Sätze ohne Verschnaufpause

Melinda Nadj Abonji schildert in „Schildkrötensoldat“, wie man zum Kind seiner Zeit gemacht wird

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Melinda Nadj Abonji, selbst in der Provinz Vojvodina geboren und als Kleinkind mit der Familie in die Schweiz ausgewandert, hat ihren Erfolgsroman Tauben fliegen auf (2010) der Heimat, aber vor allem der Migration ihrer Eltern in die Schweiz und den Integrationserfahrungen zweier Generationen gewidmet. Sieben Jahre später schickt sie in ihrem nächsten Roman eine Protagonistin aus der Schweiz in die andere Richtung, auf die Spuren ihres Cousins ins serbisch-ungarische Kriegsgebiet der 1990er Jahre.

Die Protagonistin, mal Anna und mal Hanna genannt, erzählt diese Geschichte, die sich in ihrem Kopf, ihren Erinnerungen, abspielt. Von Zoltán „Zoli“ Kertész handelt sie, dem Sohn ihrer Tante Zorka, der als Junge vom Motorrad seines Vaters fiel, der „zu kurz im Mutterbauch gelegen“ sei, wie der strenge Bäcker, bei dem er arbeiten darf, behauptet. Das Elternhaus ist schmutzig, von Alkohol und Schimpftiraden der Eltern zersetzt. Auch der Bäcker behandelt Zoli nicht gut, nutzt ihn als ungeliebten Hilfsarbeiter aus, mehr noch: Er degradiert ihn zur Zielscheibe seiner Launen. Obwohl die Eltern gehofft hatten, er würde dort einen anständigen Beruf lernen und bleiben können. Die Armee erscheint beim aufkommenden Krieg als der letzte Ausweg. Er soll ein richtiger Mann, ein Held, werden. Und so nimmt das erbarmungslose Schicksal seinen Lauf, wird das kindliche Gemüt, der selbsternannte König der Kreuzworträtsel, der Träumer mit den schönen blauen Augen und dem grünen Daumen, vom erbarmungslosen Soldatenleben zerstört. Ob nun Krieg ist oder man sich darauf einschwört – in der Armee ist kein Platz für Sentimentalitäten oder Romantik. Jede Blöße wird ausgenutzt und zum Hänseln und zur Schikane freigegeben. Man darf niemals Angst zeigen. „Stirb oder töte!“ bläuen sie dir in den Kasernen der Welt ein.

Hanna macht sich zu spät aus der Schweiz auf und kommt vier Monate zu spät an Zolis Grab an. Sie findet weder bei seinen Eltern noch in der Kaserne Antworten auf ihre Fragen zu ihrem Cousin, der wohl zur falschen Zeit am falschen Ort war. 

Nadj Abonji geht es in Schildkrötensoldat nicht um den Bürgerkrieg, der zum Zerfall Jugoslawiens führte. Ihr geht es darum, die Sinnlosigkeit von Armeen und Krieg, die Brutalität, mit der feinfühlige junge Menschen gebrochen und geschliffen werden, anzuprangern. Zoli wäre auch ohne Krieg auf der Verliererseite des Lebens gelandet, hätte aber seine Talente mit etwas einfühlsamerer Unterstützung bestimmt nutzen können. So aber liefern ihn die eigenen Eltern einer Maschinerie aus, die „aufmarschiert, um sich selbst und die Menschen im eigenen Land zu töten“. Wie aber soll ein junger Mann, der sich durch seine naive Gefühlswelt und Denkweise der Realität widersetzt, verstehen, was kaum ein Gelehrter versteht?

Die Stärke der Autorin liegt in den lebhaften psychologischen Beschreibungen von Zolis Welt und seiner Wahrnehmungsweise, in der Schilderung seiner Art, wichtige W-ö-r-t-e-r zu buchstabieren, wie im von ihm so geliebten Kreuzworträtsel. Seine Gedanken folgen weder den Regeln der Groß- und Kleinschreibung noch fügen sie sich zu klar strukturierten Sätzen zusammen. Die ungewohnte Schreibweise verleiht dem Roman einen fast schon musikalischen Rhythmus und stellt beim Lesen eine große Nähe zu den Geschehnissen her.

Schildkrötensoldat ist durch seine rhetorisch-stilistischen Eigenschaften als Roman bemerkenswert, nicht als Aufarbeitung der historisch-geographischen Umstände und der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kroaten in Vukovar oder der serbisch-ungarischen Vojvodina. Als solches ist es ein Meisterwerk der Stille, der Verlorenheit eines Landes und Volkes kurz nach dem Zerfall Jugoslawiens.

Titelbild

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
173 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427590

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