Wir sind digitaler, als wir denken

Armin Nassehi legt eine weitreichende Theorie der „digitalen Gesellschaft“ vor

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Fragen sind so einfach, dass man sie nie stellt: Warum wollen wir nicht weniger Daten, sondern immer mehr und bessere? Warum werden digitale Technologien in allen Gesellschaftsbereichen eingesetzt? Warum erwartet niemand eine ausführliche Begründung, wenn Annegret Kramp-Karrenbauer sagt, wir bräuchten 5G „an jeder Milchkanne“? Warum erkennen wir nicht, dass es sich beim „selbst fahrenden Auto“ um eine Tautologie handelt? Noch einfacher, noch grundsätzlicher, noch verblüffender und deshalb auch noch wichtiger ist die Kernfrage des neuen Buches Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft von Armin Nassehi: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“ Der Münchner Soziologe tut also das, was sein Londoner Kollege Richard Sennett mit Bezug auf jede Technologie einforderte: nicht von den Möglichkeiten der Maschine her zu denken, sondern von den Bedürfnissen des Menschen.

Diese menschlichen Bedürfnisse konzipiert Nassehi nun allerdings ganz anders, als wir es von herkömmlichen Digitaldebatten gewohnt sind. Er wendet sich gegen beide dort dominanten Positionen: einerseits gegen diejenigen, die in der Implementierung digitaler Technologien eine fundamentale Neuerung sehen, die disruptiv alles Bisherige auf den Kopf stellt, und andererseits gegen diejenigen, die ihre Hoffnung auf die regulativen Kräfte des Staates richten und annehmen, man könne die ubiquitäre Datengenerierung mit relativ geringem Aufwand einhegen. Nassehis Einwände gegen die beiden Positionen sind eng miteinander verbunden. Er argumentiert, dass der Grund, warum wir weiterhin und in immer größerem Maßstab sowohl bewusst als auch unbewusst Daten generieren, genau darin liegt, dass die Digitalisierung eben nichts grundsätzlich Neues ist.

Seine Kernthese lautet, dass die moderne Gesellschaft ihrer Grundstruktur nach immer schon digital war und dass neue Technologien diese Digitalität nur mit neuen Mitteln und mit erhöhter Effizienz auswerten und nutzbar machen. Dies betreffe sowohl die nur vermeintlich neuen „Optionen“ der Selbstoptimierung (die Nassehi mit klassischen Bildungskonzepten in Einklang sieht) und des Trackings, hinter dem eine mindestens anderthalb Jahrhunderte alte Sozialstatistik stehe, als auch die Grundanlage eines Weltentwurfs, der sich in einer Folge von binären Feststellungen aktualisiert – ob etwas zu Geld zu machen ist oder nicht, ob etwas dem Machterhalt dient oder nicht, ob etwas wahr ist oder nicht usw. Für die Moderne kennzeichnend sei nicht nur diese binäre (digitale) Logik an sich, sondern die „Ausdifferenzierung“ der entsprechenden „Funktionssysteme“ – eine Fragmentierung (deren Diagnose für die Kulturkritik seit Friedrich Schiller topisch ist), aus der ein Orientierungsbedarf entsteht, gerade im Umfeld einer schärfer in den Blick kommenden, durchaus stabilen, aber eben nun als multizentrisch erkannten gesellschaftlichen Ordnung.

Nassehis inhaltliche Provokation, die mit dem Buchtitel Muster bereits angedeutet ist, liegt in der Aussage, dass sowohl die Leichtigkeit, mit der digitale Technologien Daten sammeln können, als auch die Lust und Selbstverständlichkeit, mit der wir sie auswerten, darauf gründet, dass die Gesellschaft auch nach Jahrzehnten und Jahrhunderten der „Individualisierung“ und verschiedener Wellen von Emanzipation und Selbstbestimmung regelmäßiger ist, als Liberale sich das eingestehen wollen.

In einem für sein Fachgebiet sicher schmeichelhaften weiteren Schritt argumentiert Nassehi, dass diese Regelmäßigkeit von der Soziologie sowohl analytisch festgestellt als auch pragmatisch hervorgebracht als auch praktisch nutzbar gemacht wird. Die Soziologie tue nichts anderes als die Digitaltechnik, nur diene ihre Arbeit nicht primär kommerziellen Zwecken. Sein Umkehrschluss lautet, von mir noch etwas zugespitzt: Digitalpioniere sind vor allem geschäftstüchtige Soziologen. Eine ähnliche Denkfigur findet sich bereits bei dem Historiker Peter Turchin. Sie vollzieht im Übrigen das nach, was in naturwissenschaftlichen Diskursen gang und gäbe ist.

