Die Perspektive des weißen Mannes

Ein Konzept zur Rassismuskritik im Literaturunterricht

Von Joachim Schulze-BergmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Schulze-Bergmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Magdalena Kißling legt mit ihrer Dissertation aus dem Jahr 2018 eine Fragestellung vor, die nicht nur interessant ist, sondern durchaus aktuell und sowohl für die Germanistik wie für die Literaturdidaktik wertvolle Anregung bietet. Kißling wirft die Frage auf, ob rassistische Implikate in fiktionale Texte eingehen, ohne dass diese bisher in der Rezeption eine Beachtung gefunden haben. Dabei grenzt sie die rassistische Perspektive auf eine weiße, d.h. eurozentrische Sichtweise ein. Vor dem Hintergrund der europäischen Kolonialgeschichte sind explizit ideologische Texte dieser Epochen bekannt. Aber Kißling untersucht drei Texte, die scheinbar frei von solchen Implikaten sind: Goethes Iphigenie auf Tauris, Fontanes Effie Briest und Koeppens Tauben im Gras.

Im Rückgriff auf die Vorstellung von Foucault, dass bestimmte gesellschaftlich relevante Themen in erkennbaren Diskursen behandelt werden, entdeckt Kißling bereits bei Goethes Text anhand der Figurengestaltung die weiße Perspektive. Noch deutlicher kann dieser Nachweis an den beiden jüngeren Texten geführt werden: Fontanes Effie lebt in einer gesellschaftlichen Kulisse, in der sich die deutsch-nationale Identität mit all ihren Vorurteilen und Stereotypen des Deutschseins langsam herausbildet und damit zugleich bestimmt, wer nicht dazugehören soll und wird. Solche Vorstellungen bestimmen die Gestaltung der eher fremden Figuren, eben der nicht ‚weißen Normalität‘. 

Tauben im Gras erscheint gleich nach dem 2. Weltkrieg und schildert das Leben in der Wiederaufbauphase in Deutschland. Dabei treffen deutsche Figuren auf solche der USA, also wesentlich ‚people of color‘. Die persönlichen Beziehungen, die sich zwischen diesen beiden Gruppen, deutsche Frauen hier und afroamerikanische Besatzungssoldaten der USA dort, entwickeln, geben hinreichenden Anlass, Vorurteile auf beiden Seiten darzustellen. Für alle diese drei Texte gilt, dass diese besondere Perspektivierung bisher nicht Thema der Literaturkritik wurde.

Kißling geht aber über diese Bestandsaufnahme hinaus, sie kündigt eine ‚postkoloniale Literaturdidaktik‘ an. Und der methodologische Aufbau dieser Konzeption dürfte von besonderem Interesse sein.  Zunächst geht es um die Frage der Legitimation der Ziele. Kißling kann belegen, dass die Texte regelhaft zu Prüfungen in der Oberstufe herangezogen werden, womit eine gewisse Passung gesichert ist. Zweitens wird das Themenfeld ‚Vorurteile-Stereotype-Toleranz‘ von den einschlägigen Lehrplänen des Deutschunterrichts zum Gegenstand erhoben, wie auch im Rahmen der Literaturdidaktik selbst eine lebendige Diskussion dazu aktuell abläuft. Sie kann belegen, dass ein kritisches Bewusstsein zu diesem Themenfeld bei der Lehrerschaft eher nicht vorhanden ist. Insofern scheint die Autorin eine gute politische wie fachwissenschaftliche Rahmung für ihren Ansatz zu haben. Wir dürfen gespannt sein, wie sie ihr analytisches Vorgehen am Text fachsprachlich vorträgt, wie sie die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die von ihr provozierte Fragestellung lenken will und welche Methoden sie dazu einsetzen möchte. Nicht zuletzt geht es darum, ob es ihr gelingt, die Lernvoraussetzungen zu nennen, die für die Zielerarbeitung einer solchen Unterrichtseinheit anzusetzen sind. 

Kißling stützt sich fachsprachlich auf die Terminologie von Genette und folgt einer literarischen Entwicklungskonzeption, wie sie Leupner und Saupe, zuletzt aber auch Schilcher und Pissarek vorgelegt haben. Dieser Ansatz unterstellt eine Progression gegenüber den relevanten narrativen Strukturen, ohne dass dazu empirische Daten vorliegen würden. Um die historische und gesellschaftliche Lage in die Analyse des gewählten Textes einbeziehen zu können, müssen die entsprechenden Informationen gegeben oder erarbeitet werden. Diese Aufgabe erscheint zunächst trivial. Aber aus der Didaktik der Geschichte und der politischen Fächergruppe ist bekannt, dass ein angemessenes Verständnis für historische und politisch-moralische Entwicklungen sich erst in der Oberstufe hinreichend entwickelt. Die Absicht der Autorin, die Lernenden in eine Perspektive gegenüber dem Text zu stellen, aus der sie die ‚Weiße Normalität‘ kritisch wahrnehmen, heißt nichts anderes, als eine selbstkritische Reflexion der Schüler*innen zu verlangen. Die Adoleszenten befinden sich in einer Phase, in der sie ihre Identität aufbauen und das Selbstverständnis, sich selbst als weiß zu verstehen, dürfte individuell in relevante psychische Strukturen hineinreichen.

Zugleich will Kißling ‚postkolonial‘ arbeiten. Das heißt aber, dass sie von einem politisch-moralischen Standpunkt ausgeht, der die zurückliegende, ggf. auch die aktuelle globale Politik kritisch betrachtet. ‚Kritisch‘ kann sich dabei auf sehr unterschiedliche Merkmale beziehen: Geht es um den nationalstaatlichen Imperialismus, geht es um rassistische Theorien oder geht es um die kapitalistische Dynamik, die sich der Industrialisierung und des technischen Fortschritts überhaupt rücksichtslos bedient und die Dritte Weltländer auf dieser Ebene in Abhängigkeiten zwingt? In jedem Fall muss der Unterricht ein erhebliches fachliches und kognitives Niveau erreichen, um diese Orientierung bei der Analyse des Textes begleitend wachzuhalten. Gerade deshalb kommt es nun auf eine Methode an, mit der die Lernenden diese anspruchsvolle Textarbeit, die zugleich deren individuelles Selbstverständnis berühren dürfte, leisten und durchhalten können. Kißling schlägt die sogenannte ‚postkoloniale Diskursanalyse‘ vor.  

Diese Analyse soll die Beziehungen zwischen dem Text und seiner Textstruktur und den außertextlichen Diskursen aufdecken. Aus dieser Entdeckung leitet Kißling die Möglichkeit ab, Ästhetik und Politik zu einem gemeinsamen Erkenntnisziel, hier ‚Kolonialismus und Rassismus‘ zusammenzuführen. Dabei will die Autorin die Textvorlage nicht zum Mittel einer ethisch-moralischen Erziehung werden lassen. Vielmehr sollen die Schülerinnen die subtilen Formen der rassistischen Diskriminierung erkennen und sodann ihre eigene ‚weiße Normalität‘ problematisieren.

Kißling hat die Lehrerbegleitmaterialien zu den von ihr gewählten Texten kritisch darauf hin gesichtet, ob die Frage des Weißseins überhaupt vorkommt, mit dem Ergebnis, dass dieses Themenfeld unbesprochen bleibt. Aus diesem Befund leitet sie ihre Vermutung ab, dass im aktuellen Unterricht die ‚weiße Perspektive‘ restabilisiert wird. Die favorisierte Methode stützt sich auf einen Zweischritt: die Identifizierung entsprechender Textpassagen und narrativer Strukturen, wie z. B. Figurengestaltungen. Da die dafür notwendige Aufmerksamkeit sich nicht aus dem Text selbst ableitet, sondern ein Vorwissen verlangt, das in die Unterrichtsplanung einbezogen werden muss, empfiehlt Kißling Materialien aus der außerschulischen Bildungsarbeit. Um im Text die zunächst verborgenen Anteile der weißen Perspektivierung aufzufinden, schlägt Kißling die Einführung des Begriffes ‚Rasse‘ vor, von dem sie sich eine präzisere Wahrnehmung gegenüber dem Textinhalt, also der Figurenzeichnung, der  Perspektivenstruktur, der Raumdarstellung und der Intertextualität, erhofft.

