Im Gipfelgespräch mit Ovid (& Co.)
Michael von Albrecht hat seine gesammelten Beiträge zur deutschsprachigen Antikerezeption zusammengeführt
Von Lukas Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas angehende Latinisten mehrerer Generationen den Büchern Michael von Albrechts verdanken, wird vielen von ihnen vermutlich während des Studiums nie recht bewusst gewesen sein. Manchmal offenbart es sich – wie im vorliegenden Fall – auch erst rückwirkend, wenn eine Neuerscheinung die Erinnerung unvermutet in Gang setzt. Kurz vor einem Referat stehend, sieht man sich dann wieder die zwei voluminösen Bände der Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius aus dem Bibliotheksregal ziehen, um wenig später zu bemerken, dass auch das nächste Standardwerk der Wahl, die Meister römischer Prosa, den gleichen Verfassernamen tragen. Denkt man schließlich zurück an die umfangreichen Pensen, die aus Ovids Metamorphosen zu übersetzen waren, wird von Albrechts Verdienst erst recht augenfällig: Für jeden, der sich mit dieser verwandlungsfreudigen Weltgeschichte befasst hat, ist seine günstig bei Reclam erhältliche, äußerst gut zu lesende Prosaübertragung unentbehrlich geworden (aber offiziell natürlich zu nichts anderem diente als einem nachträglichen Abgleich mit dem eigenen Versuch).
Die besagte Neuerscheinung bildet den Auftakt zur dreibändigen Reihe Antike und Neuzeit. Texte und Themen, in der von Albrecht die Rezeption der griechischen und römischen Literatur in den Werken deutschsprachiger (I), europäischer (II) und außereuropäischer (III) Autoren vom 16. bis späten 20. Jahrhundert anhand exemplarischer „Gipfelgespräche“ zwischen den Schreibenden beider Epochen darstellt. Eine monumentale Unternehmung wie diese kann zunächst nur erstaunen, zumal das erste der drei „Studienhefte“ über seinen Umfang, seinen Klappentext, ja sogar nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis noch den Eindruck vermittelt, der mittlerweile 85-Jährige hätte seinen zahlreichen Monografien eine weitere folgen lassen. Erste Andeutungen in eine andere Richtung gibt das Vorwort, wo gleich zu Beginn auf etwas verwiesen wird, das „in Vorlesungen und in Vorträgen zur Lehrerfortbildung“ entstanden sei. Gewissheit über die Art der Publikation indes bieten erst die Anmerkungsapparate der einzelnen Beiträge. Aus ihnen geht hervor, dass es sich um eine Sammlung verstreut erschienener (und jetzt teils als überarbeitet ausgewiesener) Aufsätze aus den Jahren 1961–2002 handelt.
Ist die Struktur des Bandes erst ermittelt, ist zugleich ein weiterer Anlass zum Staunen geboten, denn sie verrät, dass von Albrecht sich bereits seit der Frühphase seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der antiken Literatur auch der oft etwas vernachlässigten Erforschung ihres Nachwirkens gewidmet hat. Beispielhaft hierfür ist das – wie überhaupt sämtliche Beiträge – angenehm und ohne vertiefte Kenntnis von Fachterminologie lesbare Kapitel „Die Verwandlung bei E.T.A. Hoffmann und bei Ovid“: Zahlreiche metamorphe Momente in Hoffmanns Erzählungen und Märchen führen zu der Frage, welche darstellungstechnische Verwandtschaft die beiden Autoren besitzen und ob sich darüber hinaus die Hoffmannʼsche „Ovidnähe oder auch die Ovidferne“ mithilfe eines Blicks auf den gedanklichen Hintergrund seiner Werke nachzeichnen lässt. Eine besonders reizvolle Parallele entdeckt von Albrecht in Der goldne Topf: Die Verwandlung des Archivarius Lindhorst, aus dessen Gewand sich vor den Augen