Teil 1 und 2 zur literarischen Hochblüte im Hochmittelalter
Ein umfassender Überblick über die Literatur des hohen Mittelalters
Von Albrecht Classen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVielfach haben sich deutsche Literaturwissenschaftler darum bemüht, ihren LeserInnen eine solide, umfassende oder tiefschürfende Darstellung der Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters zu bieten. Viele davon verdienen unsere Hochachtung, aber zugleich ermangeln sie meistens einer breiteren, transeuropäischen Perspektive. Wie vermag man etwa Gottfried von Straßburg oder Mechthild von Magdeburg zu verstehen, wenn man sie nicht in den Kontext ihrer Zeit verankern kann? Wir müssen nicht immer gleich nach engen Verbindungen suchen, nach Quellenverhältnissen, Übersetzungen etc., solange wir nur Einsicht in den breiteren Diskurs gewinnen, der neben der Literatur vor allem philosophische, religiöse und historische Texte einschließt.
Um dieses Desiderat anzugehen, wenn nicht sogar auszufüllen, bietet Fritz Peter Knapp eine umfassende Darstellung der europäischen Literatur des Hochmittelalters, das für ihn etwa die Zeit von 1150 bis 1250 umfasst. Er distanziert sich deutlich von denjenigen, die einen extrem breiten Literaturbegriff benutzen und insistiert darauf, nur solche Werke zu berücksichtigen, die eine fiktional-ästhetische Dimension aufweisen. Diese Kategorie ist selbst schon so umfangreich, dass die hier vorliegende Arbeit auf drei Bände verteilt ist. Schlösse man auch sachkundliche Texte ein, würde das Projekt uferlos und damit sinnlos. Knapp verdient unsere hohe Anerkennung dafür, tatsächlich eine europäische Perspektive zu entwickeln, die es dem Leser ermöglicht, sehr schnell über den eigenen sprichwörtlichen Tellerrand zu schauen und wahrzunehmen, welche großartigen Leistungen literarischer Art während des hohen Mittelalters im gesamten europäischen Raum entstanden.
Der erste Band beschränkt sich auf das gelehrte und religiöse Schrifttum und das Epos. Im zweiten Band sind der Roman, die Kleinepik und die Lehrdichtung dran., im dritten, wird die geistliche Lyrik, Liebeslyrik, satirische, didaktische und politische Lyrik, das Schauspiel und, etwas separat und unorganisch, die altnordische Literaturvorgestellt, wie Ruth Isser in ihrer Rezension „Teil 3 zur literarischen Hochblüte im Hochmittelalter“ zeigt. Jeder Großabschnitt beginnt mit einer knappen Liste der relevanten Forschungsliteratur. Die Darstellung selbst ist praktisch frei von Anmerkungen, denn Knapp will die großen Entwicklungslinien verfolgen und die “Meisterwerke”, hier durch * markiert, behandeln, ohne sich vom ‚Geplänkel‘ der wissenschaftlichen Debatte ablenken zu lassen. Dies bedeutet, dass er auf weite Strecken natürlich Inhaltszusammenfassungen bietet, doch bereichert er diese mit kurzen Kommentaren über die bisherige Forschung, was aber letztlich doch nicht ganz hinreichend ist und manchmal auf eigentümliche subjektive Urteile hinausläuft.
Man kann Knapps umfassende Belesenheit nur bewundern und seine Bereitschaft, gerade die traditionellen ‘nationalen’ oder sprachlichen Grenzen zu überschreiten, begrüßen. Hier erblicke ich die Grundlagen für eine innovative Mediävistik, wie sie bisher oftmals gerade an amerikanischen Universitäten betrieben wird, wo man die Not zur Tugend gemacht hat und wegen des fast schon grundsätzlichen Sprachmangels seitens der Studenten immer mehr auf englische Übersetzungen zurückgreift. Dadurch stehen aber viele verschiedene Literaturtraditionen zur Verfügung, was dazu führt, dass in einem Seminar sowohl Gottfrieds von Straßburg Tristan als auch Dantes Divina Commedia berücksichtigt werden kann. Marie de France bietet sich genauso gut an wie Hartmanns von Aue “Der arme Heinrich”.
