Ein berückendes Gewebe
Martin Puchner begeistert mit einer Sozialgeschichte des Schrifttums
Von Andreas Haarmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIst es möglich, eine lesenswerte Geschichte der Weltliteratur auf 400 Seiten zu schreiben? Vermutlich nicht. Martin Puchner aber, Herausgeber der monumentalen Norton Anthology of World Literature, legt etwas weit Originelleres vor als eine Kurzversion des von ihm betreuten Prestigewerkes: eine Sozialgeschichte des geschriebenen Wortes, das gleichsam eine geschriebene Welt erschafft, die mit der unseren auf mannigfache Weise verwoben ist. Der schon im englischen Titel sich andeutenden Verwandtschaft von Wort und Welt kann der Leser der deutschen Ausgabe von The Written World schwelgerisch durch 16 Kapitel folgen, die ihn auf (fast) alle Kontinente führen.
Ihren Anfang nimmt die Erzählung allerdings im All. Bewegt von der eigenen Pionierleistung, verlas die Besatzung der Apollo 8 an Weihnachten 1968 nach mehrmaligen Mondumkreisungen Auszüge der Genesis. Nichts dürfte den physikalisch ausgebildeten Raumfahrern zweifelhafter erschienen sein als ein jahrtausendealter Schöpfungsbericht, an dessen Zersetzung sie gewissermaßen gerade mitwirkten. In dem Umstand, dass doch er es war, der verlesen wurde, sieht Martin Puchner zu Recht einen Beweis für die Wirkmacht von „Grundlagentexten“: sie können Wirklichkeiten erzeugen und ihren eigenen Wahrheitsanspruch überdauern.
Im Weiteren geht es beispielsweise um die Triebkraft, welche die fiktive Ilias dem ganz realen Großmachtstreben Alexanders des Großen verlieh und um die Abhängigkeit der Literatur von ihren Lesern; wir begeben uns mit Esra zu den Ursprüngen eines elitären Literaturverständnisses und werden bekannt gemacht mit einer japanischen préciosité. Nicht immer geht es dabei nur um das Werk, sondern auch um seine Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen, um das Ineinandergreifen verschiedener Innovationen, die der Schrift zu ihrem Siegeszug verholfen haben. Auch das macht für Puchner aus Literatur eine weltumspannende Angelegenheit. Wenn wir heute von Büchern sprechen, meinen wir gemeinhin ein Gemeinschaftsprojekt: eine Schrift, die auf dem griechischen Alphabet basiert, einen Rohstoff, der in China entwickelt und uns über die arabische Welt zugetragen wurde, das Format handlicher römischer Codices. Der Autor trägt im Übrigen auch nicht-literarischen Texten Rechnung, wenn er uns Benjamin Franklin als frühes Mediengenie präsentiert. Seine Druckerei interessierte sich nur in Maßen für schöngeistige Literatur – als einzigen Roman verlegte sie Richardsons Pamela –, vielmehr trieb den Gründervater der Vereinigten Staaten der Einfluss um, der sich über geschickte Vermarktung auch von trivialen Textprodukten erlangen ließ. Macht durch Schrift, sozusagen.
Bemerkenswert ist, dass sich Die Macht der Schrift genauso gut am Stück lesen lässt wie in einzelnen Kapiteln. Diese sind so eigenständig, dass sie für sich allein genommen nichts vermissen lassen. Ihre eigentliche Brillanz aber geben sie gerade dort zu erkennen, wo sie sich wie selbstverständlich mit vorangegangenen Kapiteln verschränken. So folgt uns Franklins Schatten in das Pariser Schachlokal, wo Marx und Engels die Revolution planen, während uns die Keilschrift des Gilgamesch-Epos im Arbeitszimmer der Achmatowa wieder einholt. Überhaupt flicht Puchner kleine und große Zufälle der Literatur- und Weltgeschichte ganz beiläufig ein; ob es nun bedeutsam ist oder nicht, dass Lenin in seiner Zürcher Zeit nur einen Steinwurf entfernt vom Cabaret Voltaire lebte, wissen will man es allemal. Mit derlei Präzision auch im Anekdotischen macht Puchner sein Buch zu einem verführerischen textum im ganz ursprünglichen Sinne des Wortes.
Bei aller Lesefreude muss jedoch eine gravierende Fehlentscheidung bemängelt werden, die an einzelnen Stellen sogar komische Effekte hervorruft: Auf Anraten seiner Verlagslektorin hat Puchner sich „als Erzähler eine durchgängige Präsenz im Text“ verschafft, womit er leider nicht selten den Ton einer schlechteren BBC-Reportage trifft (‚ich habe mir dies und das mal angesehen‘) und seine erzählerische Leistung stark schmälert. Auch will der so erzeugte Fetisch des Auratischen gar nicht zur Anlage des Buches passen, das nämlich der eigenen Anschauung nicht bedarf, um anschaulich zu sein. Schreibt nicht der Autor selbst: „Alte Objekte und Ruinen öffnen uns eine Tür zum Habitus und den Lebensweisen unserer Vorfahren; ihre schriftlich bewahrten Geschichten öffnen uns die Tür zu ihrem Innenleben“? Diese Tür zur Geschichte der Innerlichkeit wurde mit dem vorliegenden Buch weit aufgestoßen.
|
||