Von den Formen der Erkenntnis
Der Sammelband „Formen des Wissens“ des Graduiertenkollegs Literarische Form betrachtet das Verhältnis von Literatur und Wissen mit Fokus auf dem Formaspekt von Literatur
Von Jonas Heß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZahlreiche Publikationen haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit dem Themengebiet ‚Literatur und Wissen‘ beschäftigt. Unter stets wechselnden Titeln geht es letztlich immer um die Frage, ob und wenn ja, wie Literatur in der Lage ist, Wissen oder Erkenntnis zu vermitteln bzw. in welchem Zusammenhang die beiden Bereiche stehen. Zwar wurde schon früh die Kritik vorgebracht, dass die Beschäftigung mit diesem Thema und also nicht selten der Versuch genuin künstlerische kognitiv relevante Effekte in der Literatur auszumachen, lediglich dazu diene, die Literatur als Erkenntnismedium eigener Prägung zu nobilitieren. Wenn dies auch in einigen Fällen zutreffend sein mag, die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verhältnis der beiden Bereiche bleibt davon unberührt.
Die meisten Publikationen zum Thema konzentrieren sich dabei – verständlicherweise – auf die Inhaltsebene eines literarischen Textes. Geht man allerdings von dem klassischen (propositionalen) Verständnis von Wissen bzw. Erkenntnis als ‚wahre, gerechtfertigte Meinung‘ aus, gerät man schnell in Konflikt mit der Fiktionalität eines Großteils der Literatur. Denn wie soll über einen fiktionalen Text zu einer ‚wahren‘ Auffassung der Welt gelangt werden? Diese Frage steht daher – mal explizit, mal implizit – meist im Zentrum entsprechender Untersuchungen. Weitaus seltener beschäftigen sich wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema jedoch mit der Formebene eines literarischen Texts und ihren Möglichkeiten kognitiver bzw. epistemischer Wirkung. Der Sammelband Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren, den das Graduiertenkolleg Literarische Form herausgegeben hat, beleuchtet diese etwas unterrepräsentierte Facette der Thematik nun aus zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven.
Die verschiedenen Beiträge sind in die vier Sektionen „Formverfahren als Wissensrelativierung und Wissenskritik“, „Literarische Formierung impliziten und alternativen Wissens“, „Literarische Formen und die Grenzen zwischen fiktionalem und faktualem Schreiben“ und „Poetische Wissensreflexion als Modernereflexion“ eingruppiert und decken damit einen denkbar weiten Themenkreis ab. Eine solche Vielfalt begrifflich durch einheitliche Definitionen einigermaßen zusammenzuhalten, ist nicht immer einfach und man muss sogleich dankend bemerken, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber diese Problematik in ihrer Einleitung erkennen und ihr Verständnis von ‚Wissen‘, ‚Literatur‘ und ‚Form‘ entsprechend darlegen.
Das ist keine Selbstverständlichkeit und führt bei Unterlassung nicht selten zu einigen Problemen. Denn natürlich ist die Auffassung von der Beziehung zwischen ‚Literatur und Wissen‘ maßgeblich davon beeinflusst, was man genau unter ‚Literatur‘ und was unter ‚Wissen‘ versteht. Das Graduiertenkolleg kommt diesbezüglich zu denkbar weiten Bestimmungen, die es ermöglichen, die verschiedenen Beiträge in ein und denselben Band zu inkludieren. ‚Wissen‘ wird dabei zunächst verstanden als „ein zu einem historischen Zeitpunkt intersubjektiv begründeter und geteilter Wahrheitsanspruch“, während mit ‚Literatur‘ das gemeint ist, „was die jeweiligen Zeiträume als Literatur deklariert haben“. Der Wissens- wie auch der Literaturbegriff werden auf diese Weise auch in ihrer historischen Schwankungsbreite erfasst und damit die Möglichkeit eröffnet, auch historisch fern Liegendes in die Betrachtungen zu integrieren. Unter ‚Form‘ werden indes „genuin literarische Formen“ verstanden, die also gerade nicht auch in nicht-literarischen Texten Verwendung finden (wenn man sich auch fragen kann, was sie daran hindern sollte).
Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich nun sowohl mit einzelnen literarischen Werken oder Gattungen und der epistemischen Funktion ihrer Formverfahren als auch mit übergeordneten literaturtheoretischen Problemstellungen. So hinterfragt beispielsweise Matthias Löwe in der ersten Sektion mit seinem Beitrag „Form als ‚Wunderwaffe‘ der Literaturwissenschaft?“ die bereits eingangs erwähnte marginale Rolle, die der Aspekt der Form im Kontext von ‚Literatur und Wissen‘ häufig gespielt hat, und die Gründe hierfür. In Bezug u.a. auf die in jüngerer Zeit einige Popularität erfahrende ‚Poetologie des Wissens‘ konstatiert er vor diesem Hintergrund ihre Unfähigkeit Formverfahren aufzudecken, die Wissensordnungen in Frage stellen, was der Tatsache geschuldet sei, das nicht zwischen histoire und discours unterschieden werde. Dies sei bestimmten Normen und Grundüberzeugungen geschuldet – Elemente, die ganz allgemein bei allen literaturwissenschaftlichen Beobachtungen eine Rolle spielten und daher immer reflektiert werden müssen.
Der Beitrag von Sarah Fallert aus der zweiten Sektion wiederum befasst sich mit literaturtheoretischen Fragen im Spanien des 18. Jahrhunderts bei Antonio Burriel, der Dichtung gar als höchstes Erkenntnismittel bestimmt, an der genauen und abschließenden Bestimmung der einzelnen Gründe hierfür jedoch scheitere. Jedoch sei das skizzierte ‚literarische‘ Wissen bei Burriel bereits als nicht-propositionales, also nicht satzförmig aussagbares, zu erkennen, weshalb auch der Autor selbst an der genauen (propositionalen) Bestimmung fehlschlage. In derselben Sektion findet sich aber auch die Ausarbeitung von Jakob Lenz zu bestimmten Formverfahren in Lukians Heracles und der Tabula Cebetis. In beiden Werken aus der Zweiten Sophistik stellt er ein dreiteiliges Formschema aus Ekphrasis, Exegese und Enactment heraus, welches als Alternative zum „wissensstiftenden ‚Standardmodell‘ von Behauptung, Begründung und Beispiel“ aufgefasst werden und gleichermaßen zur Bildung von Überzeugungen auf Seiten des Lesers führen könne.
Albrecht Koschorke wiederum schließt in der dritten Sektion mit Blick auf die Repräsentation von Afrika aus dem Vergleich von Joseph Conrads Heart of Darkness und Chinua Achebes Arrow of God auf die Bedeutung literarischer Formverfahren bei Hegel und seiner radikal alterisierenden Darstellung Afrikas und seiner Bewohner. Während in den beiden literarischen Texten Vieldeutigkeit und Brechungen erzeugt würden durch die Verwendung eines Binnenerzählers bzw. der Innensicht und erlebter Rede, ließen sich bei Hegel und mit Blick auf die Geschichts- sowie die Subjektphilosophie zwei konkurrierende Modelle erkennen, die als „Komplikation in der narrativen Anlage und damit der literarischen Form“ zu verstehen seien. Hierin sieht Koschorke exemplarisch die Bedeutung der literarischen Form auch über die Literatur im engeren Sinn hinaus als erwiesen – als Organisationsinstanz auch auf Feldern außerliterarischen Wissens.
In der letzten Sektion findet sich u.a. der Beitrag von Anna S. Brasch, der anhand der ‚Weltanschauungsliteratur‘, die als Texttypus am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Schlüsselbegriff des Intellektuellendiskurses entstanden ist, die Modernereflexion der Zeit und insbesondere deren spezifische literarische Erzählverfahren nachzeichnet. So verfolge diese Form der Literatur das „Konzept weltanschaulich-panoramatischen Erzählens vom Ganzen“, welches an einen bestimmten Typus von Erzähler, Poetik und textstrukturierendem Narrativ geknüpft sei, um letztlich metaphysischen Trost und Sinn zu spenden vor dem Hintergrund der aufkommenden Moderne. Benjamin Loy hingegen beschäftigt sich im letzten Beitrag des Bandes mit „Metaphern als Wissensformen in den lateinamerikanischen Literaturen zwischen Moderne und Postmoderne“. Unter Rückgriff auf die Metapherntheorien von Blumenberg und Haverkamp ist es sein Ansatz, durch die Untersuchung bestimmter Metaphern literarisch-formal organisiertes Wissen zu extrahieren. Hierfür wird sodann die Figur der Einverleibung bzw. Verschlingung in einem rund 100 Jahre umfassenden Korpus lateinamerikanischer Literatur schlaglichtartig untersucht.
Auf diese Weise beleuchtet der Band nicht nur ein breites Spektrum verschiedenster Bezugsformen von Literatur und Wissen, sondern zeigt auch, dass die lange fast unbedachte Kategorie der Form auch in diesem thematischen Zusammenhang durchaus wert ist, eingehender untersucht zu werden. Formen des Wissens ist somit als ein relevanter und lohnender Band zu bewerten, der mit der Breite der behandelten Themen einen guten Überblick über die Vielfalt der Möglichkeiten literarischer Erkenntnis auch jenseits der Inhaltsebene zu geben vermag.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz