Der Mensch vor dem Meer der Metaphern

Blick auf Blumenbergs Bedeutsamkeit – Rüdiger Zills Biographie

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schafft es Rüdiger Zill, den gebannt und gespannt auf das Erscheinen seiner Werkbiographie genau zum 100. Geburtstag Hans Blumenbergs Wartenden einen Zugang zu Leben und Werk des Münsteraner Philosophen zu vermitteln? Er wählt den Weg über die Metaphorologie Blumenbergs, indem er diese sowohl philosophiegeschichtlich wie -systematisch als auch anthropologisch erschließt. Blumenberg sieht nach Zill das Kerngeschäft der Philosophie nicht in dem Nachzeichnen des Weges „Vom Mythos zum Logos“, in der Ausbildung von Rationalität und Rationalismus, sondern im Umgang mit Metaphern, die aller Rationalität als Hintergrund zugrunde liegen und sehr viel feiner die Wirklichkeit in ihrer Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit erfassen.

Die Metaphorik lässt sowohl die Metaphysik als Sache des fundamentaltheologischen Glaubens hinter sich wie die Metaphysik fundamental-ontologischen Wissens. Entsprechend ist sie nicht nur auf der Ebene der Rhetorik als Technik des Stils zu verhandeln, sondern betrifft den Menschen zentral; auf dieser Ebene einer philosophischen Anthropologie gilt, dass er nur mittels der Metapher seine Lebenswelt als Wirklichkeit erschließen kann. Und wie gelingt der Zugang zur Lebenswelt über Metaphern? Durch Lesen, nicht durch Glauben oder Wissen. Dieses Lesen, in Aristoteles’ Sinne ein „Vernehmen“ der Wirklichkeit in „noein und legein“, schließt Kenntnisse oder zumindest Interesse an Wissensbeständen aus Glaubens- und Wissenschaftsgeschichte ein und entzündet sich an kleinsten sprachlichen Einheiten und Textsorten, auch solchen, die auf eine Karteikarte passen, als Zitat, als Reflexion eines Zitats im Kontext eines Zitaten-Kosmos.

Rüdiger Zill ist ein ausgewiesener Kenner des Nachlasses von Hans Blumenberg in Marbach, er kennt die Zettelkasten-Sammlungen und kann sie lesen, er hat über die kürzeste Form der Erschließung von Metaphern bereits geforscht, denn er ist Experte für die Gattung der Anekdote, sein Artikel zu diesem Grund-Genre der Metaphorologie steht nicht nur alphabetisch, sondern auch programmatisch an erster Stelle einleitend im Band Blumenberg lesen. Ein Glossar (2014). Darin geht er so vor, dass er einerseits Blumenbergs Wortwahl aufgreift und ausdeutet, hier die definitionskritische „Theorie der Unbegrifflichkeit“ und die „Metaphorologie“, die in Mythos wie Metapher ausgeprägt ist.

Zill spricht aber andererseits nicht einfach von „Glossen“, eine Rubrik, die in Blumenbergs Nachlass-Registern erscheint, aber nicht in Buchtiteln, die Blumenberg zur Veröffentlichung vorsah. Deshalb bevorzugt Zill den Begriff „Anekdote“ für Blumenbergs kurze Texte. Er will sie damit an zwei philosophische Traditionen anknüpfen lassen: einerseits an die Antike mit dem Ursprung aller Quellen, Diogenes Laertius, der die Philosophiegeschichte mit seinen Philosophen-Sagen begründete, „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ verbindlich überlieferte, andererseits an die moderne Gegenwart Blumenbergs mit Nietzsche, Wittgenstein oder Hannah Arendts Denktagebuch wie Briefwechsel, oder aber abgrenzend zu den Denkbildern Benjamin und der „Minima Moralia“ Adornos. Damit kann Zill Blumenbergs narrative Philosophie als eine auf den poetischen Punkt gebrachte Methode besonderer Art belegen. Diese hätte auch als Aphorismus bezeichnet werden können.

Sie liegt im „Herausarbeiten von Bedeutsamkeiten im Kontext der Lebenswelt“ und genau dieser Ansatz hilft auch, einen Zugang zu dem 830 Seiten langen Werk zu gewinnen. Zill zitiert eine „Anekdote“ über Heidegger, der eine Vorlesung begann mit dem dreiteiligen Satz: „Aristoteles wurde geboren, lebte und starb“. Zill stellt zwei mögliche Deutungen der Anekdote vor, die polemische, naheliegende: Heidegger strebte die Abwehr von Historismus und Biografismus zugunsten der sachbezogenen, vom Individuum abstrahierenden Theorie an, und die pathetische, qualitativ aufwertende aus Blumenbergs Denken und Schreiben gewonnene Umkehrung:

Für einen Philosophen ist der Vollzug dieser drei Prädikate in Kombination von Lebenspraxis und Lebensreflexion das Höchste; das Leben wird dadurch zu einem guten, einem glücklichen Leben.

Hannah Arendt überlieferte den Dreisatz mit der pathetischen Deutung in einer öffentlichen Geburtstagsrede für den von ihr heimlich lebenslang geliebten Heidegger. Er habe diesen Vorlesungs-Beginn „einer gut bezeugten Anekdote zufolge“ gewählt, die sie ermutigte, bei Heidegger zu studieren, da das Gerücht ging, bei ihm könne man das Denken lernen. Arendt gibt für Zill die Leserichtung: Die Praxis des Philosophierens ist das entscheidende, Philosophie als Theorie ist und bleibt an diese Praxis gebunden, Leben und Denken eines Philosophierenden sind nicht zu trennen; wenn Philosophieren, dann über Geburt, Leben und Sterben. Im „Beschreiben des Menschen“ mittels Metaphorologie wird dann der anthropologische Kern seiner lebenslangen Selbstbehauptung trotz Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Lebenswelt in Form von Bewältigungsstrategien herausgearbeitet.

Diese drei Aspekte einer Anthropologie – Geburt, Leben und Sterben – machen für Zill eine „intellektuelle Biographie“, so der Untertitel des Buches, aus. Es sind nicht einfach nur Daten einer Chronologie, sondern bewusste Vollzüge einer philosophischen Existenz. Damit ist die Anthropologie angesprochen, die lautBlumenberg den Menschen nicht definiert, sondern phänomenologisch beschreibt. Auch für Kant war die Anthropologie unter der Frage „Was ist der Mensch?“ die Zusammenführung aller philosophischen Disziplinen: der Erkenntnistheorie „Was kann ich wissen?“, der Ethik „Was soll ich tun?“ sowie der Religions- und Geschichtsphilosophie „Was darf ich hoffen?“. Diese Fragen können auch als zur Anekdoten-Trias parallele Drei-Gliederung in Zills Buch wiedererkannt werden. Die Frage nach der Geburt eröffnet die Frage nach dem Ursprung, nach dem Grund, sie mündet an die erkenntniskritische Ausgangs-Frage „Was kann ich wissen?“.

Dieser Ausgangspunkt wäre gleichsam der Blumenberg ‚der Phase I‘, der die Wissenschafts- als Ideengeschichte befragt und in ihr Metaphern findet, allen voran die Umkehrung der Blickrichtung auf den Wahrheits-Begriff durch die Licht-Metapher. Die mittlere Frage nach dem Lebensvollzug wäre bestimmend in der Phase Blumenberg II mit dem Höhepunkt seiner Zeit in Münster, die Suche nach der Antwort auf die Frage der Ethik „Was soll ich tun?“. Sie liegt in der Verbindung von Ethik und Poetik oder Ästhetik in Existenz-Modellen wie „Schiffbruch mit Zuschauer“, „Lesbarkeit der Welt“ als Pluralität von Schreib- und Lese-Modellen, „Höhlenausgänge“ als Befreiungsversuch aus Fallen, die Umkehrung der Blickrichtung auf den Begriff des Scheiterns durch die Horizont-Metapher. Schließlich wird die letzte Frage virulent, nach dem Sterben bzw. Sterbenlernen als Lebensaufgabe beim Blumenberg III, dem Religionsphilosophen mit der Frage „Was darf ich hoffen?“, den Essayisten der „Matthäuspassion“ und der Anekdoten, für die er den genialen Titel „Begriffe in Geschichten“, d.h. Begreifen in sprachkritischer Reflexion von Worten über deren Wirkungsmöglichkeiten bis zu einer Wirklichkeitskonstitution im Prozess des dichtenden Denkens in den Zeitekstasen der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, findet, die Umkehrung der Blickrichtung auf den Erlösungs-Begriff durch die Metapher Tränen auslösender Musik.

Diese drei Phasen erweitern auch seine Leserschaft in drei sich weitenden Kreisen, von systematisch-historisch interessierten FachkollegInnen über die Interdisziplinarität anstrebenden GeisteswissenschaftlerInnen bis hin zu einer breiteren intellektuellen Öffentlichkeit, die die FAZ und NZZ als unverzichtbares morgendliches Aufwachmedium schätzt, wie Blumenberg selbst.

Diese klare Struktur wird auf drei Ebenen in völlig unterschiedlichen Durchgängen durchexerziert, die sich an einer Übersicht zum „Inhalt“ als Pendant zum „Ausführlichen Inhaltsverzeichnis“ zeigt, die drei Kapitel „Beschreibung des Lebens“, das unter den Metaphern von Geborenwerden und dem Begreifen des Neuen in Aufbrüchen nach Zusammenbrüchen steht, „Arbeit am Werk“, dessen Genese unter der Metapher des Schreibanlasses entfaltet werden kann, und „Der Prozess einer philosophischen Neugierde“, der mit der Metapher des Umweges, des metakinetischen Wandels, des Kreises, der Umkehrung arbeitet, so explizit im Schluss-Titel-Zitat „‘Das Ende ist es, was den Anfang denken läßt‘“.

Besonders aufschlussreich ist, wie Zill die Metapher des ‚glücklichen Zufalls‘ nutzt, um die Schreibanlässe zu erzählen, warum Blumenberg seine Werke immer genetisch aus Aufsätzen heraus schuf, Begegnungen mit Verlegern, aus denen sich ein Keimen, Wachsen, Reifen, Fruchtbringen und auch Verdorren mit wechselndem Versuchen des Wiederauflebens ergab. Blumenberg ist Sohn eines Buchhändlers und Verlegers, verlegt selbst als Jugendlicher eine Zeitschrift, „Erdball und Weltall“ (1932), mit höchsten Ansprüchen an die Formvielfalt der Vermittlung, schreibt Buchrezensionen und Essays über die Bedeutung von Buchreihen als Marken, gestaltet Zeitschriften und Buchreihen verantwortlich mit, annähernd in der Funktion als Herausgeber, droht immer wieder damit, die akademische Wissenschaft zugunsten des Verlegertums zu verlassen, und schreibt seine Klappentexte selbst und seit 1973 „Unerlaubte Fragmente“. Die von Zill herangezogenen Briefe an Zeitschriften-Herausgeber sind sprechend. Blumenberg nimmt von sich aus Kontakt zum Herausgeber der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ auf, die sein Vater abonniert hatte, Franz Josef Schöningh. Er schlägt dieser Paderborner Verlegerpersönlichkeit, der die „Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens und der Schönen Künste“ bis zum Verbot durch die NS-Zeit geführt und im Nachkriegsdeutschland zu einem entscheidenden Organ der Selbstbesinnung, das in großer Breite Intellektuelle erreichte, wiederaufgebaut hatte, für seine Mitarbeit von 1952-1958 vor allem englischsprachige AutorInnen zur Rezension vor, allen voran Ernest Hemingway.