Bei Knapp kann man leicht durch das Autoren- und Werkregister Zugriff auf die jeweiligen Dichtungen gewinnen, wobei stets deutlich wird, dass hier das Mittelalter europäisch beurteilt wird. Der Index hätte aber um einiges differenziert werden sollen, denn wenn man gezielt nach seinen Kommentaren etwa zu Rudolf von Ems sucht, wird keines seiner Werke einzeln aufgeführt.
Was sind wirklich ‘Meisterwerke’? In den meisten Fällen wird man Knapp wohl zustimmen können, aber er hat gewisse Vorlieben und abträgliche Meinungen. Wie schon häufiger hackt er unbarmherzig auf Jans Enikel (Jans von Wien) ein, an dessen Weltchronik er nichts Gutes lässt, bezeichnet er sie ja als eine Stümperei. Warum hat er sie dann aber überhaupt berücksichtigt? Die Briefe zwischen Abelard und Heloise kommen hier genauso zur Sprache wie der Traktat von Andreas Capellanus. Knapp kennt sich gut aus, aber dann überfliegt er doch viele wichtige Aspekte und berücksichtigt praktisch gar nicht die höchst komplexe Forschungsdiskussion zu beiden Werken. Dies ist natürlich ganz charakteristisch für Literaturgeschichten, aber da Knapp selbst oftmals recht heftig gegen unbenannte Kollegen austeilt, muss er es sich gefallen lassen, nach den gleichen Kriterien beurteilt zu werden.
Es soll hier nicht beckmesserisch geurteilt werden, aber wenn schon der hohe Anspruch gehegt wird, die europäische Literatur durch genaue Analysen in einem umfassenden Werk zu behandeln, dann muss auch im Detail alles stimmen. Der Abschnitt zu Marie de France erweist sich als tiefschürfend und aussagekräftig, doch wieso wirft Knapp überhaupt die Frage auf, ob alle lais wirklich von ihr stammen? Wie ist es zu verstehen, dass einige davon “Meisterwerke” seien, andere nichts als “Belanglosigkeiten”, was nirgends belegt wird. Der Abschnitt zum Dichter “Der Freudenleere” folgt weitgehend, wie so häufig, Knapps eigener früheren Behandlung in seinem Werk Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 , und auch hier machen sich Fehler in der reinen Textbehandlung bemerkbar (der Schlafende ist nicht ein “angeblich schuldiger Mitreisender”). Aber natürlich kann man darüber streiten, und angesichts der überwiegend glänzenden Diskussion soll dies hier nicht weiter behandelt werden.
Viel wichtiger ist die Tatsache, dass es Knapp gelungen ist, einen europäischen Ansatz zu verfolgen und das Mittelalter tatsächlich aus literarhistorischer Sicht so zu betrachten, wie es eigentlich nur vernünftig ist. Ein wenig unterbelichtet bleibt die Welt der iberischen Halbinsel, und der osteuropäische Raum existiert gar nicht; ebenso wenig wird die walisische oder irische Literatur berücksichtigt. Sollte aber nicht zum Beispiel die Njál’s Saga direkt im Verbund mit dem Nibelungenlied analysiert werden? Umso beeindruckender erweisen sich seine Bemühungen, die wichtigsten theologischen und philosophischen Texte des Hochmittelalters wie den Policraticus von John of Salisbury hier einzubeziehen, obwohl damit dem nicht literarischen Bereich Tor und Tür geöffnet wird.
Insgesamt ist diese Literaturgeschichte sehr zu begrüßen und legt wichtige Grundlagen für die Lehre und die Forschung. Nur nebenbei sei angemerkt, dass es schlicht Freude bereitet, Knapps Darstellungen zu folgen, die er stilistisch sehr gelungen zu präsentiert vermag.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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