des Studenten Anselmus erst weißgraue Geierflügel entblättern, mit denen er sich gleich darauf in die Lüfte schwingt, wird als Wiederbelebung einer Technik des „schrittweisen ,Modulierens‘“ identifiziert, wie sie Ovid sehr häufig und in diesem Fall sogar mit großer sprachlicher Ähnlichkeit vollführt hat. Entsprechend heißt es an zwei verschiedenen Stellen der Metamorphosen: „Et primo similis volucri, mox vera volucris“, („Erst einem Vogel ähnlich, bald wirklich ein Vogel“, 13,607) und „Reicere ex umeris molibar, at illa / pluma erat“ („Ich wollte [das Gewand] von den Schultern werfen, aber es war Gefieder“, 2,582f.). Für von Albrecht liegt in der Fähigkeit des Archivarius, seine Gestalt mehrfach nach Belieben zu wandeln (als Feuergeist steckt er sogar im Punschglas, das der Erzähler an die Lippen setzt!) auch eine der entscheidenden Neuerungen Hoffmans. Denn die Metamorphose wird nicht mehr als ein einmaliger, objektiver Naturvorgang, der sich auf göttlichen Wink hin abspielen muss, begriffen, sondern vermag als Element des Irrationalen und des Unendlichen immer wieder aufs Neue unsere beschränkte Wahrnehmung der Welt zu erschüttern.
Die insgesamt neun Kapitel sind weitgehend chronologisch gemäß der Wirkungszeit des jeweiligen neuzeitlichen Autors angeordnet und setzen Akzente auf die Literatur des 19. Jahrhunderts (neben Hoffmann befassen sie sich mit Friedrich Hölderlin, Franz Grillparzer und Conrad Ferdinand Meyer) und der Gegenwart (für die Christoph Ransmayr und Durs Grünbein behandelt werden). Aufseiten der Römer ist ganz klar Ovid der am häufigsten behandelte Referenzautor, aber auch Klassiker wie Horaz oder Juvenal kommen zu ihrem Recht. Eine Ausnahme in der Struktur bildet das komparatistisch angelegte Kapitel „Poesie und Rhetorik“, das auf philologisch beeindruckende Weise die Spuren antik-rhetorischer Strategien in den Kirchenliedern Paul Gerhardts, William Shakespeares Julius Caesar, Voltaires philosophischem Gedicht Mondaine und Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan freilegt.
Man hätte wohl, ohne das Buch aufzuschlagen, darauf wetten können, dass ein führender Ovid-Spezialist auch Stellung zu dessen literarischer Anverwandlung in Ransmayrs vielgelobtem Roman Die letzte Welt nehmen wird. Und tatsächlich: Völlig frei von für gewöhnlich veranschlagten „postmodernen“ oder auch anderen theorieaffinen Etikettierungen dieses Textes (Stichwort: „Tod des Autors“) legt er ein erhellendes close reading vor, das sowohl die literarische Technik, also etwa die Gattungsmerkmale oder die Stoffauswahl, als auch die eigenwillige Verarbeitung einzelner ovidischer Themen und Gestalten sowie den Einsatz bestimmter Farben und Stilfiguren berücksichtigt. Etwas zu breiter Raum ist allein dem Abschnitt „Auf der Suche nach dem Autor und dem Werk: Literarische Reflexion“ zugekommen, wenngleich das Resümee darin überzeugend ist: Während der Protagonist Cotta sein ursprüngliches Ziel, den exilierten Dichter und mit ihm das Werk Metamorphoses am Schwarzen Meer wiederzufinden, nur verfehlen kann, hat ihm die Suche endlich doch „zur Bestimmung des eigenen Standorts verholfen“. Wie für fast jeden einzelnen der kenntnisreich und zugleich lebendig geschriebenen Aufsätze gilt daher auch für diesen die bereits im Vorwort annoncierte, zur Quintessenz von Albrechts Verständnis einer „produktiven Rezeption“ der Antike gewordene Maxime „Erkenne dich selbst in der lateinischen Literatur“.
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