Böses aus dem Schwarzwald

Jochen Veit hat mit „Mein Bruder, mein Herz“ einen wunderbaren, verstörenden Debütroman vorgelegt

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mittelpunkt von Mein Bruder, mein Herz steht ein Geheimnis, das Verschwinden der Eltern, und ein seltsames Brüderpaar, das versucht, Jahre nach diesem Ereignis zueinander zu finden. Jochen Veits Debütroman beginnt dabei recht klischeehaft: Stephan reist aus der Großstadt nach langen Jahren der Abwesenheit zurück in das abgelegene Schwarzwalddorf, aus dem er und sein dreizehn Jahre jüngerer Bruder Benno stammen. Dieser ist mit den Eltern dortgeblieben, als Stephan zum Studieren in die Stadt ging, und auch später, nach dem mysteriösen Verschwinden der Eltern, zog es ihn nicht weg aus seiner Heimat. Zwar wird es nicht ausgesprochen, doch scheint es Konsens zu sein, dass die Eltern ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben; zumindest legt es sich Stephan so zurecht, der mit der bedrückenden, dunklen Landschaft nichts anfangen kann.

In Rückblenden erfährt man, dass Benno ein kränkliches Kind gewesen ist, mehrfach dem Tod von der Schippe gesprungen, und dass dieser sein, so zumindest Stephans Deutung, in Ansätzen autistisches Wesen einer unseligen Mischung aus der düsteren Umgebung und jenem Kindheitstrauma verdankt. Zwar reflektiert der Ich-Erzähler Stephan äußerst kritisch, wie es zum Bruch kam, und sucht stets den Fehler bei sich in seiner Flucht vor der trügerischen Schwarzwaldidylle. Um sich selbst zu retten, musste er den um viele Jahre jüngeren Bruder zurücklassen und hat damit, so seine heutige Sicht, dessen Leben für immer ruiniert.

Seltsamerweise aber scheint dieser Benno gar nicht so depressiv und in sich gekehrt zu sein, wie Stephan dies erinnert. Tatsächlich geht es ihm in dem großen Haus ganz gut, er scheint in die Dorfgemeinschaft eingebunden und sogar eine Freundin zu haben. Dies mag in Stephans Weltbild nicht hineinpassen, und so hinterfragt er erneut das Verschwinden der Eltern: Was, wenn Benno doch etwas damit zu tun hatte? Bis zu diesem Punkt denken wohl die meisten Leser, sie wüssten, wohin sich Veits Roman entwickeln wird: Der alte Stoff vom Zwist der ungleichen Brüder, Benno, der an Stephan Rache nehmen will, nachdem er mutmaßlich schon die Eltern beseitigt hat. Ein paranoider, mordlüsterner Waldbewohner und ein blutiger Showdown. Doch nichts dergleichen passiert. Vielmehr werden wir Zeuge einer mehr oder weniger bewussten Selbstauslöschung Stephans, und am Ende steht ein atemberaubendes, überraschendes Finale mit einer, soviel muss verraten werden, unerwarteten Wendung – wenn man denn gewillt ist, das komplexe Geflecht, das Veits Roman in Wahrheit ist, zu entknoten.

Jochen Veit orientiert sich in seinem wunderbaren Roman nicht zuletzt an den düsteren Landschaftsporträts des frühen Thomas Bernhard; der Mensch, der inmitten der überwältigenden, bösartigen Natur keinen Ausweg mehr finden kann und in eine depressive Starre verfällt, die notwendigerweise nur im Selbstmord enden kann. Doch gleichzeitig versteht er es, das Mysterium um die beiden ungleichen Brüder in den Mittelpunkt zu rücken, einen psychologischen Thriller zu schreiben, der hier und da an Helmut Kraussers meisterhaften Roman Thanatos erinnert – welcher ja in einer ähnlichen Gegend spielt. Nicht die schlechteste Referenz.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jochen Veit: Mein Bruder, mein Herz.
Arche Verlag, Hamburg 2019.
187 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783716027776

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