Zill geht nicht in die Einzelheiten der seit 2017 in „Schriften zur Literatur“ vorliegenden Texte, führt aber auf eine Spur, denn Blumenberg interpretiert Hemingway in einem fulminanten Artikel unter dem Titel „Die Peripetie des Mannes“ vom Februar 1956 unter der Perspektive einer „negativen Anthropologie“ des Verlustes („das unvermerkte Geheimnis des Menschen ist, daß er so viel zu verlieren hatte, wie er immer schon verloren hat und weiter verliert“) und der konstruktiven Selbstbehauptung, seinem Generalthema: „Die brutale Feindlichkeit der Realität gegenüber dem Menschen ist Hemingways ‚ontologische‘ Voraussetzung“, so dass der ‚selbstgewählte und selbsterprobte Kodex des Kerls‘ als ‚Verweigerung der Selbstauslieferung‘ entstehen kann.

Auch die Persönlichkeit des Jaspers-Schülers Manfred Thiel als Schriftleiter des „Studium Generale“ findet den richtigen Kontakt zu Blumenberg in der Zeit seiner Mitarbeit von 1951-1960, von ihm geht nach Zill die Initiative für einen der erfolgreichsten Blumenberg-Aufsätze aus: „Licht als Metapher für Wahrheit“ (1957), „die Initialzündung der Metaphorologie“, die Bedeutung dieses Kontakte gilt auch wohl für den parallelen Aufsatz „Nachahmung der Natur“ im gleichen Jahrgang, der den „Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geistesgeschichte“ im Phänomen des „schöpferischen Menschen“ als Herzstück des Blumenbergschen Werkes formuliert.

Dass die Redakteure der NZZ und der FAZ in nächtlichen Telefonaten entscheidende Gesprächspartner des späten Blumenbergs waren, ist bereits bekannt. Dass Blumenberg sich als passionierter Zeitungsleser auch zur Autorenschaft für Zeitungen ansprechen ließ, erweist Zill auch für das Spätwerk und schildert es sehr spannend. Michael Krüger vermittelte 1979 über einen Akzente-Valéry-Sonderdruck den Kontakt und die Brieffreundschaft zu Henning Ritter, der für Blumenberg erst als Sohn Joachim Ritters wiedererinnert wird, dem er 18-jährig in Münster begegnet war. Als Ritter 1985 die Rubrik „Geisteswissenschaften“ in der FAZ redigiert, erfindet er, um Blumenberg als Autor zu gewinnen, die Kolumnen-Untergattung eines geisteswissenschaftlichen Glossars unter dem Titel „Begriffe in Geschichten“, in der Blumenberg dann sechs Jahre 19 Texte veröffentlicht; im veröffentlichten Nachlass-Band liegen insgesamt 107 Texte vor, die alle sogenannten „Kleinen Prosa-Formen“ umfassen bis hin zur gereimten Schluss-Sentenz „So schön kann Metaphorologie sei, daß man zu fragen schier vergißt, wie wahr sein müßte, was ihre Sache ist.“

Damit ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Autors Zill angesprochen, die Metapher der „Grenze“, die er im „Wörterbuch der philosophischen Metaphern“ behandelt hat. Blumenberg ist ein Grenzgänger, er geht an die „Grenzen akademischer Seriosität“, überwindet die Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Theologie, vor allem zwischen Sachtext und literarischer Essayistik, Gelehrteneinsamkeit und Öffentlichkeit. Er bewegt sich im Feuilleton, bevorzugt zur Jahreswende, also zu astronomischen Wenden. Er bevorzugt Artikel vor Büchern, lässt Bücher aus Artikeln herauswachsen, komponiert ganze Filiationen zu riesigen Werken, die immer wieder auch als Kapitel für sich stehen können. Damit wird das Thema „Teil und Ganzes“ auf einer Ebene sichtbar, die die „Genese“ des schöpferischen Schreibens und Veröffentlichens eines Lebenswerkes sichtbar machen.

Was bedeutet aber der Haupttitel „Der absolute Leser“? Hier geht Zill doch sehr in die Breite. Im Vordergrund stand erstens wohl ein Staunen über das Lesepensum, wie es die Leselisten und Karteikarten dokumentieren. Hier könnte man einwenden, Lesen allein ist noch keine Leistung; diese kritische Haltung findet sich auch in Zills Wortwahl „bibliophiler Allesfresser“. Zweitens ist der Begriff doppeldeutig-dialektisch zweischneidig im Werk verwendet, einerseits destruktiv-abwehrend: Der absolute Intellekt Gott bedingt einen Absolutismus der Wirklichkeit, der dem Menschen keinen absoluten Stand zuspricht, weshalb er als Gotteszweifler dem Absoluten misstrauen muss. Andererseits entsteht daraus konstruktiv der Aufbruch des ehemals dependenten Geschöpfs zu einem säkular sich befreienden Schöpfer absoluter Metaphern, einen Gegenenergie durch eigenes Ordnen des Chaos, Sprechen, Benennen, Symbolisieren, Präfigurieren, feinen Weisen bestimmter Unbestimmtheit, kontrollierter Mehrdeutigkeit, Bedeutsamkeitserwägungen aller Art. Drittens erscheint dann am Ende aus Blumenbergs Feder „der absolute Autor“ und da möchte man nach 582 Seiten zustimmen, das ist das notwendige Pendant zum „absoluten Leser“, vor dem Anmerkungsteil mit Register von knapp 250 Seiten, der aber immer mitgelesen muss, denn er ist noch interessanter als der Haupttext. Natürlich ist das keine „Entlastung vom Absoluten“, wie Odo Marquard Blumenberg erfasst, sondern eine Belastung.

Mit dem Titel seines Buches könnte Zill auch auf Henning Ritter, als FAZ-Redakteur mit Blumenberg in Kontakt, zurückgreifen, der am 7. Januar 2012 ein neues, zweites Foto des Philosophen vorstellt, vom Brüsseler Philosophenkongress in Brüssel 1953: „Ein unvorbereiteter Leser der Bücher von Hans Blumenberg, gefragt nach der Art ihres Autors, wird antworten, dieser sei ungeheuer belesen, gebildet. Das drängt sich auf, bevor man ihn noch als Philosophen wahrnimmt.“ Diesen Ersteindruck läutert Ritter dann mit der Blumenbergschen Methodik der Umkehrung zu der Erkenntnis, dass der Leser durch Blumenbergs Texte „ein intellektueller Abenteurer“ wird, der bisherige Bildungswege durch die Geschichte zugunsten neuer hinter sich lässt. Wenn das Attribut „absolut“ also verwendet wird, dann im Sinne der „absoluten Metapher“, die sich sowohl vom Begriff als auch vom Mythos ablöst und befreit. Dadurch geschieht die Ab-Lösung als das Ab-solvere, als Abenteuer ins Neue, Unbekannte, dadurch neu Erkennbare.

Was erfahren wir Neues, um in der metaphorischen Sprache zu bleiben, wo spüren wir das Abenteuer, Neuland zu betreten? Zill kann den Gräzisten, Dekan und Rektor Bruno Snell als entscheidenden Inspirator Blumenbergs erweisen. In einer Nachlass-Notiz beschreibt Blumenberg die Begegnungen seit dem Wintersemester 1945/46 bei ihm an der Universität Hamburg; aus der Vorlesung „Homerische Bedeutungslehre“, die auch Walter Jens besuchte, gewinnt Blumenberg seine Idee, „über die lexikalischen Kontexte hinaus bedeutungsdeterminierende Faktoren zu erschließen“. Snells beide Bücher „Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen“ (1946) und „Der Aufbau der Sprache“ (1952) bezeugen die Parallele von Denkbewegung und Sprachbewegung, die Blumenbergs Metaphorologie als „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte“ entfaltet; fast könnte man kombinieren, die Entdeckung des Geistes geschieht durch die methodische Zuwendung zum Aufbau der Sprache. Das zweite genannte Werk Snells ist seinem Freund Josef König gewidmet, der als Philosoph in Hamburg, als vorgesehener Nachfolger Ernst Cassirers, in analoger Weise in seinem Einfluss als Dozent auf Blumenberg zu untersuchen wäre. König spricht in seiner eigenen ästhetischen Theorie der echten, der sprachphilosophischen Metaphern (1937) von „offener Unbestimmtheit“.

Blumenberg erscheint als Rezensent von Hannah Arendts erster Veröffentlichung im Nachkriegsdeutschland: Für „Die Welt“ (16. November 1948) nimmt er Stellung zu „Sechs Essays“, seit 2019 wieder in der Gesamtausgabe zugänglich, und entdeckt, in der Überschrift exponiert, „das Symbol des Paria“. Blumenberg beschreibt damit gleichsam Arendts Narrativität als eine Metaphorologie, die sie in ihrer Habilitationsschrift als Biographie in narrativer Philosophie zu Rachel Varnhagen herausgearbeitet hatte, und greift sie auf: Die Alternative der Existenzmöglichkeiten des Judentums im 19. Jahrhundert fasst Arendt in den Benennungen, die Blumenberg sprachkritisch-metaphorologisch „Symbole“ nennt (um jede Gewalt provozierende Suggestion von Begriffsschärfe zu vermeiden), „Paria“ (Existenz als Außenseiter) oder Parvenu (Existenz als Assimilierter), und betont die Bedeutung der ersteren. Diese Existenzform treibt Blumenberg lebensgeschichtlich um, wie Zill nachweist: schon als katholischer Schüler im Katharineum und in Lübeck, mit dem lebenslangen Freund und Briefpartner, den katholischen Arzt Ulrich Thoemmes, als wegen seiner jüdischen Mutter Ausgegrenzter und Verfolgter in einer gänzlich anderen Existenz-Form als z.B. die Exil-Juden Hans Jonas, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, als nicht zum Studium und zum Wehrdienst Zugelassener in seiner Abiturientengemeinschaft, einer, der auch in der akademischen Welt ‚Anti-Affekte‘ spürte bzw. zu spüren bekam.

Vor allem gewinnt man durch Zills Darlegungen ein völlig anderes Bild in Bezug auf Blumenbergs Verhältnis zu Hannah Arendt als in der, vom Politikwissenschaftler Ahlrich Meyer, von 1968 bis 1975 Assistent Blumenbergs in Bochum und Münster, veröffentlichten Nachlass-Edition „Rigorismus der Wahrheit“. Denn Blumenbergs Engagement für Franz Kafkas Werk wird auf Arendts Deutung zurückbezogen. Das Lesen der Kafkaschen Werke wird von der methodischen Einengung auf eine Fixierung in einer bloß äußeren Benennung des Judentums und die psychoanalytische Deutung befreit und Kafkas Werk als anthropologische Forschung entdeckt, im Sinne eines Aufbegehrens gegen anonyme Gewalten durch die Macht der Sprache. Blumenberg ist einer der ersten Rezensenten des Arendt-Bandes, der im März 1948 erschienen war. Blumenberg entdeckt Kafka wie Arendt als exemplarischen Autor der Literatur seiner Gegenwart, die „der philosophischen Analyse meist weit voraus“ ist, mit seinem Thema „der Mensch bei Kafka, der unter einer ihm unfaßbaren Schuld leidet, der, nach dem Heimischwerden lechzend, schließlich ohnmächtig und erschöpft ungeheuren Gewalten erliegt […], in dem die gegenwärtige Generation sich wiedererkennt“ (Rigorismus der Wahrheit). Dieses Wiedererkennen kann Blumenberg in Kafkas Werkfigurationen in fünf Metaphern festmachen: „Der Sohn“, „Der absolute Vater“, „Der Prozess“ des Stehens vor dem Tor des Gesetzes, der Weg der Diagonalen zwischen den eindeutigen, extremen Polen, die Umkehrung der Laufrichtung. Von diesem Gedanken entwickelt Blumenberg sein Frühwerk: noch vor Abschluss der Habilitation im Mai 1949 ein nicht publizierter Vortrag unter dem Titel „Die Philosophie vor den Fragen der Zeit“, für Zill im letzten Kapitel die erste Etappe im exemplarisch skizzierten „Prozess einer philosophischen Neugier“.

