L’état c’est quoi?
Im Roman „Staatenlos“ (frz. „L’Apatride“, übersetzt von Lena Müller) von der indisch-französischen Schriftstellerin Shumona Sinha wird die Suche dreier Frauen nach Herkunft zu einem alptraumhaften Szenario
Von Maja Rausch
Umhüllt von „Milch, Bonbons und Babypuder“ wächst Mina in der Nähe von Kalkutta in einem kindlichen Elysium auf, das sich nach ihrer Pubertät jedoch schnell in ein Land der Unterdrückung und Frauenfeindlichkeit verkehrt: sie muss ihre Schwangerschaft verstecken, ihr Freund verschwindet, da die sozialen Regeln in Indien keine Heirat zulassen und am Ende wird sie vergewaltigt und ermordet. Ähnlich ergeht es den anderen beiden Protagonistinnen in Staatenlos. Esha, Zentrum des Romans, wird als Lehrerin im Pariser Banlieue Opfer des täglichen Rassismus und Sexismus ihrer Gesellschaft und erlebt ihre Entwurzelung nicht nur von ihrem Heimatland Indien, sondern auch von Frankreich, in dem sie seit über 10 Jahren lebt, immer noch auf ihre französische Staatsbürgerschaft wartend. Marie, von Franzosen in Paris adoptiert, reist nach Indien und sucht dort nach ihrem Ursprung, ohne fündig werden zu können. Denn die Welt um die drei Frauen ist zersplittert, ohne Halt und Hilfe. Das Dreiermosaik Mina, Marie und Esha ist sowohl suchend als auch staatenlos: im Körper, in der Stadt, im Land.
Das gesellschaftliche Miteinander wird in Staatenlos zu einer gegenwärtigen Dystopie verklärt. Denn überall wird das Fremde beobachtet, beäugt, bewertet, beschimpft und derjenige, der anders aussieht, dessen Hautfarbe nicht in die Schneelandschaft der Bourgeoisie passt, wird an den Rand, hinter die rote Linie in das nordöstliche Banlieue von Paris gedrängt. Esha glaubte zunächst, in Paris ihr Ziel der Freiheit, Kultur, Bildung, und Gleichberechtigung erreichen zu können. Ihr offenbart sich jedoch eine Stadt am Rande des Zerfalls und der Auflösung, wie sie in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur derzeit Topos ist. Etwa in den Romanen wie La conjuration von Philippe Vasset oder Vernon Subutex von Virginie Despentes.
Zum Ende hin zeigt der Roman damit, dass sich der Kampf gegen gesellschaftliche Missstände nicht nur in Indien, sondern im kulturellen Zentrum Europas abspielt. Für Esha ist ein Land „immer eine Problemstellung, eine nie endende Baustelle“. Das von Xenophobie und Antisemitismus überschwemmte Paris ist nichts weiter als ein Jammerhaufen. Die Ideale der Französischen Revolution werden dekonstruiert: Die Freiheit äußert sich in Unmenschlichkeit, Gleichheit in Ausgrenzung und Brüderlichkeit wird zu Misogynie. Paris entpuppt sich als eine Stadt der verschiedenen Zonen, wo Aufklärung nicht mehr überall präsent ist oder sich aus ihren theoretisch-universitären Rahmen nicht lösen kann. Es scheint, als vertrockneten die Ideale Rousseaus im Hörsaal.
Ein dunkles Meer aus Blicken und Beleidigungen umzingelt die drei Frauen Tag und Nacht, erweitert den Roman bisweilen um die Perspektiven der Randfiguren und geht damit über die Wahrnehmungen der Protagonistinnen hinaus. Mysteriöse Anrufe. Behördenmitarbeiter in Frankreich. Verstörende männliche Blicke und Gesten auf dem Markt in Kalkutta. Kulminierend im scheinbar motivationslosen Angriff zweier Pariserinnen, die Eshas Einbürgerungsantrag und Ausweis zerreißen und den Roman düster und gefährlich erscheinen lassen. Die Handlungsstränge der drei Frauen treffen sich nur selten, verbunden nur durch ihr gemeinsames Schicksal der Heimatlosigkeit und Ausgrenzung. Esha und die anderen wünschen sich eine Welt, wo Wege zusammenlaufen und Grenzen verwischen.
Gelungen setzt Shumona Shinha bildlich und symbolisch die Atomisierung und Teilung der Gesellschaft in Zonen und Schichten um. Auch in ihren vorangegangenen Romanen stehen die Themen Herkunft und Ungerechtigkeit im Vordergrund. Ihre Werke sind mit vielfachen Preisen datiert, unter anderem dem Internationalen Kulturpreis in Deutschland. Sinhas Romane wurden fast alle ins Deutsche übersetzt. Mit ihrem Roman Assomons les Pauvres! („Erschlagt die Armen!“) verursachte Sinha einen politischen Eklat in Frankreich und wurde fortan als Skandalautorin wahrgenommen. Der Roman, welcher von den Ungerechtigkeiten im französischen Asylsystem spricht, hatte unter anderem den Verlust von Sinhas Arbeitsstelle am Pariser Migrationsamt zur Folge. Die Autorin wurde dafür kritisiert, die bengalischen Einwanderer in Frankreich wie auch die französische Migrationsbehörde in ein schlechtes Licht zu stellen.
Der zu Teilen handlungsarme Roman Staatenlos verfällt in immer gleiche Muster: Rassismus und Sexismus begegnen dem Leser in jedem Kapitel auf ähnliche Weise. Originell ist der Roman dort, wo er darauf aufmerksam macht, dass die Zivilisation und die Kultur ihre Blütezeit längst hinter sich gelassen haben. Houellebecq persiflierend heißt es dann am Ende des Romans: „Das Sprachrecht ist genauso streng wie das Bodenrecht, abstrakter und unschärfer, es kennt weder Karte noch Gebiet“. Denn der Mensch soll sich an jedem Ort unabhängig seiner Herkunft äußern dürfen, die Sprache soll der Ort sein, wo es keine Zone, keine Teilung, kein Diesseits und Jenseits gibt.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.
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