Schmerzhafte Erinnerungen

Géraldine Schwarz beschwört das historische Gedächtnis anhand ihrer Familiengeschichte

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 1938 kauft Karl Schwarz gemeinsam mit einem Kompagnon eine Mineralölgesellschaft. Es handelt sich um eine Firma in jüdischem Besitz mit dem Namen Siegmund Löbmann & Co. Géraldine Schwarz vermutet ein gezieltes Vorgehen ihres Großvaters; er und sein Geschäftspartner „suchten wahrscheinlich das Register der Firmen auf, die noch zu arisieren waren“. Die Autorin mutmaßt, dass sich der niedrige Kaufpreis noch hätte unterbieten lassen: „Karl und Max haben 10.353 Reichsmark für die Firma bezahlt, also ‚nur‘ circa 1.100 Reichsmark weniger als der ursprünglich festgelegte Preis. Im Wissen, dass dieser den Erwartungen der NS-Obrigkeiten angepasst sein musste, um deren Einwilligung zum Handel zu erhalten, war es vielleicht ein Anflug von Mitgefühl, der es den beiden verbat, das Ganze noch weiter zu treiben.“

Géraldine Schwarz, 1974 geborene Tochter aus einer deutsch-französischen Ehe, kann und will die Zuneigung zu ihren Großeltern nicht verleugnen, doch handelt es sich dabei um eine schwierige Liebe. Die Mutter der Autorin stammt aus Frankreich, ihr Vater aus Deutschland. Schwarz ist Tochter und Enkeltochter zweier Familien, die geradezu als Sinnbild für die komplexe deutsch-französische Geschichte gelten können.

Ihren deutschen Großvater bezeichnet sie als eines der „einfachen Mitglieder der nationalsozialistischen Partei“, ihr französischer Opa war während des Krieges und der Besatzungszeit „Gendarm in Mont-Saint-Vincent, einem Dorf mit einigen Hundert Einwohnern im Departement Saône-et-Loire, das in der ‚freien Zone‘ lag.“ Karl Schwarz trat 1935 in die NSDAP ein. Die Autorin relativiert diesen Schritt: „Unwahrscheinlich ist, dass er sich aus Begeisterung der Partei anschloss.“ Und obwohl ihr Großvater von der ‚Arisierung‘ profitierte, behauptet sie, er sei „kein Antisemit“ gewesen, „er muss sich der Schande bewusst gewesen sein, die es bedeutete, aus der Not der Juden Profit zu schlagen.“

Die finanziellen Mittel aus dem Verkauf der Firma ebneten Familie Löbmann vermeintlich den Weg ins sichere Exil nach Amerika. Doch es sollte anders kommen. Einzig Julius Löbmann gelang um Haaresbreite die Flucht aus dem Lager Les Milles in der Nähe von Aix-en-Provence: „Im Holocaust hat Julius seine Frau verloren, seinen Sohn, seine beiden Brüder und all sein Hab und Gut.“

Im Januar 1948 erhält Karl Schwarz den Brief einer Anwältin, in dem diese im Namen ihres Auftraggebers Julius Löbmann, bis 1938 Mitbesitzer der Firma Löbmann & Co., „Reparationszahlungen einfordert“. 11.241 Reichsmark soll Karl Schwarz zahlen, doch er weigert sich. Ausführlich zitiert Géraldine Schwarz aus dem Briefwechsel zwischen ihrem Großvater und der Rechtsanwältin.

Schließlich wendet sich Karl Schwarz direkt an Julius Löbmann. Unmissverständlich benennt Géraldine Schwarz die Geisteshaltung ihres Großvaters, der sich, wie viele seiner Zeitgenossen, nicht als Täter, sondern als Opfer empfand: „Karl Schwarz hörte nicht auf, in weiteren Briefen darauf zu beharren, dass er in Wirklichkeit von Gaunern übers Ohr gehauen worden wäre (…). Ihm scheint jegliches Bewusstsein dafür gefehlt zu haben, dass diese Rhetorik, die sich offensichtlich (…) an den antisemitischen Klischeevorstellungen eines zum Komplott, zur Abzockerei und zur Geldgier neigenden Juden bediente, auf skandalöse Weise fehl am Platz war.“

Die besondere Qualität ihres Buches liegt nicht allein in der Schilderung persönlicher Schicksale, sondern in der plastischen Art und Weise, wie Géraldine Schwarz diese als Folge historischer Ereignisse und politischer Entscheidungen sichtbar werden lässt. Ausführlich schildert sie den Prozess der ‚Arisierung‘ als vorläufigen Höhepunkt der Entrechtung jüdischer Bürger ebenso wie die Weigerung der Weltgemeinschaft, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Auf der Konferenz von Évian vom 6. bis 15. Juli 1938, initiiert von Franklin D. Roosevelt, sollte geklärt werden, welche Länder zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich bereit wären.

Das Ergebnis war mehr als ernüchternd – und es hatte tödliche Folgen, wie die Autorin am Beispiel der Familie Löbmann aufzeigt. So waren die USA nicht bereit, mehr als 27.370 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich aufzunehmen. Die Weltgemeinschaft weigerte sich aus den unterschiedlichsten Gründen, etwa 500.000 Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft vom NS-Regime zu Freiwild erklärt worden waren, einen sicheren Ort zum Leben anzubieten.

Doch Géraldine Schwarz belässt es nicht dabei, ihre deutschen Vorfahren in den Blick zu nehmen. Ihr Großvater mütterlicherseits war während des Krieges Gendarm in Mont-Saint-Vincent, einem kleinen Ort in der ‚freien Zone‘ des Vichy-Regimes unter Philippe Pétain. Die Demarkationslinie zwischen dieser und der von den Deutschen besetzten Zone verlief „direkt hinterm Dorf“. Die Bewachung dieser Grenze hat ihr Großvater nach eigenen Aussagen nicht sonderlich genau genommen, häufig habe er ein Auge zugedrückt, „wenn illegale Einwanderer querfeldein ihr Glück versuchten.“ Dennoch war der französische Großvater als Gendarm Vertreter einer Staatsmacht, des Vichy-Regimes, das sich aktiv an der Verfolgung und Deportation jüdischer Menschen beteiligte.

Präzise schildert Géraldine Schwarz die entsprechenden historischen Hintergründe und macht dabei nicht beim Kriegsende halt. „Wie die große Mehrheit der Franzosen war auch meine Mutter nach dem Krieg lange Zeit mit der offiziellen Version der Geschichte in den Schlaf gewiegt worden, dass ihr Land den Deutschen mehrheitlich Widerstand geleistet und sich aus deren Joch durch Kämpfe befreit hätte.“ Erst in den Siebzigerjahren, so Géraldine Schwarz, „stürzte der Mythos, den Frankreich über seine Rolle während des Krieges aufrechterhalten wollte, in sich zusammen.“ 1973 erscheint das Buch La France de Vichy des amerikanischen Historikers Robert O. Paxton, auf das Géraldine Schwarz sich beruft: „Der Historiker zeigte, wie die Franzosen durch die freiwillige Entscheidung der Regierung, das Dritte Reich aktiv zu unterstützen, (…) eindeutig zu Komplizen der kriminellen Machenschaften wurden“.

Dieser späten Revision eines verfälschten Geschichtsbildes auf französischer Seite stellt Géraldine Schwarz „das reflektierte Verhältnis der Deutschen zu Autorität und Hierarchie“ gegenüber. Den Deutschen, so die Autorin, sei es gelungen, nach den ersten Jahren des Verschweigens offen mit ihrer Geschichte umzugehen. „Kurz nach den Pariser Attentaten vom November 2015, als Marine Le Pen bei den Umfragen vorn lag, veröffentlichte ich in einem französischen Magazin eine persönliche Hommage an die Widerstandskraft der Deutschen gegen Populismus und Rechtsextremismus.“ Die Offenheit, mit der viele Deutsche in diesen Wochen und Tagen syrische Flüchtlinge in ihrem Land aufgenommen hatten, erscheint Géraldine Schwarz als Beleg für ihre These, dass nur die schonungslose Erinnerung an eine unselige Vergangenheit als Garant einer humanen Gesellschaft gelten kann. Doch es folgt die Ernüchterung: „Heute hat die AFD 92 Sitze im Bundestag und ist in 14 von 16 Ländern vertreten.“

Am Ende ihres lesenswerten Buches beschwört Géraldine Schwarz geradezu eine „deutsche Identität, die stark auf Erinnerungspolitik aufbaut.“ Sie verweist als Gegenbeispiel auf die Granden der AFD Höcke und Gauland und bringt deren Absicht auf den Punkt: „Sie wollen das auslöschen, was die moralische Stärke Deutschlands ausmacht und was die ganze Welt diesem Land neidet: aus der Reflexion über die Vergangenheit dauerhaft Werte gezogen zu haben, die bei den Bürgern einen kritischen Geist und eine moralische Umsicht ausbildeten, die untrennbar mit der Kraft der deutschen Demokratie verbunden sind.“

Géraldine Schwarz hat nicht nur ein lesenswertes, sondern auch sehr gut lesbares Buch geschrieben. Es gelingt ihr, die eigene Familiengeschichte mit der Weltgeschichte zu verweben, wie sie selber es an einer Stelle formuliert. Sichtbar wird dabei ein Muster, das beide Geschichten anschaulich zur Erscheinung bringt. Und sichtbar wird zudem, dass sich die Gegenwart nur im Blick auf die Vergangenheit begreifen lässt.

Umso bedauerlicher ist es, dass der Verzicht auf eine Namensregister wie auf Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis den Zugang zu einem Werk erschwert, das sich auch hervorragend als Schullektüre eignen würde. Es geht uns dabei nicht um die Einhaltung akademischer Gepflogenheiten, sondern allein um einen besseren Zugang zu den dargebotenen Informationen und Fakten. So zitiert die Autorin an einer Stelle ein Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich, doch wer sich nicht notiert hat, woher genau das Zitat stammt, wird Schwierigkeiten haben, es wiederzufinden. Auch Jean Amerys wichtiges Buch Jenseits von Schuld und Sühne wird erwähnt, doch kann der Leser nach der ersten Lektüre die entsprechende Stelle nur mit erheblichem Aufwand wiederfinden, eben weil ein Register fehlt.

Titelbild

Géraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Ruzicska.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2018.
445 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910307

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch