Was ist der Mensch?

Helmuth Plessner führt in die Philosophische Anthropologie ein

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus philosophischer Perspektive wurden im 20. Jahrhundert zahlreiche Menschenbilder entwickelt und auch konturiert mit empirischen Reflexionen beschrieben. Max Scheler fragte nach der Stellung des Menschen im Kosmos. Seine Studie zur Anthropologie – der Metaphysik näher als der Biologie – blieb ein Fragment. Die Differenz zwischen Mensch und Tier wurde oft und nachdrücklich betont. Der Neukantianer und spätere Kulturphilosoph Ernst Cassirer diskutierte den Symbolbegriff und verfasste am Ende des Zweiten Weltkriegs An Essay on Man. Den Menschen verstand er als „animal symbolicum“, als Lebewesen, das Symbole bildet und hierüber nachdenkend sich selbst erkennt. Anthropologische Überlegungen stellte auch Arnold Gehlen an. Er sprach vom „Kulturwesen Mensch“ und war in die Universitätsgeschichte des Dritten Reiches unheilvoll verstrickt. Diese und andere Philosophen suchten noch immer den Weg zu einer Antwort auf die alte Frage: „Was ist der Mensch?“ Der Fortschritt in den Naturwissenschaften wurde wahrgenommen und rezipiert. Zugleich bestanden die ideologischen Konzepte der Rassenlehre und Völkerpsychologien. Von gegenwärtig diskutierten Themen wie „Künstliche Intelligenz“ oder „Transhumanismus“ war noch nicht die Rede, ebenso wenig von den vielschichtigen, fächerübergreifenden Diskursen in der Gendertheorie.

Mitten in diese facettenreiche Philosophiegeschichte gehört auch die im Sommersemester 1961 an der Universität Göttingen gehaltene Einführungsvorlesung von Helmuth Plessner. Er erörtert, ob von der „Konstanz einer menschlichen Natur“ gesprochen werden könne. Auch erwähnt er den heutzutage alles andere als revolutionären Gedanken, dass der Mensch mit Tieren verglichen werden könne und eine „durch besondere Eigentümlichkeiten, besondere Merkmale, besondere Kriterien charakterisierte Tierart“ sei. Zugleich behauptet Plessner jedoch die „Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen“. Im Stil der klassischen Gelehrsamkeit referiert der Philosoph über Grundfragen und Problemhorizonte dieser eher randständigen Disziplin seines Fachs. Analog vorstellbar sind dazu die heutigen Erwägungen, die etwa Philosophen oder Theologen über Medizinethik anstellen. Die Vertrautheit mit dem Forschungsstand der Naturwissenschaften ist oft limitiert, aber die Außenperspektive erweist sich häufig als hilfreiche Ergänzung. Die Philosophische Anthropologie wird von Plessner als „geschichtlicher Spätling“ bezeichnet. Die „Besinnung“, jedenfalls in systematischer Form, hierauf habe erst im 19. Jahrhundert begonnen: „Selbstdeutung ist ein Ausdruck, hat man gesagt, der Unvollendetheit des Menschen. Sie können auch sagen, seiner Freiheit. Einerseits muß er sich zu dem machen, was er schon ist, und andererseits macht er sich immer wieder zu etwas, was er noch nicht ist.“ Plessner stellt diese Reflexionen vor dem philosophischen Horizont seiner Zeit an. Er vermutet, dass die „Wesensbestimmung des Menschen“ der Existenzphilosophie zwar noch vielfach vertreten werde, aber doch schon im Rückgang begriffen sei. Das grundsätzliche Problem aber, ob der Mensch, als eine spezifische animalische Lebensform, einerseits seine natürlichen Anlagen ausbilden kann und muss, andererseits aber sich selbst erweitert oder übersteigt, bleibt problematisch, ja fragwürdig. Menschen, lapidar gesagt, sammeln Erfahrungen. Neben dem Zuwachs an Einsicht und Erkenntnis entstehen auch pathologische Erkrankungen, die therapiert, aber nicht geheilt werden können – gedacht sei an Formen der Demenz, die zu einem fortschreitenden Gedächtnisverlust, somit einer Veränderung von Wahrnehmungsweisen und Erinnerungen, führen können, die gänzlich unabhängig sind von dem, was abstrakt und unbestimmt mit dem Begriff „Freiheit“ markiert wird.

