Ein außergewöhnlicher Heimatroman

Florian Arnold erzählt in „Pirina“ von einer sehr besonderen Liebesgeschichte

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Volksmund bezeichnet das Hochzeitsfest als den schönsten Tag im Leben eines Paares. Für nicht wenige beginnt, täuschend lichtreich, die Einsamkeit zu zweit. Manches Märchenhafte wird schnell zu einer Stätte stiller Traurigkeit. Vom Zauber des Anfangs wie von der Illusion des Glücks der bürgerlichen Zweisamkeit sind die beiden Verschollenen, von denen uns Florian Arnold, ein vielfältig begabter Künstler und Literat, in seinem Roman Pirina erzählt, sehr weit  entfernt. Pirina und der namenlose Erzähler, versehrt, verwaist, der Welt entfremdet, begegnen sich und entdecken einander, zaghaft und staunend. Ein Haus werden sie nicht mehr bauen.

Arnolds Roman, kunstvoll gefügt, ratlos machend und manchmal auch verstörend, berichtet von einer Spurensuche ganz eigener Art. Zu anderen Zeiten wäre diese Liebesgeschichte bleischwer als Fügung des Schicksals bezeichnet worden, mit zugehöriger Wucht dargeboten, mit melodramatischer Musik unterlegt. Doch Arnold inszeniert nicht, sondern er zeichnet – und fügt tatsächlich auch Zeichnungen ein, die für sich betrachtet kleine Kunststücke sind, sehenswerte, nachdenklich stimmende Beigaben, einige düster und dunkel, andere opak und undurchsichtig.

Lesend betreten wir ein verwinkeltes Weltgefüge, eine Beziehungsgeschichte, deren Horizont sehr viel weiter reicht, als es die Begriffe „Flucht“ und „Vertreibung“ sagen mögen. Der Erzähler und Pirina hören, erblicken und erkennen einander. Von Plänen oder Fantasien einer gemeinsamen Zukunft ist nicht die Rede. Am Anfang ihrer Geschichte stehen das „geflüsterte Wort“ und Erinnerungen an die ständig bedrohte Heimat. Der Erzähler hört Pirinas Stimme, „unendlich leise Laute“. Sie singt: „Das Lied war so voller Traurigkeit, daß es ihm das Herz zerriß. Es war kein friedfertiges Lied, keines dieser Lieder über Liebe und Trauer, wie er sie kannte und verstand. Ihr Lied konnte er nicht verstehen und doch schnitt es ihm die Seele entzwei, und als sie geendet hatte, war er, der Lauscher, von tiefer Berührung erfüllt.“ Eine poetische, doch heikle Gratwanderung indessen zeigt Arnolds Sprache an, die zuweilen auch die Form einer sentimentalen Metaphernblüte annimmt. Schlichtere Worte sind zuweilen so viel schöner. Doch zerrissene Herzen, zerschnittene Seelen, tiefe Berührungen? Nüchtern gesagt: Der Hörende vernimmt eine Melodie, die ihn nicht loslässt, wehmütig zwar, aber doch entspringen diese Klänge nicht einer konventionellen Oper.

