Das Ritual einer untergegangenen Welt

Aus Anlass einer Sonderbriefmarke zu „Dinner for One“

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Freddie Frinton 1963 mit seiner Partnerin May Warden den Sketch „Dinner for one“ für den NDR einspielte, wusste er vermutlich nichts von seinem Vorgänger Peregrinus Tyß, der in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Meister Floh“ Jahr für Jahr ein Weihnachtsfest für die längst verstorbenen Eltern ausrichten lässt – und damit auch für sich selbst. Im Film wie im Text kommt dem Stil der Inszenierung die wichtige Funktion zu, das Ritual einer untergegangenen Welt zu konservieren und zu perpetuieren.

Von Ritual lässt sich dann sprechen, wenn eine Ereignisfolge einem bestimmten Sequenzmuster folgt bzw. in eine geregelte Abfolge von Teilhandlungen sequenziert ist – und wenn an dieser Abfolge selbst dann festgehalten wird, wenn die Gründe für sie weggefallen sind oder sich die Umstände und die äußeren Rahmenbedingungen gewandelt haben und eigentlich andere Handlungsweisen erforderten. Der Dialog, den wir in „Dinner for One“ erleben, hat bereits eine Dialoggeschichte, er ist bereits so oder so ähnlich performiert worden – vermutlich bis in die Speisefolge hinein. Er ist damit ohne Entwicklung und methaphorisch tot und insofern kaum zu rechtfertigen – und Heinz Piper, der deutsche Rahmenerzähler des Sketches, bezweifelt ja denn auch fast explizit die Zurechenbarkeit der Personen.

Heinz Piper nämlich führt uns (in der Spielfassung des NDR) in die Geschichte und Vorgeschichte des Geburtstagsrituals ein. Er stellt uns das ungleiche Paar – Miss Sophie und Butler James – vor, und durch ihn erfahren wir das Alter der Protagonistin (das wir aus Text und Film selbst nicht erführen). Piper ist es auch, der uns mimisch-gestisch, durch Stimmführung und Raumbewegung auf das Skurrile des Rituals einstimmt. Der Erzähler nämlich bewegt sich, während er noch spricht, pietätvoll auf den Zuschauer zu, er tritt quasi an den Bühnenrand, um uns – Diskretion und Intimität herstellend – auf den, wie wir dann merken werden, offensichtlichen Skandal der Ereignisfolge vorzubereiten.

„Dinner for One“ ist für eine bestimmte Spielart des Humors (Stillage „magnifica“ oder „sublime“) in der ‚alten‘ Bundesrepublik ähnlich stilbildend gewesen wie Loriot. Hier wie dort leisten Text und (bewegtes) Bild eine Evokation unseres Vorverständnisses von strenger Ökonomie: Das stärkste Kontrastmittel gegen das Erhabene wird dabei durch das lächerliche Momentum der Geschichte aufgeboten, dem zufolge Miss Sophies Tischgesellschaft nur imaginiert respektive nur impersoniert ist – nämlich durch Butler James.

Gerade, am 11. Oktober 2018, ist dieser unsterbliche Witz – einige Jahre nach Loriot – mit der dritten Sonderbriefmarke der Reihe „Deutsche Fernsehlegenden“ gewürdigt worden. 45 Cent kostet das Gegenstück zur TV-Produktion, die vor 55 Jahren das erste Mal gesendet wurde. Aufgrund ihrer zahllosen Wiederholungen schaffte es die Kultsendung, ähnlich wie Agatha Christies Stück „Die Mausefalle“ („The Mousetrap“), das seit 1952 allabendlich im Londoner St. Martin’s Theatre aufgeführt wird, ins Guinnessbuch der Rekorde.

Zu den Kuriositäten solcher Erfolgsgeschichten gehört, dass sie auch sonstige Weiterungen zeitigen. Wie bereits zahlreiche Asterix-Hefte, ist auch „Dinner for One“ längst ins Mundartliche übersetzt worden: „Ins Säggssche ieberdrachn unn mid ä Voword vorsähn von Christian Geschke“. Was besagt uns das? Ähnlich wie Loriot, der längst ein gesamtdeutscher moderner Klassiker geworden ist, beliebt und bekannt in West- und Ostdeutschland, haben auch Freddie Frinton und May Warden den Osten einigungsstiftend erobert.

Titelbild

Dinner for One von A-Z. Das Lexikon zum Kult-Vergnügen.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
144 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-10: 3821836105
ISBN-13: 9783821836102

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dinner for one off säggssch. Ins Säggssche ieberdrachn unn mid ä Voword vorsähn von Christian Geschke.
Edition Nautilus, Hamburg 2000.
61 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3894013605
ISBN-13: 9783894013608

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dinner for one. Freddie Frinton, Miss Sophie und der 90. Geburtstag.
Edition Nautilus, Hamburg 1985.
62 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3894012684

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch