Vor hundert Jahren wurde der italienische Filmregisseur Gillo Pontecorvo geboren
Sein Meisterwerk über die „Schlacht um Algier“, das bei den Filmfestspielen von Venedig 1966 mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet wurde, war bis 1971 in Frankreich verboten
Von Bernd Nitzschke
Der französische Journalist Henri Alleg gründete 1951 die Zeitung Alger républicain, für die unter anderem Albert Camus schrieb. Als Chefredakteur wandte sich Alleg gegen die französische Kolonialherrschaft. Als die Front de Libération Nationale (FLN) 1954 den Kampf für die Unabhängigkeit des Landes aufnahm, wurde Alger républicain verboten. Henri Alleg musste um sein Leben fürchten, da er jetzt als Sympathisant der ‚Terroristen‘ galt.
Kurz bevor Jacques Massu, der Kommandant der 10. Fallschirmjägerdivision, den Auftrag erhielt, die Führung der FLN zu liquidieren, tauchte Alleg unter. Im Verlauf der von Januar bis Oktober 1957 andauernden militärischen Operation, die als „Schlacht um Algier“ in die Geschichte einging, wurde Alleg gefasst und in ein am Stadtrand von Algier gelegenes Gebäude verschleppt. Dort unterwarf man ihn der „Französischen Doktrin“. So wurde die systematische Folterung von Menschen umschrieben, die während des Algerienkrieges – der in amtlichen französischen Verlautbarungen so überhaupt erst seit 1999 genannt werden darf – unter Zuhilfenahme von Elektroschocks, Schweißbrennern, Waterboarding und ähnlichen Methoden ‚verhört‘ wurden, bevor man ihre Leichen in Zementblöcke goss, ins Meer warf oder auf andere Art beseitigte (Algeria-Watch 2001). Dieses Erbe des ‚schmutzigen Krieges‘ in Algerien wurde später von vielen anderen Staaten übernommenen (und ‚verfeinert‘).
Henri Alleg überlebte die „Französische Doktrin“. Er kam ins „Barberousse“, ein offizielles Gefängnis, in dem algerische Widerstandskämpfer durch die Guillotine hingerichtet wurden. Hier schrieb Alleg den Bericht über die erlittene Folterung, den seine Anwälte aus dem Gefängnis schmuggeln konnten. Dieses Buch erschien 1958 unter dem Titel La Question. Die französische Ausgabe wurde sofort verboten. Auch das Chanson, das Boris Vian 1954 unter dem Titel Le déserteur veröffentlichte – Frankreich hatte in Indochina gerade eine vernichtende Niederlage erlitten und war jetzt mit dem antikolonialen Aufstand in Algerien konfrontiert – durfte bis 1962 (Ende des Algerienkrieges) im französischen Radio nicht gespielt werden. In diesem Lied wurde die Kriegsdienstverweigerung so gerechtfertigt:
Monsieur le Président
Je ne veux pas la faire
Je ne suis pas sur terre
Pour tuer des pauvres gens
C‘est pas pour vous fâcher
Il faut que je vous dise
Ma décision est prise
Je m‘en vais déserter
Die deutsche Übersetzung des Buches von Henri Alleg erschien 1958 unter dem Titel Die Folter, versehen mit zwei Geleitworten, eins von Jean-Paul Sartre, das andere von Eugen Kogon, der den darin wiedergegebenen Inhalt aus eigenem Erleben leidvoll nachvollziehen konnte. Kogon war wegen Widerstands gegen die Nationalsozialisten sechs Jahre in Buchenwald inhaftiert. Nach der Befreiung veröffentlichte er das Buch Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager (1946), das längst als Standardwerk gilt und 2015 bereits in der 47. Auflage erschienen ist.
Das realistischste Polit-Epos aller Zeiten
Der Film Schlacht um Algier, der 1966 den „Goldenen Löwen“ der Internationalen Filmfestspiele von Venedig gewann und ein Jahr später in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ für einen Oscar nominiert wurde, blieb in Frankreich bis 1971 verboten. In einer Szene dieses Films sehen wir, wie ein Aufständischer durch die Gänge des Gefängnisses geschleppt wird. Auf dem Weg zur Guillotine ruft er seinen Mitgefangenen ähnliche Worte zu, wie sie von Ahmed Zabana überliefert sind, der am 19. Juni 1956 im „Barberousse“ hingerichtet wurde: „Ich sterbe, meine Brüder, aber Algerien wird leben!“
Philip Gourevitch schrieb 2003 im New Yorker über den Film Schlacht um Algier, er sei „gewiss das erschütternste und realistischste Polit-Epos aller Zeiten“ („surely the most harrowing, and realistic, political epic ever filmed“). In welcher Liga dieser Film angesiedelt ist, kann man durch die Passage eines Briefes verdeutlichen, den Billy Wilder 1994 an Steven Spielberg schrieb, in dem er dessen Film Schindlers Liste mit den Worten würdigte: „Was Sie geschaffen haben, ist mehr als bloß ein Film. Es ist […] ein ‚Panzerkreuzer Potemkin’‘ oder eine ‚Schlacht um Algier‘. Es ist schwarz-weiß. […] Es ist wahr. Es wurde nicht von Hollywood vorgegaukelt. Es ist wahr. Es ist ein leiser, quälender Schrei […]“ (zit. nach Karasek 2006). Genauso kann man den Film Schlacht um Algier charakterisieren: Er ist wahr. Er gaukelt nichts vor. Er ist ein leiser, quälender Schrei, der den Zuschauern durch Mark und Bein geht.
Der Film Panzerkreuzer Potemkin – das ist das zweite Beispiel, mit dem Billy Wilder Spielbergs Meisterwerk verglichen hat – war für Gillo Pontecorvos Schlacht um Algier zwar ein Vor-Bild, doch anders als Sergej Eisenstein hat Pontecorvo
(19.11.1919 – 12.10.2006) keinen Agitprop-Film gedreht. Bevor die Sprengkörper explodieren, die die Aufständischen in einem Tanzlokal, einem Cafe oder an anderen Orten platzieren, an denen sich bevorzugt Franzosen aufhalten, zeigt der Film Menschen wie du und ich, ausgelassene Jugendliche, die gleich sterben werden, oder – in Großaufnahme – das Gesicht eines arglosen Kindes. Dann heulen Sirenen, man sieht blutverschmierte Menschen, die durch Trümmerlandschaften irren, Militär und Polizisten, die Straßen abriegeln, Szenen, die den erbarmungslosen Krieg in Algerien illustrieren, dem zwischen 1954 und 1962 Hunderttausende zum Opfer fielen – und doch sind diese Szenen zeitlos. Man konnte sie zum Beispiel in Tel Aviv 2005, in Paris 2015, in Brüssel und Berlin 2016 oder in London 2017 sehen. Und die Szenen, die die Demütigung, Schikanierung und Entwürdigung der Bewohner der Kasbah zeigen, die ins Europäerviertel wollen, um dort zu arbeiten oder Waren zu verkaufen, könnte man heute jeden Tag neu an den Checkpoints im Westjordanland filmen.
Schlacht um Algier ist ein Spielfilm, der beim Zuschauer den Eindruck hinterlässt, es handle sich um einen Dokumentarfilm. Dieser Eindruck wird durch die Bildführung hervorgerufen, die an Wochenschauaufnahmen erinnert. Originalzitate aus Verlautbarungen der Militärbehörde und Aufrufen der Führung der Befreiungsbewegung FLN, die eine Stimme aus dem Off vorträgt, verstärken diesen Eindruck noch. Gedreht wurde nicht im Studio, sondern an Originalschauplätzen – und bis auf eine Ausnahme (Colonel Mathieu, gespielt von Jean Martin) sind alle Darsteller Laien. Damit steht der Film in der Tradition des Neorealismus, einer Stilrichtung, die Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Norden Italiens noch von deutschen Truppen besetzt war, im befreiten Teil des Landes entstanden ist. Als Pontecorvo gefragt wurde, wer ihn am stärksten beeinflusst habe, antwortete er, das sei Roberto Rosselini gewesen, dessen Film Rom, offene Stadt (1945) die Verfolgung und das Ende einer italienischen Widerstandsgruppe zur Zeit der deutschen Besatzung Italiens zeigt.
Die Spirale der Gewalt dreht sich im Film wie in der Wirklichkeit: immer schneller. Unterdrückung führt zu Terror, Terror wird durch Bomben beantwortet, die auf Dörfer abgeworfen werden, in denen Aufständische vermutet werden. Als einem gefangenen ‚Terroristen‘ vorgeworfen wird, es sei schändlich, wenn Frauen in ihren Handtaschen heimlich hergestellte Sprengkörper in die Stadt schmuggelten, mit denen Zivilisten getötet würden, antwortet der Gefangene: „Geben Sie uns doch Ihre Bomben, wir geben Ihnen gerne die Einkaufstaschen.“
Trotz des Terrors, dessen Zeuge der Zuschauer wird, und trotz des Grauens, das ihn erfasst, – gilt Pontecorvos Sympathie ganz offensichtlich den Widerstandskämpfern. Er selbst war ja früher in einer ähnlichen Situation. Der 1919 in Pisa als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Regisseur nahm ab 1943 am Widerstand gegen Mussolini und die deutschen Besatzer seines Landes teil (eine ausführliche Biographie/Filmographie von Hans J. Wulff zu Pontecorvo ist erschienen in: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere 2012). Auf die Frage, ob ihm diese Erfahrung beim Drehen des Films geholfen habe, antwortete er: „Ja, natürlich. […] Im Widerstand gegen den Faschismus […] und im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft in Algerien stellten sich die gleichen Probleme und kamen ähnliche Methoden zum Einsatz.“ Es sei ihm daher nicht schwergefallen, sich „vorzustellen, was ich unter diesen Bedingungen gemacht hätte. Große Hilfe boten auch die Menschen der Kasbah in Algier, einem außerordentlich armen Stadtviertel mit schmalen Gassen, weil sie sich alles, was ihnen dort tatsächlich geschehen war, noch in allen Einzelheiten vorstellen konnten“ (Pontecorvo in einem Interview, 2004).
