Die Revolution von unten beobachtet

In „14. Juli“ versucht Éric Vuillard der revolutionären Menschenmenge von 1789 ein Gesicht zu geben

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, sagt man. Diese Ansicht ist geschichtswissenschaftlich umstritten und lässt sich seit Reinhard Kossellecks Aufsatz Erfahrungswandel und Methodenwechsel (1985) „langfristig“ auch ins Gegenteil drehen. Besiegte können ebenfalls als Sieger aus der Geschichtsschreibung hervorgehen, wofür die Französische Revolution ein Exempel abgibt. Danton, Robespierre oder Saint-Just haben die Revolution nicht überlebt, sie stehen gleichwohl repräsentativ für dieses historische Schlüsselereignis. Den Anstoß dazu gab allerdings ein Aufstand von namenlosen Bürgern, die am 14. Juli 1789 in Paris die schwer befestigte Bastille stürmte. Danton, Robespierre und Saint-Just haben dabei keine Rolle gespielt. Wer aber siegt dann bei turbulenten, von anonymen Menschenmassen angetriebenen Ereignissen?

Wo die Geschichtswissenschaft an ihre Grenzen stößt, beginnt das Feld der literarischen Fiktion. Vuillard hat in den letzten Jahren eine literarische Form entwickelt, mit der er Kristallisationspunkte der Geschichte dokumentarisch-fiktional zu beschreiben und präziser auszuleuchten versucht. Dabei verzichtet er darauf, die großen Themen auch opulent aufzumachen, vielmehr setzt er auf eine strikte Reduktion und fokussiert ganz auf ein einzelnes Geschehen. In Die Tagesordnung (2017) beispielsweise dokumentiert er den Aufstieg Hitlers am Beispiel einer knapp und präzise beschriebenen Konferenz von deutschen Industriekapitänen, die dem Führer ihre finanzielle Potenz anbieten.

Diese Reduktion begegnet uns auch in 14. Juli. Vuillard erzählt die große Revolution anhand eines einzigen Tages. Bei der Erstürmung der Bastille spielte das Volk, die anonyme Masse die Hauptrolle, sie brachte ihre eigenen, meist namenlosen Helden hervor, von denen einige sogar als Sieger aus der Geschichte hervorgingen, wie Vuillard zu verstehen gibt. Beispielsweise Jacques-Alexis Thuriot de la Rozière, der am 14. Juli eine kleine Nebenrolle spielte, indem er eine der zahlreichen Abordnungen anführte, die in der Bastille verhandelten. Thuriot nahm zwei Jahre später einen Sitz in der Nationalversammlung ein, er wurde in den Wohlfahrtsausschuss aufgenommen und spielte danach, wie Vuillard bemerkt, „eine glänzende Rolle als Richter“, so dass ihn Napoleon „am 15. Mai 1813 zum Chevalier de l‘Empire ernannte“. So ging Thuriot de la Rozière als melodramatische Anekdote in Michelets Geschichte der französischen Revolution ein.

Als er um die Mittagszeit des 14. Juli nach erfolglosen Verhandlungen durch die argwöhnische Menge schritt, wurde er ausgepfiffen, angebrüllt, gezwickt und bedrängt. Éric Vuillard beschreibt es mit diesen Worten: „Thuriot geht im Krebsgang, schützt sein Gesicht mit den Händen, sein Gehrock ist zerrissen […] er begreift nicht, was die Menge will, er hört nicht, was man ihm zubrüllt, denn er hat bereits seine eigenen Vorstellungen, Interessen und Ansichten“. So wird dieser gepflegte Herr zum Symbol für einen Graben, der die Revolutionäre teilt. Thuriot repräsentiert eine Fraktion, die die Revolution bald einmal okkupieren wird. Wer aber sind jene Gestalten, die ihn bedrängten und beschimpften und die nach dem 14. Juli wieder im Dunkel der Geschichte verschwanden. Für sie interessiert sich Éric Vuillard. In seinem Buch nennt er sie beim Namen, wofür er sich auf Listen stützen kann, in denen die Behörden ein Jahr später gegen tausend Akteure aufführten – die «Vainqueurs de la Bastille», die bei der Erstürmung der Bastille mit dabei waren. Ob sie eine Rolle spielten und welche genau, das geht daraus allerdings nicht hervor.

