Orientierungsläufe

Jochen Schmidt hat zwei sehr unterschiedliche Bücher über das Davonlaufen geschrieben

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Otto heißt der Protagonist in Jochen Schmidts neuem Roman Ein Auftrag für Otto Kwant. Er ist ein etwas verbummelter Architekturstudent, der sich sein Studium als Korrekturleser bei einem Kleinverlag finanziert. „Zu den größten Umbrüchen in seinem Leben hatte der Übergang von QUADRO zu DUPLO und anschließend zu LEGO gehört.“ Mit dieser Information ist gleich zu Beginn der ironische Unterton angeschlagen, der bereits bei dem Allerweltsvornamen anklingt und der den gesamten Text durchzieht. Dabei lässt sich Schmidt keine Gelegenheit zur Pointe entgehen. So stolpert der Student durch die Handlung wie weiland Woody Allen durch Manhattan.

Als Abschlussarbeit soll er einen Spielplatz für Flüchtlingskinder entwerfen. Bei seinen Recherchen gelangt der angehende Architekt indes zu der Erkenntnis, dass ein  Kinderspielplatz „kein marginaler Ort im Stadtraum, sondern sein Herzstück“ ist. Das verlangt natürlich eine tief schürfende Erörterung des urbanen Lebens, die bei landläufigen Architekten eher selten anzutreffen ist. Otto hingegen nimmt sich viel Zeit, um über existentielle Probleme sowie über die Grundfragen seiner Wissenschaft nachzudenken. Trifft es zu, dass Räume töten, Gebäude die Welt verändern können? Hat ein Kollege recht mit der kühnen Behauptung: „Wenn man täglich Gropiusʼ Türdrücker berührt, trägt das mehr zur Charakterbildung bei als der wöchentliche Gottesdienst.“ Doch was zunächst wie eine Humoreske aus der Berufswelt daherkommt, wird immer mehr zu einer abgründigen Farce, aus der es kein Entrinnen gibt und für die Franz Kafka und George Orwell Paten gestanden sind.

Aber gemach. Zunächst gerät Otto durch Zufall in ein Architekturbüro mit dem hypertrophen Namen „Himmels)s(turm“, dessen neuestes Projekt der Entwurf für die Deutsche Botschaft in Mangana ist, der Hauptstadt von Urfustan, einer ehemaligen Sowjetrepublik, die 1991 – Achtung Humor –, „während Boris Jelzin mal wieder einen Rausch ausschlief, ihre Unabhängigkeit erklärt hatte.“ In dieses Land soll Otto seinen Chef nun zur Preisverleihung für den Wettbewerb begleiten, den „Himmels)s(turm bereits gewonnen hat, obwohl er offiziell“ noch läuft. Der Name des Landes ist erfunden. Das ist aber auch das einzige. Alles andere jedoch entstammt leider jener tristen Wirklichkeit, die sich vom persischen Golf über Zentralasien bis nach Nord-Korea erstreckt. Auf dieser Reise erlebt Otto, wenn auch dramaturgisch gehäuft, alles, was dem Reisenden in diesen Gegenden zustoßen kann. Ein Höhepunkt ist sicher das Treffen mit dem Autokraten des Landes, der, altrömischem Brauch folgend, als „Architekt des Vaterlandes“ apostrophiert und um den ein grotesker Personenkult getrieben wird. Die nach seinen Ideen gebauten Gebäude, krude Stilmischungen, werden bereits unter Denkmalschutz gestellt, bevor sie überhaupt gebaut worden sind. Weil Ottos Chef aus mysteriösen Gründen ausgefallen ist, muss er dessen Stelle einnehmen. Allerdings scheint der Herrscher an dem jungen Kollegen einen Narren gefressen zu haben. Er überrascht ihn mit dem Auftrag, für das Land einen „Palast der Demokratie“ zu entwerfen, was diesen in einige Verlegenheit bringt. „Ehrlich gesagt, ist Urfustan international nicht gerade als Wiege der Demokratie bekannt.“ Als der Tyrann nicht locker lässt, weiß Otto, was die Stunde geschlagen hat, und beschließt, der Umklammerung durch den Gewaltherrscher zu entkommen. Diese Flucht wird zur Reise durch Absurdistan. Er gerät in ein staatliches Gefängnis, „Bewusstseinsschule“ genannt, wo Strafen „Denkpausen“ heißen, sodann in die Hände von Terroristen, die sich als Widerstandskämpfer gerieren, in ein Dorf Sibirien-Deutscher, das einer Zombie-Komödie gleicht, und schließlich, als letzte Steigerung, in einen Bus von bundesdeutschen Rentnern, die mit dem Touristikunternehmen „Curiosus-Reisen“ unterwegs sind, um dumpfe Vorurteile zu pflegen. Die Flucht endet, dies sei immerhin verraten, düster wie Kafkas Verwandlung oder Orwells 1984. Denn hinter Schmidts Witzen über den Zustand unserer Welt, wie er sich etwa ausdrückt in Marketingstrategien, im internationalen Tourismus, im schändlichen Umgang mit Diktatoren, steckt pure Verzweiflung. Der immer wieder aufflammende Diskurs mit den Größen der Architektur lässt zumindest die Möglichkeit aufscheinen, Räume, und seien sie noch so klein, souverän und zum Wohle aller gestalten zu können.