Nicht nur der Regisseur, auch die Algerier, die wir im Film sehen, konnten auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, ja, sie spielten ihr früheres Leben noch einmal nach, wie zum Beispiel Yacef Saadi, der im Film als FLN-Kommandant Djafar auftritt. Im wirklichen Leben war er Militärchef der FLN in Algier. Im September 1957 wurde er verhaftet und nach kurzem Prozess zum Tod verurteilt. Der Hinrichtung entging er nur deshalb, weil ihn General de Gaulle begnadigte. Während der Haft schrieb Yacef Saadi seine Erinnerungen nieder. Sie wurden 1962 unter dem Titel Souvenirs de la Bataille d‘Alger veröffentlicht. Darauf beruht das Drehbuch des Films.
Terror fällt nicht vom Himmel
Terror bricht aus der Hölle der Geschichte in den Alltag der Menschen ein, die hier und heute leben, und konfrontiert sie mit ihrer verdrängten Vergangenheit. Frantz Fanon, der in der französischen Kolonie Martinique geboren wurde, im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Franzosen in Nordafrika kämpfte und im Algerienkrieg die FLN unterstützte, hat in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde (1969) die Gewalt beschrieben, mit der sich der Unterdrückte zur Wehr setzt, um sich von der Gewalt zu befreien, der er unterworfen wurde. Im Fall Algeriens lässt sich die Geschichte dieser Gewalt kurz so zusammenfassen: 1830 besetzten französische Truppen das Land. 1848 wurde Algerien annektiert. Es sollte jetzt zu Frankreich gehören und wurde in drei Départements aufgeteilt: Algier, Constantine, Oran. Den Soldaten folgten Siedler, die, wie die entsprechende apologetische Formel lautet, in der Wüste einen neuen Garten Eden erblühen ließen. Apropos Wüste: In der Sahara führten die Franzosen von 1960 bis 1966 Atombombentests durch und verseuchten Land und Leute (s. Djamel Ouahabs Dokumentarfilm Gerboise bleue, 2009 – https://www.imdb.com/title/tt1370372/). Das fruchtbare Ackerland, das zuvor im Besitz islamischer Wohlfahrtsverbände und deshalb unverkäuflich war, wurde von den Franzosen mit Hilfe juristischer Winkelzüge zu Staatseigentum erklärt und konnte in dieser neuen Gestalt an die Siedler verkauft werden.
Das war in Israel ähnlich. Das Eigentum an Grund und Boden der 1948/49 geflüchteten Palästinenser wurde an jüdische Neueinwanderer übergeben, da die von den neuen Herren des Landes mit Waffengewalt an der Rückkehr in ihre Dörfer gehinderten Flüchtlinge mit Hilfe eines neu erlassenen Gesetzes als „Abwesende“ definiert wurden, die ihr Recht auf Eigentum nicht mehr einklagen konnten. Diese Form der Enteignung setzt sich bis in die Gegenwart fort. Für die Enteignung palästinensischen Landes in der Westbank, auf denen heute völkerrechtswidrig erstellte israelische Siedlungen stehen, wurde auf ein osmanisches Gesetz aus dem Jahr 1858 zurückgegriffen, dem zufolge unbebautes Land Staatsbesitz ist, das anderweitig vergeben werden kann. „Im Januar 2004, als zehn neue Häuser in der jüdischen Siedlung Givot Bar, mitten in der Nacht, zwischen den Städten Beer Sheva und Rahat auf dem traditionellen Land der Al-Ukbi-Beduinen, errichtet wurden, besprühte die Regierung 4.000 Dunam Land der umliegenden drei Dörfer und Häuser von 50 Beduinenfamilien [mit Herbiziden] und vergiftete ihre Weizenfelder. Die neue jüdische Siedlung wurde errichtet, während die Regierung mittels der Legitimation des Negev-Entwicklungsplanes Ariel Sharons Beduinendörfer im Negev zerstört“ (haGalil 2009). Heute gibt es in Israel einen „Gedenkwald“, der von deutschen Bundesländern „zum Zeichen der Freundschaft und Versöhnung beider Völker“ gepflanzt wurde und an die Holocaustopfer erinnern soll. Er steht samt Siedlerhäusern „auf dem Land einer zwangsvertriebenen Minderheit“, nämlich auf dem Land, das Beduinen geraubt wurde, obgleich es ihnen gehörte, wie der israelische Geograf Oren Yiftachel anhand von Dokumenten zweifelsfrei nachweisen konnte. „Sie haben Brunnen gebohrt, den Boden bestellt, ihr Vieh geweidet und für ihre Erträge jahrzehntelang Steuern bezahlt.“ Dann kamen die Planierraupen. Die Behausungen der Beduinen wurden niedergewalzt, „Das Erbe von Generationen – zerstört in wenigen Stunden“ (Obert, Saman 2017, S. 20).
