Bars und Heiligenkult, Bauruinen und Olivenöl
Thomas Steinfeld erzählt umfassend von Italien und bietet ein „Porträt eines fremden Landes“
Von Georg Patzer
Die Italiensehnsucht ist alt, älter als Goethe, der ja dorthin geflohen war. Die „grand tour“ der englischen Adligen, die Reisewelle der Deutschen ab den fünfziger Jahren, …: Das „Land, in dem die Zitronen blühen“ zieht die Menschen immer wieder und immer noch an. In Corona-Zeiten war eine wichtige Frage: Wann können wir wieder nach Italien fahren? Natürlich an den Strand. Oder nach Rom, in die Ewige Stadt, zu all den Kulturschätzen. Und das Essen … und die Bars … Dabei ist das natürlich ein Klischee, Italien ist anders, als ein schönes, ungern hinterfragtes Vorurteil behauptet. Armut, Kriminalität werden dabei gern ausgeblendet, zumal im Urlaub. Aber da wären auch viele andere Seiten von Italien, die man erst dann erlebt, wenn man dort längere Zeit verbringt.
So wie der Journalist Thomas Steinfeld, der zwischen Dezember 2013 und Frühjahr 2018 als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Venedig lebt. In seinem Buch Italien. Porträt eines fremden Landes erzählt er andere Geschichten und kommt damit dem eigentlichen Charakter des Landes tatsächlich ein wenig näher. Seine Erkundungsreisen beginnen in Ligurien und führen über den Süden und Sizilien wieder zurück in den Norden.
Ligurien ist eine vertikal gegliederte Landschaft. Erschlossen wird sie durch Terrassen, auf denen die Landwirtschaft stattfand (und oft immer noch stattfindet). Die Hänge sind daher wie durch Treppen gestaffelt, in geometrischen Großmustern, aber mit unendlich vielen Unregelmäßigkeiten dazwischen, mit schiefen Ebenen, Absätzen, Neuanfängen. Dazwischen stehen Olivenbäume. An manchen Stellen drängt eine Stufe nach vorn, an anderen wird sie schmal und weicht zurück. Darunter liegen immer einige tiefere Stufen, auf denen sich Platz für einen Gemüsegarten findet, in dem Tomaten, Bohnen oder Artischocken angebaut werden. Gehalten werden die Treppen von Trockenmauern, aufeinandergestapeltes, nicht durch Mörtel verbundenes Gestein. Dem Bau solcher Mauern gilt ein hochentwickeltes Handwerk.
So betrachtet Steinfeld das Land: Mit viel Hintergrundwissen gespickt, ergibt sich ein genaues, alles andere als oberflächliches Bild. Immer wieder flicht Steinfeld Exkurse zu Wirtschaft, Landwirtschaft, Architektur, Geschichte oder Soziologie ein, erklärt die Landschaften, indem er auf ihre Vergangenheit, die Bodenbeschaffenheit, die traditionelle Bewirtschaftung und die derzeitige Nutzung eingeht. Zum Beispiel erfährt man, dass in Ligurien viele Ölmühlen die Oliven aus anderen Ländern einführen, der heimische Anteil ist klein – eine hübsche Desillusionierung nebenbei, was das berühmte italienische Olivenöl betrifft. Die Bauern selbst legen die Oliven lieber in Salzlake ein und verkaufen sie so.
Aber Ligurien ist inzwischen auch, wie viele andere Regionen Italiens, zersiedelt, überall stehen Bauruinen, halbfertige oder alte, verlassene Häuser; in den sechziger Jahren wurde eine Autobahn mit vielen Tunneln und Brücken gebaut, der Stolz der Nation. Große Fabrikareale und Vororte haben die historischen Städte eingekreist, viel wurde zubetoniert. Steinfeld begegnet dieser Hässlichkeit mit Wissen und deshalb auch Verständnis:
Als eine der Brücken, ein zentrales Verbindungsstück, das im Norden Genuas über den Fluss Polcevera, eine Eisenbahnstrecke und einige Wohnhäuser im Tal führte, im August 2018 einstürzte, wurden dreiundvierzig Menschen in den Tod gerissen und etwas sechshundert obdachlos gemacht. Die Katastrophe weckte im Ausland sofort alle Ressentiments gegenüber Italien, der vermeintlichen Eitelkeit und Unzuverlässigkeit wegen. Doch liegen die Dinge komplizierter. In den sechziger Jahren konnte sich Italien den Stahl, den das Land für seine Industrialisierung benötigte, kaum leisten: Es besitzt nur wenige Erzvorkommen und war während des Faschismus mit einem Einfuhrboykott belegt. Eine eigene Stahlindustrie konnte Italien erst spät aufbauen, mit gemischten Erfolgen. Die Brücke, entworfen von Riccardo Morandi, einem der berühmtesten Architekten seiner Zeit, war deswegen so konzipiert, dass ein Minimum an Stahl mit einem Maximum an Beton verbunden wurde, in einem Konzept, das zugleich hohe ästhetische Ansprüche erfüllen sollte.
