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Sarah Jägers wunderbar lebendiges Debüt „Nach vorn, nach Süden“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entenarsch ist nun wirklich kein schöner Name. Doch es hilft alles nichts, wenn man zur Clique im Penny-Hinterhof gehören will. Den Namen bekommt man, ob man will oder nicht. Und behält ihn.

Lena heißt eine junge Frau, Erstsemester, die bei ihren Eltern ausgezogen ist. Eigene kleine Wohnung, Opel Corsa, keine Fahrpraxis. Die Unterstützung der Eltern reicht nicht, weswegen sie im Penny-Markt einer Ruhrgebietsstadt einen Nebenjob hat. Und der ist fast so etwas wie der Mitgliedsantrag bei besagter Hinterhof-Truppe. Dass sie Lena heißt, erfährt man erst ganz zum Schluss von Sarah Jägers Debütroman Nach vorn, nach Süden. Vorher heißt sie Entenarsch, weil Jo ihr diesen Namen verpasst hat. Ein Grund, diesen Kerl zu finden, denn er ist seit einiger Zeit verschwunden, nicht mehr im Hinterhof aufgetaucht. Ein anderer Grund für die Suche ist Marie. Sie vermisst Jo, sie liebt ihn. Noch immer und trotz allem.

Diese möglicherweise ein wenig harmlos klingenden Episoden aus dem Leben junger Menschen und viele weitere bündelt die Autorin zu einem außergewöhnlich lebendigen Roman, der vom Verlag ab 14 Jahren empfohlen wird, doch nach Meinung des Rezensenten das Zeug hat, ein Roman für Erwachsene jeden Alters zu sein. Nach dem LUCHS-Preis von DIE ZEIT und Radio Bremen sollten künftige Preise für dieses tolle Buch nicht ausschließlich das Etikett Jugendbuch tragen. Der Rowohlt Verlag war trotz Einordnung in die Rubrik „Rotfuchs“ so weitblickend, Nach vorn, nach Süden mit einem Cover zu versehen, dass dem Buch über die Jugendbuch-Abteilungen der Buchhandlungen hinaus eine Platzierung ermöglicht.

Weiter im Text. Es ist Sommer, es ist heiß, man hängt im Hinterhof ab, erzählt sich Dies und Das. Und je länger man die Gruppe begleitet, umso klarer wird, wie wichtig diese Treffen sind, wie sehr der Hinterhof Familienersatz ist. Sarah Jäger gelingt etwas sehr Besonderes – indem sie die Interaktionen der einzelnen Gruppenmitglieder beschreibt, deren jeweilige individuelle Sprechweise, ihre Charaktere, entsteht bei der Lektüre sowohl ein intensives Bild der Gruppe, als auch eine klare Figurenzeichnung jedes Einzelnen. Und das völlig unangestrengt und sehr frisch.

Vor allem anderen ist es Jägers Sprache, die diesem Debüt eine Vitalität verleiht, die man sich häufiger wünscht. In der direkten Rede, in den Dialogen pustet sie zum Teil alles, was staubig oder abgestanden sein könnte, so kräftig durch, dass es eine Freude ist, man unweigerlich grinst oder giggelt oder brüllt. Ein Beispiel: „Kommt so hübsch daher. Mit dem Dom und so weiter. Dabei ist Fulda das übelste Endmonster. Ich kenn keinen, der schon mal hier war. Und man hört auch nie was von Fulda. Warum wohl? Weil sich niemand hintraut. Machen alle einen fetten Bogen drum, um dieses Fulda. Okay. Der Dom. Der ist schon ordentlich barockig, also, da sagste nichts, der macht was her, der Dom.“ Der so spricht ist Can, ganz klar einer der Stars des Ensembles, meist locker, nicht auf den Mund gefallen, doch hat natürlich auch er seine Schwächen, seine schlechten Momente, sein Päckchen zu tragen.

In Fulda sind sie, weil sie ja auf der Suche nach Jo sind und weil Lena die einzige mit Auto und Führerschein ist und daher, obwohl sie im Hinterhof eher eine geduldete Außenseiterin ist, zur Fahrerin und Ansagerin wird. Und somit zur Erzählerin dieses Buches. Wohin sie fahren könnten, sollten, müssten, erschließt sich aus Postkarten, die Jo an Marie geschrieben hat; die grobe Tourenplanung gibt dem Buch den Titel. Und klar: auf diesem Trip – sie haben ja alle kaum Geld, die da im Corsa sitzen und schwitzen – treffen sie andere Leute, vergleichen andere Penny-Märkte (und deren Hinterhöfe) mit ihrem, übernachten bei neuen Bekannten, schnorren sich in Partys rein – und lernen einander besser kennen.

Auf 223 Seiten entfaltet dieses Buch viel Dynamik, sein Erzähltempo ist hoch, aber nicht überdreht, die krachenden Dialoge sind perfekt gesetzt und genau dosiert, damit das Ganze nicht zur Comedy wird. Überhaupt hat Sarah Jäger ein bewundernswertes Gespür für Dosis und Nuancierung. Das wirkt so locker trotz all dem Tiefgang, von dem es eine Menge gibt, denn all die Cliquenmitglieder haben ihre Leben, ihre Familien, ihre Gefühle, ihre Probleme.

Als Wolfgang Herrndorfs Tschick damals alle Spitzenplätze besetzte, wurde Mark Twain mit Tom Sawyer und Huck Finn als Referenzgröße herangezogen; dann wurde Tschick selbst dazu. Mittlerweile gibt es einige Bücher, die genau dieses Potenzial haben und die ebenfalls für eine breite Leserschaft zu empfehlen sind (z.B. Badeys/Kühns Strom auf der Tapete und Bov Bjergs Auerhaus). Sarah Jägers Nach vorn, nach Süden gehört auf jeden Fall in diese Liga – um es mit Cans Kumpel Achmad zu sagen: „Alles Fidschi.“

Titelbild

Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
224 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783499002397

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