Für die Siedler in Algerien galt französisches Recht, während die einheimische Bevölkerung einer ‚besonderen Gerichtsbarkeit‘ unterstellt wurde und in einem anhaltenden Ausnahmezustand leben musste (ähnlich verhält es sich im besetzten Westjordanland: für die dort lebenden jüdische Siedler gilt israelisches Recht, für die Palästinenser ist die Militärverwaltung zuständig). Im annektierten Algerien ließ sich die Diskriminierung der ursprünglichen Bevölkerung aber nicht nur mit Hilfe juristischer Mittel bewerkstelligen, man konnte sich dabei auch auf neue ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnisse berufen. Die nötigen (rassistischen) Argumente lieferten zwei Psychiater, Antoine Porot und Jean Sutter, die 1939 in einer Fachzeitschrift zu Protokoll gaben: „Der Algerier hat keine Hirnrinde oder, um genauer zu sein, das beherrschende Element ist, wie bei den niederen Wirbeltieren, das Zwischenhirn. Die kortikalen Funktionen sind, wenn sie überhaupt existieren, sehr brüchig […].“ Aufgrund dieser pseudowissenschaftlichen Befunde folgerten die Professoren: „Das Zögern des Kolonisators, dem Eingeborenen eine Verantwortung zu übertragen, ist kein Rassismus […], sondern beruht auf wissenschaftlicher Einschätzung der biologisch begrenzten Möglichkeiten des Kolonisierten“ (zit. n. Fanon 1969, S. 232; s. auch Collignon 2006).
Die Barbarei, die sich im angeführten Beispiel als wissenschaftlicher Fortschritt tarnte, war konstitutiver Bestandteil des Kolonialismus. Fabian Klose (2016), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibnitz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, hat diesbezüglich von einer „,Normalität der Gewalt‘ in der kolonialen Situation“ gesprochen. Ich nenne noch ein weiteres Beispiel für rassistische Arroganz und ‚weiße‘ Selbstgerechtigkeit: Als es Ende des 19. Jahrhunderts im Sudan zum Aufstand des Mahdi kam – im Rückblick kann man darin die Geburtsstunde des modernen politischen Islam (beziehungsweise seiner extremen Form: des Islamismus) erkennen –, schrieb ein junger Kavallerieleutnant, der sich bereits im Kampf gegen die Untertanen ihrer Majestät in Indien, der Königin von England, die seit 1877 auch Kaiserin von Britisch-Indien war, bewährt hatte, an seine Mutter: „Ich habe den urtümlichen, lebhaften Wunsch, einige dieser abscheulichen Derwische zu töten und den Rest der ärgerlichen Brut in den Orkus zu befördern, und sehe voraus, daß mir die ganze Übung großen Genuß bereiten wird“ (Winston Churchill 1898 – zit. nach Brunold 2008, S. 8). Zwei Jahrzehnte zuvor war das Urteil des Erzbischofs von Algier, Kardinal Charles Martial Allemand Lavigerie, noch großzügiger ausgefallen. Er meinte hinsichtlich der Nordafrikaner, die zum Christentum konvertierten, sie könnten rechtlich mit Franzosen gleichgestellt werden.
In den 1920er Jahren kam es im nördlichen Teil des heutigen Marokko zum Aufstand der Berberstämme. Die mit den Franzosen verbündeten Spanier setzten im damaligen Rifkrieg schätzungsweise 10.000 Bomben und 500 Tonnen Senfgas ein, um die Aufständischen niederzukämpfen. Das war aufgrund des Genfer Protokolls über das Verbot chemischer und bakteriologischer Waffen zwar seit 1925 völkerrechtlich verboten, ließ sich aber dennoch mit dem guten Gewissen vereinbaren, das sich die Kolonisten, unabhängig von den in ihren Heimatländern geltenden Gesetzen, in allen Ländern, die sie in Besitz nahmen, zu verschaffen wussten. Der eklatante Widerspruch zwischen der Praxis der Kolonisation und dem erklärten Ziel der Kolonisten, sie brächten rückständigen ‚Eingeborenen‘ den Segen der Zivilisation, störte das Selbstverständnis der Feldherren nicht. „Die […] bis hin zum Mandatsgedanken des Völkerbundes überwiegende Legitimierung kolonialer Herrschaft bestand […] in dem Anspruch, als Befreier von Tyrannei und geistiger Finsternis eine weltgeschichtliche Mission zu erfüllen“ (Osterhammel 1995, S. 115). Diese Mission war ein gottgefälliges Werk, bei dem Feuer, Schwert und „strenges Verhör“ – sprich: die Folter – zum Einsatz kamen. Mit eben diesen Mitteln hatte die römische Inquisition vormals im Abendland den Teufel bekämpft.
