Die Befreiung unserer Wahrnehmung

Warum Bilder so gern von Aufklärern, Ideologen und Religionsvertretern instrumentalisiert werden: Über Bettina Stangneths philosophischen Essay „Hässliches Sehen“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gibt es unter Vorbildern eine Art Verdrängungswettbewerb? Wie sonst ist zu erklären, dass zum Beispiel Claus Schenk Graf von Stauffenberg alle anderen Widerstandskämpfer in der Nachkriegszeit an Ruhm überstrahlte? Was schon deshalb erklärungsbedürftig ist, als von dem Offizier diverse nationalistische, antidemokratische und antisemitische Äußerungen überliefert sind. Anders als etwa von dem einfachen, politisch ungebundenen Kunstschreiner Georg Elser, der schon 1939 ein Bomben-Attentat auf Hitler verübte, das nur knapp scheiterte. Und den trotz einer Filmbiografie bis heute kaum jemand kennt.

Dieses Beispiel mache exemplarisch deutlich, dass Vorbilder von uns „gemacht“ werden, erklärt Bettina Stangneth in ihrem neuen Buch. Darin erläutert die Hamburger Philosophin und Historikerin, wie dieser „Mechanismus“ funktioniert, mit dem wir Menschen aufgrund von Weltbildern oder Ideologien zu Symbolen aufladen und dabei zugleich über Unpassendes geflissentlich hinwegsehen. Den Herstellungsprozess von Vorbildern gelte es schon deshalb zu durchschauen, so Stangneth, weil „nichts garantiert, dass kommende Generationen nicht ihrerseits darauf verfallen könnten, Nazitäter nachträglich zu re-interpretieren, bis niemand mehr versteht, worin ihre Gefährlichkeit bestand.“

Hässliches Sehen: So lautet der doppeldeutige Titel von Stangneths neuem Buch-Essay. Geht es darin um ein Sehen, das – warum auch immer – hässlich wird? Oder um das Sehen von hässlichen Dingen? Eigentlich, muss man nach der Lektüre sagen, um beides. Aber vor allem geht es in dem Buch um die Frage, warum wir die Welt – egal ob Menschen, Kunstwerke oder geschichtliche Ereignisse – so gern auf moralisierende Weise wahrnehmen. Und ob es sich dabei nicht allzu oft um einen Missbrauch der Moral handelt.

Wobei der Titel natürlich auch der besseren Vermittelbarkeit, sprich Verkäuflichkeit, geschuldet ist, wie Stangneth im Nachwort einräumt. Frühere Generationen führten gern das Wort vom „Guten, Wahren und Schönen“ im Mund, eine Trias, die man heute schwerlich ohne ironischen Zungenschlag aussprechen kann. Stangneths nun abgeschlossene Trilogie einer Kritik des „dialogischen Denkens“ handelt letztlich von nichts anderem. Nur ist eben der Zugang vom jeweiligen Gegenteil aus erheblich spannender und produktiver. So legte die Philosophin nach ihrer preisgekrönten Studie über die Pervertierung des Denkens durch die Nazis (Eichmann vor Jerusalem, 2011) im Jahrestakt ihre Buch-Essays Böses Denken (2016), Lügen lesen (2017) und nun eben Hässliches Sehen vor.

Auch im neuen Band dient ihr neben Karl Jaspers, Hannah Arendt und Sigmund Freud vor allem Immanuel Kant als wichtigster Gewährsmann. Warum die Einsichten des Königsberger Philosophen über das menschliche Vernunftvermögen auch bald 240 Jahre nach ihrer Publikation wichtiger denn je sind, hat wohl kaum jemand so überzeugend dargestellt wie Stangneth in ihrer Trilogie. An aktuellen Beispielen mangelt es folglich auch in Hässliches Sehen nicht. Der erneut gut lesbare, wenn auch gelegentlich etwa geschwätzige Essay behandelt etwa die fatale Sehnsucht nach einer „identitären“ Politik oder die neue Zensurwut in Museen im Fall von Werken suspekt gewordener Künstler. Aber auch das chinesische Überwachungsexperiment, durch Einführung eines Social-Credit-Systems alle Bürger wechselseitig transparent zu machen, oder die Versuche, die Integration von Migranten mittels verordneter Wertekataloge zu beschleunigen. 

In all diesen Fällen wird dabei auf die – nicht zuletzt gemeinschaftsstiftende – Macht und Überzeugungskraft von Bildern vertraut, wie es Moralisten, Ideologen, Aufklärer oder auch Religionsvertreter seit jeher tun. „Bilder“ versteht Stangneth in einem denkbar weiten Sinn. Das können Wertvorstellungen oder Tugenden ebenso sein wie historische Ereignisse oder die Utopie einer von allen Unterschieden oder Verbrechen gereinigten Gemeinschaft. Für Stangneth sollte es uns jedoch gerade nicht „um ein schönes, sondern um ein menschliches Bild der Welt“ gehen, also „nicht um das Vernichten der Unvernunft, sondern um den größtmöglichen Raum, sie zu verwirklichen, ohne uns, den anderen oder der Welt einen Schaden zuzufügen“. Weshalb sie in ihrem Buch mit Recht dafür plädiert, die Wahrnehmung von der Vereinnahmung durch das interessegeleitete Denken und die Lust am Moralisieren zu befreien.

Das gilt gerade auch im Fall sogenannter Vorbilder. Stauffenberg zum Beispiel war als adeliger Angehöriger der Führungselite geradezu ideal, um in der westdeutschen Nachkriegsära die Widerstandsproblematik gleichsam stellvertretend von sich abzuschieben. Von Georg Elser dagegen geht bis heute eine beunruhigende Kraft aus, so Stangneth: Wenn einer wie er die Nazis durchschauen und handeln konnte – dann hätte das ja jeder andere auch tun können (und sollen). Was Elser zu einem Paradebeispiel für das macht, was nach Bettina Stangneth Aufklärung im Kantischen Sinn bedeutet: „die Forderung an den Einzelnen, bei genau dem anzufangen, was er selber ändern kann, also tatsächlich vernünftig zu handeln, statt vom Paradies zu träumen: in jeder einzelnen Handlung, immer wieder, Tag für Tag“.

Titelbild

Bettina Stangneth: Hässliches Sehen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
149 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498064488

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