Der wirklich bahnbrechende Beitrag von Nassehis Buch zum Digitalisierungsdiskurs liegt an anderer Stelle: in der Analyse des Abbildungscharakters von Daten. Nassehi benutzt den Begriff der Verdoppelung. Wiederum steht seine Analyse quer zu zwei Polen des Digitalisierungsdiskurses: Die einen sehen Daten einfach als Teil einer epistemisch letztlich einheitlichen, flachen Welt, wobei die besondere Attraktivität der Daten darin besteht, dass sie die sie umgebende Wirklichkeit in einem deutlicheren Licht erscheinen lassen. Für die anderen stehen Daten außerhalb – es sind fast schon groteske Reduktionen, verzerrte Residuen abstrakter Rechenoperationen.

Dagegen leitet Nassehi seine Analyse von Ernst Cassirer her, in Anlehnung an den er die These aufstellt, „dass wir nicht Digitales sehen, sondern dass wir digital sehen“. Dieser digitale Blick – auf eine strukturell digitale Gesellschaft – versteht „Variationswahrscheinlichkeiten“ (ergänze: statt sich in revolutionären Fantasien zu ergehen), die er als solche epistemisch aber auch erst konstituiert. Wie das geht, untersucht Nassehi unter Hinweis auf Martin Heideggers Voraussage einer Kybernetisierung der Philosophie und Jacques Derridas Denken der Différance: „Mit der Beschreibung entstehen auch die Beschreibungsmittel“, und wo Wissen vor allem an der Möglichkeit interessiert ist, einmal noch mehr zu wissen, kommt es zum „Vorrang der Methode vor dem Gegenstandsbezug“. Nassehi zeigt in beeindruckender Tiefenschärfe, wie Daten „in der Lage sind, die Gesellschaft so zu verdoppeln, dass es sich auf die Sinnverarbeitungsregeln der Gesellschaft auswirkt“ – die Art, wie wir analysieren, bedingt sowohl die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft wahrnehmen, als auch die Gegebenheit (lat. datum = das Gegebene) dieser Gesellschaft selbst, mit der Folge, dass die Fragen, mit denen diese Rezension begann, eben normalerweise nicht gestellt werden.

Darauf aufbauend zeigt der Autor, wie die Vielfalt der möglichen Verknüpfungen von Daten einerseits eine verunsichernde Wirkung hat (sehr vieles scheint plausibel, sehr vieles scheint möglich), andererseits aber durch das weitgehende Funktionieren der technischen Infrastruktur letztlich doch widerstandslos und krisenfest ins Alltagshandeln einbezogen wird.

Diese systemtheoretisch untermauerte Analyse leistet einen wertvollen Beitrag zu den gerade in Deutschland oft blauäugigen Digitalisierungsdiskursen, die nicht zuletzt an der semantischen Unschärfe des Begriffs „Digitalisierung“ selbst leiden. Sie ist aber in einer Hinsicht zu ergänzen, und in einer anderen scheint mir das Gegenstück zur digitalen Wahrnehmung nicht richtig gekennzeichnet. Beide Aspekte hängen miteinander zusammen. Ich will sie abschließend kurz umreißen.

Armin Nassehi bringt seine durchaus brillante und erfrischend differenzierte Darstellung der Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenz auf den Punkt, dass auch „die KI eben nur kann, was sie kann“ (selbst wenn sie, wie er darlegt, herkömmliche Technologien dadurch übertrifft, dass sie auch abduktiv handelt). Wir sollten sie also nicht überschätzen und uns nicht zu sehr einschüchtern lassen. Das ist sicher richtig, aber die beruhigend gemeinte Einschränkung würde präziser, wenn sie auf den letzten Nebensatz verzichtete: Auch die Künstliche Intelligenz ist dadurch in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt, dass sie nur kann. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels hat das einmal so pointiert. Mit anderen Worten: Auch der höchstentwickelten Maschine mangelt es am Pathischen. Sie konzipiert ihren Handlungsspielraum einzig als Aktionsradius, als Raum zur Anwendung ihrer Fähigkeiten, und alle Gegenstände darin als Informationsquellen. Einen Mitmenschen, der mich nur als Informationsquelle wahrnimmt, würde ich zumindest als unangenehm, wahrscheinlich auch als brutal, gewissenlos und gefährlich wahrnehmen, eben weil er „mich“ nicht sieht.