Das Kalkül der Folter
Der Film Schlacht um Algier beginnt mit dem Ende einer Folterung. Wir sehen einen bis auf die Unterhose nackten Mann mit ausgemergeltem Körper, dem Tränen über die Wangen laufen. Er sitzt zitternd auf einem Stuhl, umringt von Soldaten, die ihm – nach getaner ‚Arbeit’ – gönnerhaft einen Schluck Wasser anbieten. Unter der Tortur hat der Gefangene den Ort verraten, an dem sich die Untergrundkämpfer versteckt haben. Jetzt unternimmt er einen letzten verzweifelten Versuch, seine Selbstbestimmung zurückgewinnen, doch es gibt keinen Ausweg mehr: Der Gefolterte will sich aus dem Fenster stürzen, das Fenster ist aber vergittert. Der gezeichnete Mann wird in eine französische Uniform gesteckt und muss in dieser Verkleidung die Soldaten zu dem Haus führen, in dem die Aufständischen Zuflucht gefunden haben.
Das ist das Kalkül der Folter: Die Täter wollen absolute Kontrolle über das Opfer erreichen. Es soll sich abhängig, völliger Hilflosigkeit ausgeliefert erleben. Die Identität des Gefolterten als bürgerliches Individuum wird zerstört. Die Grenzen werden im psychisch wie im körperlichen Sinne überschritten. Das Opfer wird seiner Privatsphäre beraubt. Die Täter sind hinsichtlich der eingesetzten Mittel sehr erfinderisch. Zum Einsatz kommen: Zufügen von Schmerzen durch Schläge mit Knüppeln und Kabeln, Stehen oder Sitzen in unnatürlichen Stellungen, Stromstöße an den Genitalien, sexuelle Erniedrigung, Injektion bewusstseinsverändernder Drogen, Einflößen von Wasser, Schlafentzug und andere die Würde des Menschen missachtende Methoden. Schließlich soll das Opfer seine Affekte ja auch nicht mehr kontrollieren können. Es wird von Scham, Angst, Wut, Aggression und Schuld überschwemmt. Der Reizüberflutung folgen Schreckhaftigkeit, Abstumpfung, Gleichgültigkeit, Misstrauen gegenüber Menschen, Selbstverletzung und Selbstvernichtung.
Das war im Algerienkrieg so – und das war im ‚Krieg gegen den Terror‘ genauso, den der US-Präsident Bush jr. 2001 ausgerufen hat. Auch an diesem ‚Krieg‘ nahmen wissenschaftliche ‚Experten‘ teil, die wussten, was zu tun ist, um aus einem selbstbestimmten Menschen ein verfügbares Objekt zu machen, das keinen eigenen Willen mehr hat. „Basierend auf der Annahme, dass die menschliche Fähigkeit zur Selbstkontrolle bei extremer Angst und Verwirrung abnimmt, haben Mitglieder der APA [American Psychological Association] Foltermethoden […] nicht nur entwickelt; sie waren auch anwesend, als man sie anwendete, etwa in Guantanamo oder Abu Ghraib“ (Batthyany 2015; s. zum Einsatz der Folter in US-amerikanischen Lagern zusammenfassend: Nešković 2015, Nešković 2017).
Nach der Szene, in der der Gefolterte als Stellvertreter des algerischen Volkes, umringt von französischen Soldaten, gedemütigt auf einem Stuhl sitzt, beginnt die eigentliche Handlung des Films: die Schlacht um Algier. Dazu ertönt die Musik, die teils von Gillo Pontecorvo selbst, teils von Ennio Morricone komponiert wurde, der damals noch ganz unbekannt war, inzwischen aber weltberühmt ist (die Musik des Films Spiel mir das Lied vom Tod stammt von ihm). Dann sehen wir, wie die Kasbah gestürmt wird. Soldaten durchkämmen die engen Gassen. Verängstigte Bewohner – Frauen, Kinder, alte Männer – werden im Innenhof eines Hauses zusammengetrieben, in dem sich die Aufständischen verborgen haben. Colonel Mathieu spricht durch die Mauer zu den Widerstandskämpfern, beziehungsweise (in seiner Diktion) zu den ‚Terroristen‘, die sich hinter dieser Wand versteckt halten. Sie sollen sich ergeben. Falls sie sich weigern, werde das Haus in die Luft gesprengt. Am Ende des Films (das heißt: nach der – in Rückblende dargestellten – Schlacht um Algier) sieht man die Todgeweihten wieder: zwei Männer, eine Frau, einen kleinen Jungen. Die Kamera zeigt ihre Gesichter in minutenlanger Großaufnahme. Sie werden sich nicht ergeben. Das Versteck wird zu ihrem Grab.
Der Film folgt auch an dieser Stelle dem realen Geschehen: Am 8. Oktober 1957 umstellten Fallschirmjäger unter dem Befehl von Colonel Yves Godard das Haus in der Kasbah, in dem sich Ali Ammar (auch Ali la Pointe genannt) und seine drei Begleiter – der Berber Hamid Bouhamidi, die Studentin Hassiba Ben Bouali und Omar, der dreizehnjährige Neffe von Yacef Saadi, dessen autobiographischer Bericht dem Film zugrunde liegt – versteckt hielten. Bei der Sprengung des Hauses kamen zwanzig Algerier ums Leben. Warum waren die Eingeschlossenen nicht bereit zu kapitulieren? Warum zogen sie den Tod dem Leben vor? Frantz Fanon hat diese Frage so beantwortet: „Sobald einer wie ein Hund liquidiert werden kann, bleibt ihm nur noch übrig, mit allen Mitteln sein Gewicht als Mensch wieder herzustellen […], zu kämpfen und zu sterben, und kein Verweis auf den Islam oder auf das versprochene Paradies kann diese Selbstaufopferung […] erklären“ (1969, S. 227). Vier Jahrzehnte später erschien ein Buch, in dem ein Journalist über die Gespräche berichtet, die er mit Said, einem 29jährigen Palästinenser geführt hat, der sich darauf vorbereitete, als Selbstmordattentäter zu sterben (Sabbah 2002). Saids Eltern wurden von jüdischen Siedlern von dem Land vertrieben, das sie bis dahin bewirtschafteten. Said war damals acht Jahre alt. Jetzt wuchs er in einem Flüchtlingslager auf. Später wurde sein Vater in einem israelischen Gefängnis gefoltert. Als Said fünfzehn Jahre alt war, kämpfte er mit seiner Steinschleuder gegen Besatzungssoldaten. Als er sechzehn war, wurde seine Mutter erschossen. Seinen Entschluss, als Selbstmordattentäter zu sterben, konnte er nicht in die Tat umsetzen. Said starb im Kugelhagel der israelischen Armee, die im April 2002 nach einem Attentat der Hamas in Netanja mit 30 Todesopfern und 140 Verletzten mit Panzern in Dschenin einrückte.
Im Film spielt der Schäfer Brahim Hadjadj, ein Analphabet, den Pontecorvo auf einem Markt in Algier entdeckt hatte, die Rolle des Ali la Pointe. Im wirklichen Leben war Ali la Pointe ein mehrfach vorbestrafter Kleinkrimineller, der sich als Boxer, Mauerer, Taschendieb und Zuhälter über Wasser gehalten hatte, bevor er zu einem der wichtigsten Führer der FLN wurde. Als er im Gefängnis „Barbarousse“ einsaß, wurde er Zeuge der Hinrichtung eines Widerstandskämpfers durch die Guillotine. Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses politisierte er sich.
Ali la Pointes Gegenspieler im Film ist Colonel Mathieu. In dieser Rolle sehen wir Jean Martin, ein Schauspieler, der während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Résistance war und später als Soldat in Indochinakrieg kämpfte. Weil er die 1960 in der Zeitschrift Vérité-Liberté erschienene „Deklaration über das Recht zur Dienstpflichtverweigerung im Algerienkrieg“ („Déclaration sur le droit à l‘insoumission dans la guerre d‘Algérie“) mitunterzeichnet hatte, erhielt er im französischen Fernsehen Auftrittsverbot. Der Schlusssatz dieser Deklaration lautete: „Die Sache des algerischen Volkes, die in entscheidender Weise dazu beiträgt, das Kolonialsystem zu zerstören, ist die Sache aller freien Menschen.“ Unterschrieben wurde die Erklärung von über hundert Intellektuellen und Künstlern, darunter der Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis, die Psychoanalytikerin Maud Mannoni, die Schriftstellerin Françoise Sagan, der Komponist Pierre Boulez und der Philosoph Jean-Paul Sartre.
Als Colonel Mathieu im Film Journalisten fragt, ob es etwas Neues aus Paris gebe, erhält er die Antwort: „Nichts. Nur einen neuen Artikel von Sartre.“ Obgleich er hart gegen die Aufständischen vorgeht, wird Mathieu nicht als Bestie in Menschengestalt vorgeführt, vielmehr wird er als Befehlsempfänger dargestellt, der Befehle weitergibt, um die militärische Operation, für die er verantwortlich ist, so effizient wie möglich zu Ende zu bringen. Man hat einen Gefangenen erhängt in der Zelle aufgefunden. Mathieu wird deshalb bei einer Pressekonferenz gefragt, ob er etwas über die Folter sagen könne. Der Offizier antwortet: „Das Wort Folter gibt es in unserer Dienstvorschrift nicht. Wir sprechen vom Verhör … Wir sind weder Wahnsinnige noch Sadisten. Und diejenigen, die uns heute als Faschisten beschimpfen, wollen nichts mehr davon wissen, was viele von uns in der Résistance geleistet haben. Und die uns für Nazis halten, wissen offenbar nicht, dass viele von uns Dachau und Buchenwald überlebt haben. Wir sind nun mal Soldaten. Unsere Aufgabe ist es zu siegen.“
So ist es. So war es. Und so wird es immer bleiben: Der Soldat gehorcht – und führt Befehle aus. Doch dann stellt Colonel Mathieu selbst auch noch eine Frage an die an der Pressekonferenz teilnehmenden Journalisten – das heißt, er stellt sie an die französische Öffentlichkeit: „Soll Frankreich in Algerien bleiben? Wenn Sie diese Frage noch bejahen, dann müssen Sie auch alle Konsequenzen akzeptieren, die sich daraus ergeben.“ Und was bedeutet Colonel Mathieus Hinweis auf „Dachau und Buchenwald“? Das ist eine von Pontecorvo mit Bedacht gewählte Metapher für alle Orte, an denen Menschen geschunden, gequält und erniedrigt werden. Es sind Orte, an denen Gewalt ausgeübt, erlitten und verinnerlicht wird. Wer diese Orte der Gewalt äußerlich überlebt, der hat sie innerlich noch lange nicht verlassen. Der befreite Gefangene bleibt infolge traumatischer Erfahrungen in sich selbst gefangen. Es kommt – vorübergehend oder dauerhaft – zum Zusammenbruch affektiver Regulationsmechanismen, die für die Bewältigung des Alltags notwendig sind. Alarmbereitschaft wechselt mit stumpfer Apathie ab, Phasen der Überregung und Wut werden von Phasen der Angst und Anspannung abgelöst. Jean Amery, der die KZ-Haft überlebte und später Suizid beging, hat diese Verzweiflung so beschrieben: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. […]. [W]er gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert“ (1966, S. 54).
Das ist das Anliegen aller Aufstandsbewegungen: Die Entrechteten wollen Gerechtigkeit. Sie wollen Wiedergutmachung. Aufgabe der Kultur ist es, an die Stelle des Wunsches nach Rache Recht zu setzen. Der FLN-Führer im Film sagt daher zu Ali la Pointe, als er ihn nach bestandener Mutprobe in den Kreis der Widerstandskämpfer aufgenommen hat: „Eine Revolution zu beginnen ist schwierig. Sie durchzuführen schwieriger. Sie zu einem Ende zu bringen noch schwieriger. Aber erst, wenn sie zu Ende ist, beginnen die wahren Schwierigkeiten.“
Nach dem Sieg der Revolution moralisch zu handeln, ist sehr schwer, denn die Orte, an denen die Aufständischen entmenschlicht und demoralisiert wurden, waren keine Orte, an denen sie moralisches Handeln erlernen konnten. Und selbst im Namen einer neuen ‚revolutionären‘ Moral ist es schwer, die Aggression, die im Kampf um Befreiung entfesselt wurde, wieder zu begrenzen. „Keine Zukunft ohne Versöhnung“ (Tutu 2001), gewiss. Doch Menschen wie Nelson Mandela bleiben die Ausnahme. Er saß als ‚Terrorist‘ Jahrzehnte in Gefängnissen des südafrikanischen Apartheidstaats (Mandela 1994) – und trat nach seiner Freilassung dennoch für einen Täter-Opfer-Ausgleich ein. Durch die Einrichtung der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ (Truth and Reconciliation Commission) konnte Mandela das Land vor einem blutigen Bürgerkrieg bewahren (Nitzschke 2007). Im Falle Algeriens gelang das nicht. Nach dem Ende des Krieges wurden von den siegreichen Aufständischen zwischen 10.000 und 50.000 so genannte ‚Harkis‘ – das waren Algerier, die mit den Franzosen kollaboriert hatten – umgebracht. In der FLN-Führung kam es zu Auseinandersetzungen, die mit einem Sieg der Fraktion um Ben Bella endeten, der von 1956 bis 1962 in einem französischen Gefängnis einsaß. Unter seiner Präsidentschaft wurde das ‚befreite‘ Algerien zu einem unfreien Einparteienstaat.
Der französische Historiker Benjamin Stora (2011) hat im Hinblick auf die weitere Entwicklung Algeriens diese Frage gestellt: „Muss in dem Gewaltausbruch der 1990er Jahre, bei dem es durch die Konfrontation zwischen dem algerischen Staat und den Islamisten zu nahezu 150.000 Toten kam, nicht ein Überbleibsel der fürchterlichen Machtkämpfe gesehen werden, die während des Unabhängigkeitskrieges den algerischen Nationalismus in Mitleidenschaft zogen?“ Eine mögliche Folge des Traumas ist nun einmal die Umkehrung des passiv Erlittenen in aktives Leidenlassen. Und so werden die Verfolgten von gestern nur allzu leicht zu den Verfolgern von heute. Schließlich lehrt ein Blick in die Geschichte der Revolutionen, wie rasch Revolutionäre bereit sind, die gewonnene Freiheit gegen das altbekannte Gefängnis einzutauschen, auch wenn auf dessen Dach eine neue Flagge weht.
Die Revolution frisst ihre Kinder, ja. Die andere Seite dieser Tragik betrifft die Täter, die das Leid der Opfer (und deren Nachkommen) verleugnen müssen, um ihre Schuldgefühle abzuwehren. Wer an die vergangenen Untaten erinnert, gilt in ihren Augen als Nestbeschmutzer und wird als Vaterlandsverräter beschämt und beschuldigt. So schützen sich die Täter (und ihre Nachkommen) vor Scham und Schuld: Sie verordnen Schweigen oder bezeichnen das Geschehene als ungeschehen (so in der Türkei den Völkermord an den Armeniern). Und sie rechtfertigen die eigenen Untaten als Notwehraktionen oder glorifizieren sie gar als Heldentaten. Hollywood hat diese Täter-Opfer-Umkehr in bunt kolorierten Westernfilmen, in denen man nichts über Sklavenarbeit, Landraub und Völkermord erfährt, blendend vorgemacht. Da fallen grausame Rothäute über weiße Frauen her und skalpieren friedliche Siedler, die doch nur ihre Felder bestellen und am Sonntag fromm in der Kirche beten wollten. Was bleibt den armen Weißen denn anderes übrig, als sich gegen die wilden Horden zur Wehr zu setzen? Cécile Calla hat diese Strategie der Verleugnung und Bagatellisierung des Unrechts am Beispiel der Geschichte Frankreichs wie folgt beschrieben: „Generationen französischer Kinder – und zu denen gehöre ich – wurde allzu lange eine einzige Perspektive vermittelt: die ‚Größe‘ des französischen Kolonialreichs und die Vorzüge dieses ‚zivilisatorischen‘ Prozesses für die Kolonien […]. Die dunklen Seiten, Massaker, Repression, Diskriminierung der dortigen Bevölkerung […] wurden kaum oder nur am Rande erwähnt“ (Calla 2017).
Vier Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges in Algerien brachen zwei Hauptverantwortliche für Folter und Massaker dann doch noch ihr Schweigen. Der 92-jährige Ex-General Jacques Massu bedauerte in Le Monde, dass er entsprechende Befehle erteilt hatte (s. Planchais, Beaugé 2008). Anders sein Stellvertreter, der 83jährige Ex-General Paul Aussaresses, der sich brüstete, eigenhändig FLN-Kämpfer liquidiert zu haben. „Ich beging im Interesse meines Landes […] Handlungen, die von den normalen Moralvorstellungen missbilligt werden […]: stehlen, morden, verwüsten, terrorisieren. Man hatte mir beigebracht, Schlösser aufzubrechen, ohne Hinterlassung von Spuren zu töten, zu lügen, gleichgültig […] gegen die Leiden der anderen zu sein, zu vergessen und [als Täter – B.N.] vergessen zu werden. All das für Frankreich“ (Aussaresses 2001 – zit. nach Amnesty International 2001). Aussaresses hatte nach dem Ende des Algerienkrieges nichts zu befürchten, denn aufgrund einer Amnestie konnten ehemalige Armeeangehörige selbst dann nicht mehr strafrechtlich belangt werden, wenn sie schwerste Verbrechen begangen hatten (Arens, Thull 2001). Schließlich war Emmanuel Macron wenigstens bereit, das Unrecht beim Namen zu nennen, als er im Februar 2017 Algerien besuchte. Er nannte die Kolonisierung des Landes ein „Verbrechen gegen die Menschheit“ und „forderte, der französische Staat müsse sich dafür offiziell entschuldigen“ (Calla 2017).
Postskriptum
Vor vielen Jahren sagte ein Dorfältester der Dogon zu den Europäern, die nach Afrika gereist waren, um mit ihm zu sprechen, die Weißen seien zu sehr mit Denken beschäftigt. Und sie würden zu viele Sachen machen. Je mehr Sachen sie machen würden, umso mehr müssten sie nachdenken. Paul Parin und Goldy Parin-Matthey – das waren die Ethnopsychoanalytiker, die mit dem weisen Mann sprachen – dachten nach und gaben dem Buch, in dem sie über ihre Gespräche berichteten, den Titel: Die Weißen denken zuviel (1963). Daran angelehnt könnte ein Buch über die Kolonialgeschichte in Algerien und anderswo den Titel tragen: „Die Weißen vergessen zuviel.“ Eben unter diesem Titel ist mein hier vollständig überarbeiteter und ergänzter Beitrag erstmals erschienen: Die Weißen vergessen zuviel. Die Schlacht um Algier, zum Beispiel in L. Burkhardt, H. Hierdeis, T. Hug (Hrsg.): Kritische Lektionen. Innsbruck University Press 2017, S. 139-150.
Literaturangaben
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Die Schlacht um Algier.
(La battaglia di Algeri) Italien/Algerien 1966.
Regie: Gillo Pontecorvo .
Darsteller: Jean Martin, Yacef Saadi, Brahim Hadjadj.
Länge (restaurierte deutsche Synchronfassung): 117 Min.