Ganz gewiss ohne Risiken und Nebenwirkungen

Ein reichhaltiges Handbuch zu Literatur und Medizin

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viel müssen Schriftsteller von Krankheit verstehen, wenn Gesundheit, angelehnt an die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO, ohnehin nur bedeutet, dass man noch nicht lange genug untersucht worden ist? Wie kommen Leiden, Sterben und Tod in literarischen Werken zur Darstellung? Wie schlagen sich die aktuellen Diskussionen um Euthanasie und Sterbehilfe, Altern und Menschenwürde in Romanen und Gedichten nieder? Und wie gehen Dichter mit den Motiven um, die ihnen die hochmoderne Medizin und Gentechnologie liefern? Eine Fülle von Antworten gibt das Handbuch Medizin in der Literatur der Neuzeit. Es ist das erste seiner Art und einzigartig in Ausstattung und Inhalt. Herausgeber ist der Lübecker Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt, eine Koryphäe seines Fachs und ein vielbewanderter Leser. Mit stupender Sachkenntnis, in übersichtlicher Darstellung und leichtfüßig hat er ein gewaltiges Wissenskorpus zusammengestellt, geordnet und in fünf Bänden angelegt, einer vorstellenden Gesamtinterpretation („Darstellung und Deutung“), einer Forschungsbibliographie, einer Textanthologie, wissenschaftlichen Einzelstudien und einem Band mit „Themen –Autoren – Werken“.

Anknüpfend an Michel de Montaignes Aperçu „Wir sterben nicht, weil wir krank sind, sondern weil wir leben“, entwickelt von Engelhardt beispielsweise den historischen Wandel von Krankheits- und Todesvorstellungen. In der Antike wünschte man sich einen guten und schönen Tod („Eu-thanasie“) im Kreise der Angehörigen. So verabschiedete sich der sterbende Kaiser Augustus von seiner Frau Livia mit den Worten: „Lebe weiter und lebe wohl“. Die mittelalterlichen Stundenbücher erweitern diese Todesethik um die religiöse Dimension und verdammen insofern die Praxis der Euthanasie. Im Sinne einer Sterbebegleitung, die den ganzen Menschen – sozial, psychisch, körperlich und geistlich – umfasst und auf das Leben im Jenseits vorbereitet, hat Francis Bacon, der 1623 als erster neuzeitlicher Denker den tabuisierten Euthanasiebegriff wieder aufgriff, zwischen der Hilfe zum Sterben und der Hilfe im Sterben unterschieden, zwischen aktiver und passiver Euthanasie also. Damit ist man schon mitten in der derzeitigen Euthanasiedebatte, die vor allem mit Blick auf die niederländische Praxis höchst kontrovers geführt wird.

Die Beispiele liegen auf der Hand – ganz gleich, ob es sich um Ärzte in der Literatur (der berühmteste ist Faust), um pathologische Fälle, Bibliotherapien, kranke Kinder oder Altersbeschwernisse handelt. Bei den Autoren, die zugleich ausgebildete Mediziner waren wie Arthur Schnitzler oder Gottfried Benn, finden sich erwartungsgemäß zahlreiche Bezüge. Wichtig ist vor allem die ästhetische Stilisierung von Medizin. In den Buddenbrooks hat Thomas Mann bekanntlich den Typhus seines jungen Helden Hanno aus einem Konversationslexikon abgeschrieben und dies als „Vergeistigung des mechanisch Angeeigneten“ und eine „Art von höherem Abschreiben“ (Brief an Adorno, 30.12.1945) erklärt. Komplexer ist das Phänomen der „Immunität der Klassik“ (Cornelia Zumbusch): Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller wappneten sich gegen die den antiklassischen Strömungen und der Romantik zugeschriebenen Affekte und Infekte mit den Konzepten von Entsagung und Erhabenheit, deren Immunisierungsfiguren aus der präbakteriologischen Medizin der damaligen Zeit geborgt sind.

Moderne Dichter haben sich „fast regelmäßig das Leiden zum Gegenstande“ (Mann) gesetzt. Immer geht es dabei um die Gefährdungen und Grenzen menschlicher Existenz, sei es in der Form der Kritik eines menschenunwürdigen Fortschritts (in Georg Büchners Woyzeck) und der sozialen Ursachen bestimmter Krankheiten (in Gerhart Hauptmanns Naturalismusdramen) oder in Form der literarischen Durchleuchtung moderner medizinischer Diagnostik (in Manns Zauberberg). In den Morgue-Gedichten, mit denen der junge Dr. med. Gottfried Benn die expressionistischen Zeitgenossen provozierte, werden traditionelle Werte wie Menschenwürde und individueller Tod an den Fortschritten moderner Medizin gemessen. Dabei kommt es Benn, der 1912/13 etwa 300 Leichensezierungen in der Pathologie des Berliner Westend-Krankenhauses vornahm, nicht auf naturalistische Wiedergabe des Sterbens an, sondern auf die Probleme der sprachlich-poetischen Darstellung des Todes. Ähnlich deuten auch Durs Grünbeins Epitaphe (Den Teuren Toten) das anonymisierte, entfremdete Sterben in der Massen- und Spaßgesellschaft, die „Trübsal am Rande posthumaner Wüsten“.

Von Engelhardts Handbuch gibt eine vorzügliche Übersicht über Wechselbeziehungen zwischen Medizin und Literatur. Es eignet sich als Einführung in die interdisziplinäre Thematik und Impulsgeber für weiterführende Forschungen, und wenn es eine Nebenwirkung gibt, dann die Verführung zum Lesen.

Titelbild

Dietrich von Engelhardt (Hg.): Medizin in der Literatur der Neuzeit. Band I – Darstellung und Deutung.
Mattes Verlag, Heidelberg 2018.
492 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783868091311

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