Mit dem Ergebnis, das bis heute mehr Zement als Stahl verbaut wird. Wir erfahren, dass die Sikhs in der Emilia Romagna die Milchwirtschaft beherrschen und den „italienischen“ Parmesan herstellen, die Tomatenernte mithilfe rechtloser Einwanderer erfolgt und wie es in den chinesischen Sweatshops von Prato für die Mode [in der Modebranche?] zugeht. Auch diese hässlichen Seiten und vor allem die ökonomischen Zusammenhänge dahinter erläutert Steinfeld, ohne in die Falle eines billigen Italienressentiments zu tappen. Und er streift auch die scheinbar authentischen Bauten in Italiens alten Städten, die er als Inszenierung durchschaut: So ist Sienas Dom „im 19. Jahrhundert systematisch in die Gotik zurückgebaut“ worden. Und Venedig, in dem er gelebt hat, und das er für die schönste aller italienischen Städte hält, ist für ihn nur noch „eine Kopie der Kopie der Kopie“.
So erfährt man auf Steinfelds Reise von Ligurien (inklusive Piemont und Turin) über die Toskana und Florenz und Siena, über Umbrien und Rom bis nach Kampanien, Neapel, Apulien und Sizilien viele Details in vielen historischen und theoretischen Diskursen, aber auch in Geschichten, die er ebenso erzählt wie die wissenschaftlichen und historischen Erkenntnisse. Ein bisschen mehr von diesen Alltagsgeschichten allerdings wären schön gewesen, denn vor allem im lauten, bunten, italienischen Alltag entfaltet sich ja der „Nationalcharakter“ erst richtig, werden auch noch andere Aspekte Italiens deutlich.
Dafür erzählt Steinfeld vom Schlagerfestival von Sanremo, vom italienischen Faschismus aus Predappio und vom Kommunismus aus Brescello, von der Akkordeonfabrik Farfisa, die ein Instrument für Pink Floyds Auftritt in Pompeji bereitstellte, von der Stahlindustrie, vom Heiligenkult um Padre Pio vor allem im Süden, der Erfindung des Slow Food, von den öffentlichen Plätzen, die für ihn „Sphären des Übergangs“ und eine „endlose Probe für ein Theaterstück“ sind, und der Bar, die eigentlich mehr eine Kommunikationsstätte als ein Speiselokal ist:
Die gewöhnliche italienische Bar ist dagegen ein Ort für Passanten, die auf ihren Wegen innehalten, nicht nur, um sich am Tresen kurz aufzumuntern, sondern auch, um öffentlich präsent zu sein. Die Lage zeichnet sich durch das fließende Ineinander des Gehens und Stehens aus, wobei der Tresen zu einem Ort der plötzlichen Intimität wird, über Klassengrenzen hinweg. Sie entfaltet sich zwischen dem Barista, einem Menschen in erhabener Position und dem Dirigenten aller Bewegungen, und den Kunden, genauso aber zwischen den einzelnen Passanten, die hier einkehren. Die Kaffeemaschine ist innerhalb der vielen, sich gleichzeitig vollziehenden Handlungen innerhalb der Bar der dialektische Apparat, der das ganze Unternehmen zusammenhält: einerseits schwer, ortsfest, oft noch alt und dekoriert auf der Vorderseite, andererseits ein Generator von Beweglichkeit (weswegen es sinnlos ist, eine solche Maschine zu Hause zu betreiben).
Vollständigkeit ist bei so einem Thema natürlich nicht zu leisten, aber in der grandiosen Vielfalt der Themen ist Steinfelds Buch unschlagbar. Zu bemängeln ist lediglich, dass seine Sprache manchmal ein bisschen steif und in vielen Schleifen auch ein wenig unbeholfen ist, ganz im Gegensatz zu dem, was er alles weiß und erzählt. Und dass Sardinien zum Beispiel überhaupt nicht vorkommt. Aber das wäre vielleicht sowieso ein Kapitel für sich. Oder ein ganzes Buch.
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