Eine wichtige Frage der Zeit blieb für Blumenberg der Umgang mit der Bilderflut des modernen Medienzeitalters, das auch geistige Größen wie Philosophen durch Fotos ins grelle Licht der Öffentlichkeit, an die Oberfläche, in die Direktheit, Unmittelbarkeit, in die nackte Wahrheit zerren wollte, während der Metaphorologe Blumenberg die Verborgenheit und Distanz einforderte, ja einklagte. Also autorisierte er nur ein Foto. Zill ist Experte für Blumenberg-Foto-Philosophie, er hat das einzige Foto des Suhrkamp-Verlags aus der Serie von Peter Zollna, das oft seitenverkehrt abgebildet wurde, metaphorologisch analysiert, unter dem Titel „Umweg zu sich. Hans Blumenbergs Spiegel-Bild“ für die „Zeitschrift für Ideengeschichte (2013), mit der zentralen Spiegel-Metapher.

Sensationell sind die Fotos des Philosophen, die Bettina Blumenberg aus ihrer familiären Privatsammlung jetzt zugänglich macht und die Zill als strukturelle Reihe von absoluten Metaphern der Metaphorologie in überzeugender Dreischritt-Komposition integriert, alle aus den 50er Jahren, der Grundlegung der Werkideen: (I) Blumenberg als Prometheus, im Wurf eines „Hühnergott“-Steins über Kopf begriffen (gleichsam Metapher der „Legitimität der Neuzeit“), (II) Blumenberg mit einem Apfelhünkel als „sinnfälligstes Requisit“ der Neugier des Menschen, in persona Evas wie Newtons (gleichsam Metapher der „Arbeit am Mythos“), (II) Blumenberg als Hochgebirgs-Wanderer als Buch-Cover und als Buch-Abschluss-Photo (gleichsam Metapher der „Beschreibung des Menschen“). Neben diesen Einzelporträts Blumenbergs erscheint dieser auch auf Fotos inmitten seiner Klasse, Familie, des interdisziplinären „Kieler Nichtordinarienklüngels“ sowie aus der Gießener Zeit in seinem Wohnhaus in Oberkleen bei privaten Treffen mit seinen Assistenten Wolfgang Breidert, Malte Hossenfelder, Günter Gawlick, seinem Freund und Akademischen Rat Karl-Heinz Gerschmann und dem Gräzisten Gerhard Müller, mit dem Blumenberg im WS 1963/64 ein Seminar zu Aristoteles’ Poetik anbot, ein Foto, wohl aufgenommen von Ferdinand Fellmann, den das Nicht-Protestantische und Hedonistische von Blumenberg gegenüber der Atmosphäre bei Hans Robert Jauß anzog.

Leider liegen keine Fotos vor zur Gruppe „Poetik und Hermeneutik“, aber Zill kann unter Bezug auf seine eigene Dokumentation des „Making of“ dieser Gruppe (2017) Blumenberg als „spiritus rector“ nachweisen, ebenso auch seine konstante Tätigkeit bei der Universitätsreform in Richtung Interdisziplinarität, sowohl in Bochum als auch Bielefeld und vor allem Konstanz. Zill forschte in den Archiven der Universitäten und man fragt sich, was wohl gewesen wäre, wenn Blumenberg den Ruf nach München auf die Nachfolge von Ernesto Grassi hätte annehmen können, die aufgrund einer Sperrfrist nach der Berufung in Münster nicht möglich war. Die Frage, wie die Metaphernforschung „nach Blumenberg“ weitergeht, ist damit verbunden. Was wäre gewesen, wenn Blumenberg Grassis internationale, interkulturelle und komparatistische Forschung, die dieser im Werk „Die unerhörte Metapher“ 1992 veröffentlichte, oder als Herausgeber von Rowohlts Deutscher Enzyklopädie flankiert hätte, wenn Blumenbergs Metaphorologie schon mit der zeitgenössischen Metaphernforschung eine Verbindung eingegangen wäre und nicht erst heute. Wäre die von Blumenberg im freien Schreiben und Sich-Frei-Schreiben lebenslang verkörperte Verbindung von Philosophie und Literatur noch auf einer anderen Ebene geglückt?

Ein wenig spürt man, dass Zill Blumenberg nicht gehört hat, aber er steht im Kontakt mit Blumenberg-Hörern in der Münsteraner Zeit, wie er es in seiner Mitwirkung als Akteur im wichtigen Blumenberg-Film Der unsichtbare Philosoph zeigt. So sollte Zills Biographie durch Lektüre von Erinnerungen der Blumenberg-Hörenden in Münster ergänzt werden. Nur so kann Sybille Lewitscharoffs fiktivem Roman Blumenberg (2011) etwas entgegengesetzt werden, den Zill auch nur in einer Anmerkung erwähnt. Die Gelassenheit, die Erinnerungen dokumentieren, hatte Blumenberg wohl nicht, wenn er immer wieder beklagte, dass ihm die Zeit davonlief. Mit diesem Argument klärt Zill auch, warum Blumenberg die Neufassung des Eislerschen Philosophischen Wörterbuches von 1904 scheute, die ihm als Nachfolger Joachim Ritters, dem Herausgeber des „Historischen Wörterbuches der Philosophie“ (1971-2007), zwar nicht angetragen wurde, die aber für ihn, als Nachfolger von Erich Rothacker für das „Archiv für Begriffsgeschichte“ Verantwortlichen, nahe gelegen hätte (Zill zitiert dazu die Forschungen von Margarita Kranz). Es geschah nicht aus systematischen Gründen, sondern aus Zeitgründen, die keine Muße für ein Generationenprojekt vorsah. Zill verdeutlicht durch seine Kunst des Überblicks, dass eine schwarz-weiß-malende Opposition von Begriff und Bild, Begriffsgeschichte und Motivgeschichte bzw. von Logos und Mythos zu kurz greift, indem er darauf hinweist, dass beide, Ritter wie Blumenberg, aus der Schule Ernst Cassirers kamen. Dennoch ist die Integration einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“ ins Projekt der Begriffsgeschichte sicherlich Blumenbergs Vermächtnis, das auch heute der letzte Herausgeber Gottfried Gabriel aufgreift, wenn er Präzision der Begriffserkenntnis und Prägnanz ästhetischer Erfahrungen zu vermitteln sucht.

Zills Redlichkeit zeigt sich vor allem dort, wo er die Stellen markiert, an denen Blumenberg „die Grenzen seines Ansatzes wahrgenommen haben“ wird. Zill bezeugt, dass und wie energisch Blumenberg Grenzen ausgelotet hat und auch seine LeserInnen bis an ihre Grenzen führte. In Zills Biographie braucht man aber keine Angst zu haben vor einer totalen Beanspruchung bei der seitenlangen Beschäftigung mit dem ausufernden Werk und dem unendlich weiten Denken dieses Philosophen, denn sein Biograph setzt mit geschickten anekdotischen Pointen immer wieder „Grenzwerte“ für eine Annäherung an Leben und Werk dieses berühmten Philosophen.

(Michael Szczekalla danke ich für entscheidende Hilfestellung bei dieser Darlegung.)

Titelbild

Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
816 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587522

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