Was Otto Quant misslingt, nämlich das Davonlaufen vor den Zumutungen einer absurden Welt, gelingt dem Autor selber in seiner Gebrauchsanweisung fürs Laufen hervorragend. Denn, so lautet die Weisheit einer seiner vielen Lesefrüchte zum Thema „Laufen“: „Wenn man läuft, braucht man die Welt nicht mehr.“ Und weiter: „Es geht beim Laufen nicht ums Siegen, nicht um Grenzerfahrung, schon gar nicht um die Gesundheit, ums Abnehmen oder darum, sich für den Job fit zu machen oder ein Lebensziel zu erreichen.“ Laufen ist sinnlos, aber nicht sinnfrei. Warum das so ist, das wird in dem Buch, in dem Autor, Akteur und Ich-Erzähler ausnahmsweise einmal zusammenfallen, auf amüsante Weise deutlich. Das schmale Buch ist ein großer Essay über die Freuden und Leiden des Laufens, zugleich auch eine Anekdotensammlung aus der Welt der Laufbücher, ein durchaus heiterer Lebensrückblick, ein schillernder Erlebnisbericht und ein anregendes Motivationscoaching. Am Ende weiß man allerdings, dass es beim Laufen keine gültigen Tipps und Regulatorien gibt, sondern dass man jede Erfahrung selber machen muss.

Wenn auch für Nichtläufer das Auftreten der meist kurz- und buntbehosten Läufergemeinde an sich schon komisch wirken mag, so lockt Schmidts Fähigkeit zur Ironie aus dem bunten Treiben noch so manchen Witz hervor. Dabei scheut er nicht davor zurück, einerseits seine Sozialisation zu DDR-Zeiten aufs Korn zu nehmen, andererseits aber auch die Paradoxien unserer Warenwelt zu beleuchten. Laufen sucht und vermittelt Freiheit. Die entsteht im Kopf und braucht Räume. Was die Freizeitindustrie hinsichtlich von Freiräumen verspricht, entlarvt Schmidt augenzwinkernd als Werbetrick. Für ihn ist das zweckfreie Joggen nicht weniger als eine „anthropologische Revolution“: „Das moderne Leben hat die meisten von uns vom Zwang der körperlichen Arbeit befreit; beim Joggen feiern wir das, indem wir unseren Körper wieder wahrnehmen.“ Historisch schärfte wohl das organisierte Wettkampfdenken der Griechen eine pazifizierende Grundeinstellung, indem man die Niederlage ohne Ehrverlust zu akzeptieren lernte. Schmidt erinnert an große Läufer und historische Laufereignisse. Eigentlich unverständlich, dass er mit all seinem Lesefleiß seinen Schriftstellerkollegen und Mit-Läufer Günter Herburger offenbar übersehen oder gar ignoriert hat. Für sich selbst hat er auf seinen vielen Reisen eine Art „urbanen Orientierungslauf“ entdeckt, bei dem er größere Entfernungen zurücklegen und dabei interessante Entdeckungen machen kann, an denen er uns teilhaben lässt. Wenn auch viele über das Laufen und die Läufer den Kopf schütteln mögen: das Buch ist eine Aufforderung zu mehr Toleranz in der Gesellschaft.

Titelbild

Jochen Schmidt: Ein Auftrag für Otto Kwant. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
347 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783406733765

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jochen Schmidt: Gebrauchsanweisung fürs Laufen.
Piper Verlag, München 2019.
240 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783492277211

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