Für Vuillard spielt es auch keine Rolle. Indem er ihre Namen nennt, erscheinen sie für einen kurzen Moment im Lichte der Geschichte:

Wir haben Lelièvre und Leloup, Leblanc und Lenoir. Wir haben Ride und Ridelle. Tiné und Tinard. Es gibt einen Tétu. Es gibt einen Tondu. Und dann bröckeln die Namen, sie nutzen sich gegenseitig ab, so gibt es Pahn und Prou, Wouasse und Onasse. Und dann den so sanft benamten Pecheloche, den Pasquier, genannt Branchon, und den Parmentier, der in Regret, und Pierrat, der in Liesse lebt.

Dieser Singsang verleiht dem 14. Juli eine ganz eigene Poesie. Die Kenntnis der Namen erlaubt es dem Autor, damit literarisch frei umzuspringen und einzelne Aktionen einzelnen von ihnen zuzuweisen. So wird der genannte Thuriot vielleicht von einem gewissen Pichon, einem Kesselschmid, arg bedrängt, oder vom „guten Perdue, genannt Parfait, von dem man nur Namen und Spitznamen kennt“. Als Teil einer rohen Menge geben sie dabei kein schönes Bild ab. Sie sind derb, pöbelhaft, doch sie sind auch energisch von der Hoffnung auf eine neue Ordnung erfüllt. Mit dem scharfen Blick fürs unscheinbare Detail verleiht der Autor dem Aufstand ein Gesicht und dem einen oder anderen Akteur eine flüchtige historische Nebenrolle.

Nebst den Namenslisten hat Vuillard weitere Quellen konsultieren können. So trug ein „Verhör des Kochs François Desnot“ dazu bei, dass wir mehr wissen über den Tod des Kommandanten der Bastille nach dessen Kapitulation. Und ein Porträtbild zeigt den früh gealterten Revolutionär Maillard, der arm und krank einen Rechtfertigungsbrief an einen Fabre dʼÉglantine schrieb: „ein bisschen feurig, hochtrabend vielleicht“, aber seine Prosa „stinkt nach Wahrheit“, wie Vuillard ergänzt.

Der Versuch, ein ganz und gar turbulentes Ereignis aus der Anonymität der Geschichte herauszulösen, entwirft ein aufregendes Bild jenes historischen Tages. „Von nun an wird alles verworrener. Die zeitgenössischen Berichte sind voller Ungenauigkeiten und Lücken“, bemerkt Vuillard einmal. Wo alles im Nebel des Zufälligen, Gemunkelten und Beiläufigen verschwimmt, kann er mit seinen fiktionalen Mitteln etwas Klarheit schaffen. Hin und wieder trägt er dabei ein wenig melodramatisch auf im Bemühen um Anschaulichkeit, doch die Historie erhält durch seinen Bericht eine lebhafte Dynamik. Der aufwieglerische Impuls überträgt sich in der gärenden Menschenmasse von einem Akteur zum nächsten, um jeden einzelnen jeweils nur flüchtig ins Licht zu rücken. Erst die Tage danach brachten jene Führer hervor, die in die Geschichtsbücher eingingen. Zuerst aber schlug die Stunde der namenlosen Akteure, die Symbole der Macht stürmen wie die Bastille oder die Berliner Mauer.

Vuillard zielt mit seiner präzisen, knappen Schilderung des 14. Juli 1789 weder auf die ganze Wahrheit noch auf eine Erklärung der großen Zusammenhänge, die schon hundert- oder tausendfach dargelegt worden sind. Vielmehr appelliert er an ein unbekanntes Wissen, dessen Konturen er mit der Lupe im historischen Dunkel zu erkennen versucht. Dies zu leisten, ist eine Aufgabe der Literatur: „Es gilt aufzuschreiben, was man nie wissen wird.“

Am Schluss seines Buches schreibt Éric Vuillard mit Blick auf die „lächerlichen Elysée-Paläste“: „Man müsste häufiger mal seine Fenster öffnen. Ab und zu, einfach so und völlig ungeplant, alles über Bord schmeißen. Das würde Erleichterung schaffen.“ Als sein Buch 2016 im Original erschien, war noch nichts von den Gilets jaunes zu sehen.

Titelbild

Éric Vuillard: 14. Juli.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
131 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575197

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