In einer der bemerkenswertesten Passagen des Buches fragt Nassehi nach diesem Sehen. Er zieht Technikkritiker wie Heidegger und Friedrich Georg Jünger heran, und zwar als Denker eines „Gestaltsehens“, das den Anderen nicht ohnehin und ausschließlich zum Träger von Informationen macht. Allerdings weist er diese Art des Sehens letztlich als barbarisch zurück:

Es ist eine hohe zivilisatorische Errungenschaft, dass wir andere Menschen im Alltag eben nicht als ganze Menschen betrachten müssen, sondern gewissermaßen kybernetisch auf wenige Rollen innerhalb von Informationsströmen reduzieren und deshalb für geradezu indifferent halten können. Wer das nicht für eine Errungenschaft hält, möge sich versuchsweise in die Situation von jemandem versetzen, der von anderen stets in seiner vollständigen „Gestalt“ wahrgenommen wird, mit Haut und Haaren gewissermaßen. Dann bleiben Frauen in der Situation aufs Frausein beschränkt, Schwarze auf ihre Hautfarbe, Behinderte auf ihr Gefährt und Homosexuelle auf ihr Begehren.

Genau das ist freilich nicht der Fall. Das Problem liegt schon im Plural, mit dem hier operiert wird. Ich kann gar keinen gesamtgestaltlichen Eindruck von „Frauen“ empfangen, weil die Begegnung eben zwischen mir und einer Anderen stattfindet. Selbst wenn mir mehrere Frauen gegenübertreten, ist die Gruppe eine spezifische, keine kategoriale. Der Gestalteindruck sieht eine Andere oder einen Anderen eben nicht gleich „als“ Frau, Schwarzen, Behinderten. Dieses „als“ ist eine Rollenzuweisung, eine Einordnung, das Resultat einer Auswertung bestimmter Wirklichkeitsbereiche, die für die digital-kybernetische Wahrnehmung kennzeichnend ist, aber nicht die gestaltliche Begegnung.

Kronzeuge für diese Begegnung ist Emmanuel Levinas, der in der Konfrontation, im offenen, asymmetrischen, unvermittelten Augenblick ethische Praxis lokalisiert. Insofern ist Nassehis polemische Mahnung, den Anderen „nicht zu sehr auf eine Gesamtgestalt festzulegen“, geradezu ein Oxymoron. Zugegeben: Levinas spricht nicht von der „Gestalt“, aber er geht davon aus, dass es die Möglichkeit gibt, den Anderen so zu erfahren, dass nicht nur alle Voreingenommenheit, sondern Voreingenommenheit an sich in Frage gestellt wird. In Nassehis semiotischer und epistemologischer Analyse des digitalen Zeichens und der entsprechend funktionierenden Gesellschaft ist diese Möglichkeit nicht zu erkennen.

Umso spannender und gerade für „digitalpolitische“ Entscheidungsprozesse relevanter ist die abschließende Wendung, Künstliche Intelligenz vom Anschein her zu verstehen, den sie erweckt: Was hinter der Benutzeroberfläche liegt, sei unsichtbar und so wenig voraussehbar, dass wir Motive unterstellen, also eine bestimmte Form von Intelligenz. Diese Perspektive wirft dann eine weitere Frage auf, die nie gestellt wird: Warum freuen wir uns eigentlich, wenn wieder eine Maschine etwas besser kann als wir selber? Jeder LinkedIn-Nutzer findet täglich Dutzende neue Äußerungen solcher Art. Nassehis unter Verweis auf Bruno Latour entwickelte Antwort könnte lauten (wenn ich noch einmal eine Zuspitzung wagen darf): weil wir die Maschine eben nicht als kategorial von uns verschieden, sondern als eine Art „Mitwesen“ wahrnehmen.

In der Einleitung benennt Armin Nassehi sein „Programm“: „die erste Gesellschaftstheorie der digitalen Gesellschaft vorzulegen“. Sowohl die hier vorgelegte Theorie als auch bereits der gedankliche Freiraum, auf den sie zurückgeht, sind brisant.

Titelbild

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
351 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783406740244

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