Plessner erörtert das Phänomen der Sprache. Auch hier reflektiert er die zeitgenössischen Differenzierungen: „Im Mittel sprachlichen Ausdrucks wird die Sache, wie wir sagen, vergegenwärtigt, gefunden wie erfunden, gemacht wie entdeckt, beides. Hergestellt und aufgefunden. Der sprachliche Ausdruck hebt sich von ihr ab, da er in seiner Gliederung immer zugleich das an ihr Ungesagte als Hintergrund vermittelt.“ Tieren gesteht Plessner eine Kommunikationsweise zu, die „metaphorisch“ als Sprache aufgefasst werden könnte. Die Wortbildungen und Wortverbindungen, das Abstraktionsvermögen begreift der Philosoph als spezifisch menschliche Schöpfung. Heute sind die Kommunikationsformen unter Tieren weitaus gründlicher untersucht. Plessner betont die Bedeutung der „Abstraktionsfähigkeit“: „Das Generelle im begrifflichen Sinne ist ganz offensichtlich, und das meine ich auch, die alte Lehre von dem abstraktiven Wesen des menschlichen Geistes, das bleibt den Tieren verschlossen.“ Der souverän parlierende Professor präsentiert sodann Anekdotisches, oft von Wendungen mit „sehr hübsch“ verbunden: „In den zoologischen Gärten sind Tiere ja so abgestumpft, wie Staatsmänner, die ständig photographiert werden, die kümmern sich ja schon nicht mehr um das Publikum.“

Sprechend, so Plessner, stelle der Mensch den „Weltkontakt“ her. Die eigenen philosophischen Untersuchungen wie Unterscheidungen, die der fachkundige Philosoph vornimmt, hält er für durchaus wichtig; sie seien von anderem Erkenntnisgewinn als die „philosophischen Sonntagsspaziergänge von Nicht-Philosophen“ wie Konrad Lorenz, die stets „etwas verdächtig“ anmuteten – es seien ja auch nur „Sonntagsspaziergänge“. Weiterhin diskutiert Plessner die „Horizontstruktur des menschlichen Feldes“: „Menschsein heißt also von Normen geführt und gehemmt, beflügelt und gebremst, gerichtet und zugleich beschränkt zu sein.“ Zugleich verfüge der Mensch über eine „große Selbstironie“. Dieser Konversationsstil sei ein Zeichen für einen „sehr festen Standort“ und ein „sehr großes tiefes Selbstbewußtsein“, ebenso für „das Gefühl, ganz draußen zu sehen“. Die „Kultivierung des Sich-selbst-nicht-allzu-ernst-Nehmens“ sei ein Kennzeichen etwa der Juden und des „hohen katholischen Klerus“: „Satirische, ironische, humorvolle Einklammerung der gewohnten Verhältnisse heben nachdrücklich oder versteckt die Welt aus ihren normalerweise unbemerkten Angeln. In dieses Relativierungsverfahren vermögen Selbstironie und Humor den Betrachter selber mit einzubeziehen, um ihn seiner Distanz zu sichern.“ Wenn Plessner über die Aktualität der Philosophischen Anthropologie spricht, erwähnt er die „exzentrische Position des Menschen“, die „kriminelle Ungleichgewichtigkeit“ und die sprachlos machende Realität des Bösen: „Er kann Verbrecher werden, und ja nur der Mensch ist unter allen Wesen als einziger der Mörder, kein Tier mordet. […] Nur der Mensch mordet, und er mordet eventuell auch aus Lust.“

Wissenschaftsgeschichtlich bietet dieser Band wertvolle Einblicke in die Denkfiguren und Methoden der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Doch Plessners Vorlesung ist adressiert an die Göttinger Hörerschaft von 1961 und nicht von 2019. Der immense Wissenszuwachs, insbesondere in den Natur-, aber auch in den Sozialwissenschaften hat auch die Philosophie in den letzten 60 Jahren deutlich verändert. Anschlussfähig an das wissenschaftliche Gespräch von heute – etwa in Forschungsbereichen der Literatur- und Kulturwissenschaften – könnten einzelne Aspekte der hier vorgelegten Reflexionen durchaus noch sein, etwa die Beobachtungen des Philosophen über Humor und Ironie.

Titelbild

Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie. Göttinger Vorlesung vom Sommersemester 1961.
Herausgegeben von Julia Gruevska, Hans-Ulrich Lessing und Kevin Liggieri.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298688

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