Man stirbt immer nur zweimal

Markus Orths‘ Roman „Picknick im Dunkeln“ lädt zum erkenntnisreichen Besuch in den philosophischen Darkroom

Von Sascha MangliersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Mangliers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kennste den schon? Treffen sich Stan Laurel und Thomas von Aquin im Dunkeln: Sagt der eine zum anderen…“ Zugegeben: Um die Rückfrage „Thomas von WER?“ zu vermeiden, würde ein Witz mit diesem Anfang wohl nicht für jeden Kneipentresen taugen. Aber in der richtigen Runde durchaus denkbar! Der Komiker Stan Laurel und der Kirchengelehrte Thomas von Aquin, dazu noch im Dunkeln: Was aufgrund der skurrilen Voraussetzungen eine gute Basis für einen Witz abgeben würde, nutzt Markus Orths als Ausgangssituation für seinen 2020 erschienenen Roman Picknick im Dunkeln.

Stan Laurel findet sich in völliger Dunkelheit wieder. Nicht einmal die Hand vor Augen erkennt der Mann mit der Melone und der für ihn charakteristischen Fliege um den Hals. Wo ist er? Wieso? Und wo geht es hier wieder raus? Stan ist vollkommen ahnungslos. Als er nach einigen Minuten des Blindgangs auf eine andere Person stößt, wähnt Stan Laurel in dieser zunächst seinen verstorbenen Filmpartner Oliver Hardy. Doch von der feisten Statur abgesehen, könnte diese Person Ollie nicht unähnlicher sein: Es ist der heilige Thomas von Aquin. Fortan versuchen beide gemeinsam einen Weg ans Licht zu finden und die Vermutung wächst, dass dieser Weg sie direkt aus dem irdischen Leben führen wird. Aber was kommt danach?

Bereits 2005 hat Orths mit Catalina gezeigt, dass er Romane mit historischem Hintergrund schreiben kann. Und mit der gleichen Genauigkeit hat er auch für Picknick im Dunkeln Recherche für seine zwei Hauptfiguren, Stan Laurel und Thomas von Aquin, betrieben. Ob über die Klosterjahre des heiligen Thomas oder die Produktionen der Stan-und-Ollie-Filme, man erfährt allerhand Biografisches über das ungleiche Protagonisten-Paar. Auch ist die Tatsache, dass ein Absolvent eines Philosophie-Studiums einen philosophischen Roman verfasst, keine Seltenheit. Was Orths dabei aber in außergewöhnlich guter Weise gelingt, ist, die Waage zwischen Ereignissen auf der Handlungsebene der Figuren und der philosophischen Abstraktionsebene zu halten. Und das ist auch notwendig, denn das Spiel mit den Ebenen ist zentral für seinen Roman.

Thomas von Aquin lebte im 13 Jahrhundert, Stan Laurel wurde 1890 geboren. Dazwischen liegen über sechs Jahrhunderte – dennoch begegnen sie sich. An welchem Ort und zu welcher Zeit kann ein solches Treffen nur möglich sein? Der Kirchengelehrte Thomas ist überzeugt:

Die Körper von Stan Laurel und Thomas von Aquin liegen in ihren Gräbern. Oder auf dem Sterbelager. Wir sind hier keine Körper mehr, Mister. Laurel. Wir sind Seelen. Doch eine jede Seele trägt das Abbild des Körpers in sich […] Sollten wir tatsächlich tot sein, wovon ich ausgehe, so kann es nur eine mögliche Lage geben, in der wir uns gerade befinden […] Wir sind auf dem Weg…

Nüchtern auf die Handlungsebene geschaut, befinden sich die Figuren auf dem Weg aus der Dunkelheit des nachtschwarzen Tunnels ans Licht. Doch an der Frage nach dem Licht entzündet sich die Philosophie. Die Philosophie im Allgemeinen, aber insbesondere die Philosophien der so gegensätzlichen Charaktere. Arthur Stanley Jefferson, bekannt geworden als Stummfilm-Star Stan Laurel, will nicht glauben, dass sein Körper tot sein könnte – erst recht nicht, dass seine Seele nun nochmal einem Ende entgegengehen müsse. Ein zweites Mal sterben? Wohl ein schlechter Witz! Der ewige Grimassenschneider und Fliegen-Nesteler reist mit völlig anderen Hoffnungen im Gepäck neben Thomas durch die Dunkelheit. Loslassen konnte er noch nie, weder von der Albernheit seiner Filmrolle „Stan“ noch von seinem verstorbenen Freund Oliver Hardy („Ollie, oh, Ollie!“).

