Der Mann aus dem Eis

In Arnaldur Indriðasons neuem Roman „Verborgen im Gletscher“ muss sich der pensionierte Polizist Konráð noch einmal mit einem 30 Jahre alten Fall beschäftigen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine deutsche Touristengruppe stößt bei einer Wanderung auf dem Langjökull-Gletscher auf eine männliche Leiche. Der 30-jährige Einschluss in das Eis hat den Toten nahezu vollständig konserviert, sodass es nicht mehr als eines Blickes von Konráð, einem pensionierten ehemaligen Reykjavíker Polizisten, bedarf, um dem unter Schlaflosigkeit leidenden Mann einen alten Fall ins Gedächtnis zurückzurufen. 1985 verschwand  auf mysteriöse Weise der Fischereiunternehmer Sigurvin. Obwohl die Polizei damals ein Verbrechen vermutete und sich auch schnell ein Verdächtiger fand – der Geschäftspartner des Verschwundenen namens Hjaltalín –, konnte dem Mann, der Sigurvin vorwarf, ihn um Geld betrogen zu haben, die Tat nicht nachgewiesen werden.

Nun, nach dem Aufsehen erregenden Fund auf dem Gletscher, landet Hjaltalín für kurze Zeit wieder hinter Gittern. Der inzwischen Sterbenskranke hat Jahrzehnte unter dem Verdacht, ein nicht überführter Mörder zu sein, gelitten. Im Gefängnis verlangt er, mit Konráð zu sprechen, weil der ihm damals offensichtlich seine Unschuldsbekundungen abgenommen hatte. Kurze Zeit später stirbt Hjaltalín an den Folgen seiner Krebserkrankung. Und Konráð taucht noch einmal in ihrer beider gemeinsame Vergangenheit ein, um den vertrackten Fall um einen dreißig Jahre ungesühnten Mord und einen Verdächtigen, der danach nie wieder Ruhe fand, endlich zu lösen.

Arnaldur Indriðason (geboren 1961 in Reykjavík), Islands gegenwärtig erfolgreichster Kriminalschriftsteller, präsentiert nach der elfbändigen Kommissar-Erlendur-Reihe, mit der er international bekannt wurde (1997–2010), sowie zehn weiteren Romanen, von denen nicht jeder das Niveau der Erlendur-Bände erreichte, mit dem pensionierten Polizisten Konráð erneut einen serienreifen Charakter. Seinen ersten Auftritt hatte der Mann bereits in dem im isländischen Original 2013 erschienenen Roman Schattenwege (deutsch 2015). Dort führte den Pensionisten eine privat betriebene Ermittlung bis in seine Kindheit in den 1940er Jahren zurück. Am Ende gelang ihm schließlich die Lösung eines mehr als ein halbes Jahrhundert alten Kriminalfalls.

Auch in Verborgen im Gletscher sind es Konráðs Neugier und sein unbedingter Wille, noch nach 30 Jahren einem Ermordeten und dem Mann, von dem viele damals glaubten, dass er der Mörder sei, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihn motivieren und die Handlung in Gang setzen. Dabei führen seine Ermittlungen Konràð nicht nur zu jenem ungelösten Fall zurück, sondern auch zu dem gewaltsamen Tod seines ungeliebten Vaters, der ebenfalls bis in die Gegenwart ungesühnt geblieben ist.

Hjaltalín spielt auf diese Konráð in seinen schlaflosen Nächten bedrängende Geschichte an, wenn er den Mann, der als Einziger Zweifel an seiner Täterschaft hatte, mit der Erinnnerung an den ähnlich gelagerten Fall davon zu überzeugen sucht, sich noch einmal mit dem Mord an Sigurvin zu befassen und endlich dafür zu sorgen, dass der wahre Täter gefunden wird. Und tatsächlich stößt Indriðasons hartnäckiger Ermittler auf Spuren, die das, was damals geschah, plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Vor allem aber ist es ein als Unfall in einer eisig kalten Schneenacht getarntes jüngeres Verbrechen, das offensichtlich begangen wurde, um einen Zeugen auszuschalten, der Licht in das Dunkel um den alten Fall hätte bringen können.

Verborgen im Gletscher ist ein ruhig erzählter Kriminalroman, der – wie die meisten Bücher von Arnaldur Indriðason – nicht auf Action, sondern auf ein genaues Ausloten der Innenwelten seiner Figuren setzt. In Konráð besitzt er einen grüblerischen Einzelgänger als Ermittler, der (darin nicht unähnlich seinem Vorgänger Erlendur, den ein traumatisches Kindheitserlebnis in den Ostfjorden Islands ein Leben lang sowohl beschäftigte als auch motivierte) das frühe, gewaltsame Ende seines Vaters wie auch den nur wenige Jahre zurückliegenden Krebstod seiner Frau zu verarbeiten hat. Während seine Gedanken sich immer wieder um diese beiden Personen, die sein Leben maßgeblich prägten, drehen, ist die Ermittlungsarbeit, in die er sich, nicht immer zur Freude seiner alten Kollegen, stürzt, das Mittel für ihn, sich auch nach dem Ende seiner Polizeikarriere lebendig und gebraucht zu fühlen. Dass nach der Lösung des drei Jahrzehnte alten Mordfalls ein paar lose Fäden bleiben, eröffnet für den Autor die Möglichkeit, an diesen ersten weitere Bände mit seiner melancholischen Zentralfigur anzuschließen. Leser, die von Spannungsliteratur auch Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge und Problemstellungen erwarten, würden das sicherlich begrüßen.

Titelbild

Arnaldur Indriðason: Verborgen im Gletscher. Island Krimi.
Übersetzt aus dem Isländischen von Anika Wolff.
Bastei Lübbe, Köln 2019.
366 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783785726570

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