Pirina und der Erzähler glauben nicht an die Liebe, was immer das sein mag. Sie ist – natürlich – „wunderschön“, er ein Skeptiker, der meint, „nichtige Versprechungen“ erkennen zu können. Pirina, umworben, weist – einfach großartig – so viele Männer ab: „Einer verbarg seine Seele, die nicht reif genug war für die Welt, ein anderer das Fehlen der Seele, und die meisten verbargen die Leere, die sich in ihnen gebildet hatte.“ Arnold schildert klarsichtig den Karneval, das triebbestimmte, eitle, nervöse Spiel des Begehrens, kurzum: Männer könnte Pirina schnell kennenlernen, einen Seelenverwandten aber nicht. Anders gesagt: Pirina fällt auf, wird von vielen gesehen, aber nicht erkannt. Sie gefällt, optisch, von ferne, aber die Männer, die ihr nahekommen, sind außerstande, in ihre Nähe zu treten, bei ihr zu sein und zu bleiben: „Sie glaubte an die Sonne, an die Nacht, an die Macht der Träume, an das Ersticken unter Wasser, an das alte Licht im Herbst, wenn alles flackernd erscheint, als zerspringe der Glühfaden der Sonne, sie glaubte an Zuneigung und Treue, an Hilfsbereitschaft und Niedertracht, doch sie hielt die kitschigen Darstellungen großer Lieben für die Produkte einer fremden Welt, und diese berührte ihre Welt an keiner Stelle.“ Pirina, die Realistin, hegt eine geheime Hoffnung: „Hinter den Augenlidern sah sie einen, den sie nicht abweisen würde, der sie nichts fragen und nichts erbitten müßte.“ Sie möchte nicht bloß äußerlich begehrt werden oder in einer Beziehung sein müssen, aber lieben und geliebt werden möchte sie schon. Augenblicksweise gewinnt Arnolds Roman eine große Klarheit, ehe dieser einen mythischen Duktus annimmt, eigensinnig wirkt, etwa wenn in einem Haus „am hellen Tag tiefste Nacht residierte“. Der Autor beschreibt Fluchtgeschichten, Kriegszustände und Vergangenheiten, manchmal fragmentarisch, manchmal in Gestalt von Gedichten.

Nach langer Wanderschaft bezieht der Erzähler ein kostenfreies Zimmer, und bald wohnt Pirina nebenan. Entdecken beide eine neue Heimat? „Das Rauschen der Vogelschwärme, die über das Haus Richtung Meer flogen, erinnerte ihn an das alte Land, vereinte sich mit dem Rauschen des Meeres. Er beheimatete sich in diesen Klängen. Vielleicht würde er hier bleiben, vielleicht für eine Weile, vielleicht für immer.“ Sein „immer“ heißt Pirina. Er traut sich nicht, bei ihr anzuklopfen, aus respektvoller Scheu, ängstlich und schüchtern. Also begegnen sie einander ganz zufällig. Pirina sperrt sich aus und freut sich: „Er sah ihren leuchtenden Kopf, ihr schmales Gesicht, die Lippen mit dem akzentuierten Bogen und den schönen Konturen, die schlanken Hände, insektenflink. Er sah ihr Lächeln, als sie seine Vergangenheit und seine Gegenwart in Besitz nahm. Kein Wort war wertvoll genug, um es an sie zu richten. Jetzt mußt du mich behalten, hatte sie gelacht.“

Florian Arnold macht oft sehr schöne Worte, die gelegentlich ein wenig feierlich anmuten. Indessen, die Liebe ist alles andere als ein fein gewebter, leichter Stoff. Auf schwerelose Momente folgen düstere Begebnisse. Pirina und der Erzähler werden zu Weggefährten, die ihren Erinnerungen nicht entrinnen, aber einander davon erzählen können. Passagenweise bleibt Arnolds Roman ausgesprochen rätselhaft. Fraglich erscheint auch, ob die Prosa des Daseins mit dieser betont lyrischen, mitunter ästhetisch feinnervigen Sprache adäquat beschrieben wird:

Ihr habt nicht existiert, eure Namen sind verschwunden, ausgetilgt aus den Gedächtnissen. Kein Blatt trägt eure Geburtsdaten, keiner Erde hatten sich eure Schritte eingeprägt, kein Archiv weiß von eurer Existenz. So viele sind verschwunden, so viele Namen, die keine Hand aufschrieb, so viele Namen, deren Gewicht kein Papier zu tragen vermochte, nur die Stille, der weite Echoraum des Vergessens, mag einen Nachklang eurer Namen bergen. … Zwei Menschen auf dem Land: ein Mann, eine Frau. Sie gehen nebeneinander. Im nächsten Moment sind sie verschwunden.

Die letzten, knappen Sätze sagen alles Nötige und hätten auch genügt.

Heimat, so lautet eine Kapitelüberschrift in diesem Roman, sei kein Ort. Vielleicht aber, so mag mancher Leser denken, kann eine Person, die Nähe schenkt und Nähe gestattet, eine Ahnung des Nicht-Ortes Heimat vermitteln, den zu suchen wir doch nicht aufhören möchten.

Titelbild

Florian L. Arnold: Pirina. Roman.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2019.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783947857005

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