In den Träumen lesen

Peter Høegs Roman „Durch deine Augen“ verliert sich in pseudo-philosophischer Schaumschlägerei

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, die Gedanken anderer Menschen lesen und sichtbar machen zu können und durch deren Augen zu sehen. Genau darum und um den schmalen Grat zwischen subjektiver Erinnerung und faktischer Realität geht es im neuen Roman Durch deine Augen des dänischen Schriftstellers Peter Høeg. Mit dem später von Bille August kongenial verfilmten und insgesamt über sechs Millionen Mal verkauften Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee wurde der inzwischen 62-jährige Autor Anfang der 1990er Jahre weltbekannt. Der öffentlichkeitsscheue Høeg, der ohne Telefon und Fernsehgerät in einem kleinen jütländischen Dorf lebt, hatte sich danach noch mit Die Frau und der Affe (1996) und seinem geheimnisvollen Roman Das stille Mädchen (2007) künstlerisch zu Wort gemeldet.

Sein Roman Die Kinder der Elefantenhüter (2010) präsentierte schon eine ziemlich verwegene Mixtur aus Abenteuerroman, Gesellschaftskritik, plumpen Lebensweisheiten und pseudo-romantischen Ausflügen in die Märchenwelt. Im Susan-Effekt (2015) toppte Høeg diese gewagte Mischung noch einmal und ließ nichts an Abenteuerlichkeiten, Absurditäten und Verschwörungstheorien aus. Mit zunehmendem Alter scheint Høegs Faible für esoterische Grenzerkundungen und Figuren in extremen psychischen Notlagen immer stärker zu werden.

Im Mittelpunkt von Durch deine Augen stehen der Ich-Erzähler Peter, sein Pflegebruder Simon, der gerade einen Suizidversuch hinter sich hat, und die Wissenschaftlerin Lisa, die am „Institut für neuropsychologische Bildgebung“ arbeitet. Mit hochtechnisierten Hirn- und Körperscans und unter Zuhilfenahme von Psychopharmaka sollen die Geheimnisse des menschlichen Innenlebens erforscht werden – eine Art wissenschaftlich fundierte Gedanken- und Erinnerungsforschung, an deren Ziel stehen soll, durch die Augen anderer Menschen sehen zu können. So weit, so geheimnisvoll.

In der Kindheit war das Trio (inzwischen sind alle um die 40) befreundet.  Als „Club der schlaflosen Kinder“ konnten sich Peter, Simon und Lisa in die Träume anderer Menschen versetzen. In der Erzählgegenwart sind alle drei irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten – nicht nur Simon, dessen Suizidversuch im Laufe der Handlung beinahe in Vergessenheit gerät, sondern auch Lisa. Sie, die einst ihre Eltern bei einem Unfall verloren hat, kann sich nicht mehr an die gemeinsame Kindheit erinnern.

Peter wohnt immer häufiger Therapiesitzungen von Lisa bei, hört sich die unterschiedlichsten Schicksale an – Soldaten nach Kriegseinsätzen, Unfallopfer, Überlebende der NS-Zeit und Opfer sexuellen Missbrauchs. Høeg macht ihn (bewusst oder unbewusst?) zum Voyeur der kranken Seelen, und peu à peu wächst er mehr oder minder unfreiwillig in die Rolle des Therapeuten der Therapeutin.

Høegs intendiertes Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Wissenschaft und Poesie wackelt bedenklich. Weder gedanklich noch sprachlich hält er das Gleichgewicht. Die von ihm künstlerisch abgearbeiteten Themen sind ihm selbst so nahe und wühlen ihn innerlich so stark auf, dass er zwischenzeitlich als Erzähler vollends die Balance verliert und seinen so kopflastigen Figuren Sätze in den Mund legt, die in ihrer Banalität beinahe zu Tränen rühren, aber so gar nicht zu Peter und Lisa passen.

Beide sitzen in Gedanken versunken an einem einsamen Ostseestrand, als es unvermittelt heißt: „Die Vergangenheit gibt es nicht.“ Als sie sich über die sexuelle Gewalt austauschen, bekundet Peter: „In jedem Mann steckt ein potentieller Sexualstraftäter.“ Da atmet man mehrmals tief durch, erinnert sich daran, dass Kunst fast alles darf, aber die Fassungslosigkeit, die sich beim Leser nach Lisas Antwort einstellt, ist kaum mehr in Worte zu fassen: „In jeder Frau gibt es etwas, das sich davon angezogen fühlen könnte, ein potentielles Opfer zu werden.“ Da hat das gegenseitige Therapieren bei Peter und Lisa wohl nicht funktioniert.

Der Blick in die Abgründe menschlicher Seelen ist fraglos ein reizvolles künstlerisches Sujet, aber er kann nur mit einem adäquaten Stil und der nötigen erzählerischen Distanz gelingen. Bei Peter Høeg finden wir leider (wieder einmal) nur wortreiche Schwarz-Weiß-Malerei, die sich in pseudo-philosophischer Schaumschlägerei verliert.

Titelbild

Peter Høeg: Durch deine Augen. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261686

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