Für Thomas hingegen besteht kein Zweifel, dass sie Gottes Erlösung entgegenlaufen. Ein Leben lang gebetet, geschrieben, gelernt, wohin sonst sollte der Weg ihn, den „stummen Ochsen“ führen? Ins Nichts? Lachhaft. Wobei er Lachen ablehnt: „Wehe denen, die da lachen“, wie er zu sagen pflegt. Er muss vom Herrn erwählt worden sein, um seinen beständig blödelnden Weggefährten beim Weg ins Licht zu leiten. Im Laufen stets bei Stan untergehakt.

Mit jedem Schritt, den sie gehen, bewegen sie sich nicht nur physisch weiter vorwärts, sondern auch zwischenmenschlich aufeinander zu. Der Kleriker und der Komiker, der Hüne und der Hänfling, der Mittelalterliche und der Moderne: Sie haben Gemeinsamkeiten, die sich in unterhaltsam geschriebenen Dialogen herausstellen:

Und dann rief Thomas: „Kein Fleisch darf das Licht des Tisches erblicken an einem Freitag! Stattdessen Fisch! Immer nur Fisch! Entsetzliche, fleischfreie Fischtage! Ich hasse Fisch!“

„Ich auch […] Obwohl ich mein Leben lang immer gern geangelt habe, [...] gegessen habe ich die Viecher nicht“

„Dieser farblose, blinde Geschmack“, rief Thomas, immer noch in diesem seltsamen, schrillen, befremdlichen Ton. „Diese Flossenkreaturen! Auf ewig zum Hin- und Herschwimmen verdammt!“

Gemeinsamkeiten bei zwei so unterschiedlichen Menschen – oder Seelen? – wirken fast wie ein kleines Licht im Dunkeln. Von der Dunkelheit ins Licht. Dieses Motiv erinnert nicht zufällig an das wohl bekannteste Gleichnis der Philosophiegeschichte: Platons Höhlengleichnis. Und analog dazu konstruiert auch Orths den Weg seiner Figuren entlang des Erkennens. Je mehr die Figuren durch persönliche Rückblenden und den philosophischen Austausch über den Tod, die Liebe und den Sinn und Unsinn des Lachens über sich selbst erkennen, desto höhere Ebenen erreichen sie beim Durchschreiten des Tunnels. Und durch das Erkennen, sinnlich wie intellektuell, gelangen Stan und Thomas Schritt für Schritt näher an Antworten auf die Kernfragen ihrer Begegnung: „Aus welchem Grund sind gerade wir beide uns hier begegnet?“ Diese Simultanität des Voranschreitens ist nicht nur eine Raffinesse auf der Bedeutungsebene dieses Romans, sondern fesselt den Leser gleich in doppeltem Sinne an die Geschichte. Man ist zu keinem Zeitpunkt der Handlung schlauer als Stan und Thomas und deshalb umso gespannter, wie diese surreale Gefangenschaft der beiden aufgelöst wird.

Auch was den Schreibstil betrifft, hat dieser Roman philosophischen Einschlag: Mit Hypotaxen, die zuweilen über 8 Zeilen gehen, ehe man auf das ersehnte Satzende stößt, fühlt man sich stark an Kant und dessen nicht enden wollende Satzkonstrukte erinnert. Was bei modernen Philosophen schon längst ein syntaktisches No-Go darstellt, nutzt Orths hier jedoch aus stilistischen Gründen, insbesondere dort, wo Erinnerungen in den Figuren lebendig werden. Davon einmal abgesehen, glückt es Orths, mit klaren und oftmals bildhaften Formulierungen die philosophisch tieferen Gedanken so darzustellen, dass man ihnen zu jedem Zeitpunkt folgen kann.

Mit Picknick im Dunkeln bietet Markus Orths einen historisch-fiktionalen Roman an, der im Genre der philosophischen Romane zu verorten ist. In Person von Stan Laurel und Thomas von Aquin lässt er zwei fleischgewordene Gegensätze in prekärer Lage aufeinandertreffen, wodurch sich elementarste Fragen des Lebens auftun. Dabei gelingt es Orths, die inneren Erkenntnisprozesse der Figuren auch auf der Handlungsebene darzustellen. Ein Roman, der die Waage hält: Die zuweilen humorigen Erzählungen werden nicht von philosophischem Schwergewicht erdrückt, die Philosophie hingegen ist hier mehr als nur ein intellektuelles Zubrot. Eine klare Leseempfehlung für all diejenigen, die sowohl das Lachen als auch das Denken schätzen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Markus Orths: Picknick im Dunkeln.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
240 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783446265707

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