel rückt die Lagergeschichte seit der Zusammenlegung der Lager Nürnberg und Erlangen (1918) in den Fokus. Der bisherige Nürnberger Kommandant Oberleutnant a.D. Friedrich Eisenhofer übernahm die Gesamtleitung. Für diese Zeit unterfüttert Hirschfelder die verschiedenen Arbeitsbereiche der Gefangenen, vorrangig die Landwirtschaft betreffend, mithilfe einiger Statistiken. Erst im Mai 1921 wurde das Lager geschlossen, die Gründe hierfür werden im abschließenden Exkurs zur Situation der zahlenmäßig am stärksten vertretenen russischen Gefangenen ersichtlich: Sie waren schlecht ernährt, und der radikale Wandel der politischen Verhältnisse in ihrem Heimatland zwang sie trotz des vorzeitigen Kriegsausscheidens Russlands zum Verbleib in Erlangen. Erst mit der Rückkehr der deutschen Arbeiter von der Front sollte Deutschland das wirtschaftliche Interesse an ihnen verlieren.
Mit der vorliegenden Publikation gelingt es, einen umfassenden Überblick über das Erlanger Kriegsgefangenenlager und seine Außenkommandos zu gewinnen. Im Rahmen des Einbezugs bisher ungenutzter Quellen liegt ein besonderes Augenmerk auf der Verwendung diverser Fotografien, welche zusätzlich einen anschaulichen Einblick in das Lagerleben gewähren. Zu Recht rückt der Autor die bis dato in der Forschung unbeachtete Verlegung des Nürnberger Lagers nach Erlangen ins Zentrum, da sie einen Einschnitt in die Geschichte des Erlanger Lagers bedeutete. Mitunter stellt sich jedoch die Frage, ob die doch relativ positive Darstellung des Lagerlebens der Wahrheit entspricht oder auf fehlendes Quellenmaterial zurückzuführen ist. Dem Ziel eines umfassenden Gesamtüberblicks geschuldet bleibt die Arbeit an manchen Stellen oberflächlich, auf offene Fragen wird jedoch verwiesen. Dabei wird der chronologische Aufbau allerdings nicht immer konsequent durchgehalten und Verbindungen zwischen den Unterkapiteln fehlen fast gänzlich, so dass es teilweise an einem roten Faden mangelt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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