Dabei wird auffallen, dass die rassistisch markierten Figuren starr wirken, weil sie keine Entwicklung durchlaufen. Sind so die people of color identifiziert, möchte Kißling einen Perspektivenwechsel der Lesenden einleiten: Was wissen sie über die Anderen, was über sich selbst? Dabei könnten die Bezüge der Figuren zu ihren sozialen Schichten, ihre geschlechtliche Kennzeichnung und ihre Verflechtungen in Machtverhältnisse zu den ‚weißen‘ Figuren offengelegt werden. Kißling geht davon aus, dass dieses Vorgehen als ein ‚Lesen gegen den Strich‘ wirksam wird. In einem zweiten Untersuchungsschritt soll untersucht werden, wie die Figuren sich zu dem Themenfeld äußern und übereinander sprechen. Es kann gelingen, die Perspektivenstruktur der Figuren und des Erzählers als einen Ausdruck weißer Ordnungssysteme zu erkennen.

Schließlich erfolgt ein dritter Analyseschritt, der die Intertextualität und die Raumsemantik ins Auge fasst. Verweise des Textes auf koloniale Räume, die den damaligen oder noch immer virulenten Diskursen in der Gesellschaft entsprechen und von daher verständlich sind, können als unbeabsichtigte oder bewusste und markierte Merkmale der gewählten Erzählformen durch den Autor verstanden werden. Kißling scheint weder den FachlehrerInnen, noch allein der Anwendung dieser methodischen Schrittfolge eine zielführende Wirkung zuzutrauen. Sie verweist deshalb auf Anti-Bias- und Social-Justice-Ansätze, deren Quellen aus den USA kommen und auch in Deutschland in einigen Angeboten vorliegen. Diese Konzepte arbeiten mit der biografischen Erfahrung der Beteiligten, mit Körperübungen und empathischen Aufgaben, welche im Unterricht greifen sollen.

Zu Recht weist Kißling darauf hin, dass in einer Lerngruppe, in der SchülerInnen mit rassistischen Erfahrungen anwesend sind, diese dazu neigen können, den ‚weißen Blick‘ deshalb zu übernehmen, weil sie versuchen, damit ihrer sozialen Anerkennung zuzuarbeiten. Diese Möglichkeit ist denkbar, müsste aber noch durch die Variante ergänzt werden, dass eine rassistische unterrichtliche Thematisierung und bewertete Arbeit auf Grund der persönlichen Zumutung verweigert wird.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der ambitionierte Zugriff und die Fragestellungen durchaus ihre Berechtigung haben. Allerdings muss der Autorin entgegengehalten werden, dass sie die Frage nach der Passung von Leser und Text nur postuliert, eigentlich nur solche Bedingungen aufzählt, die sich aus der germanistischen Sicht ergeben. Die notwendigen Erwerbsvoraussetzungen, die psychischen Imperative der Adoleszenz und nicht zuletzt die fehlende empirische Basis ihres Ansatzes lassen viele der behaupteten Wirkungszusammenhänge als hoch spekulativ erscheinen. Dennoch ist nicht nur der Autorin, sondern der Literaturdidaktik zu wünschen, diese Leerstellen in der wissenschaftlich begleiteten Unterrichtspraxis schließen zu können.

Titelbild

Magdalena Kißling: Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020.
432 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783849813338

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