Kunst – Macht – Staat

Mariam Khüsel-Hussaini porträtiert den Glaubenskrieg zwischen impressionistischer Moderne und kaiserlichem Berlin überlebensgroß in „Tschudi“

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt Manet, Rodin, Renoir, Degas. Aber wer kennt Hugo von Tschudi? Als Direktor der Nationalgalerie in Berlin zwischen 1896 und 1908 tat er alles, um den Impressionismus nach Berlin zu holen. Und das war nicht nur, weil diese Kunst so neuartig war, sondern auch, weil Tschudi Ankaufpolitik und Hängung reformierte – ein großes Kunststück. Mariam Khüsel-Hussaini würdigt dies mit einem eigenen Kunststück, einem Roman, der ihren Titelhelden mitten in den Glaubenskrieg um die Rolle der modernen Kunst stellt, entschlossen, humorvoll, vielfarbig.

Tschudi stammt aus einer alten Schweizer Diplomaten- und Gelehrtenfamilie. 1851 geboren, studiert er Jura und unternimmt nach dem Examen eine zweijährige Bildungsreise durch Europa, während derer er sich in die Kunstwerke der frühen Moderne vertieft und dabei auf den Augenschein als Kriterium für den Wert eines Bildes vertraut. Dieser Wert liegt im Auge des Betrachters. Es ist die Farbe, genauer gesagt: die Mischung der Farben, die – nach den Worten von 
Tschudi – von den Impressionisten von der Palette auf die Netzhaut übertragen werden.

Mariam Khüsel-Hussainis Roman erzählt auf ganz wunderbare Weise schon im Eingangskapitel von diesem neuen Farbensehen und von Tschudis Mission, mit den Bildern und zugleich über die Bilder zu sprechen. „Man darf ein Gemälde nicht betrachten. Man muss in das Bild hinein. Man muss zwischen den Farben sein, wenn sie auf der Leinwand gemischt werden“, heißt es im 70. Kapitel.

Darin ist er sich einig mit Max Liebermann, er hat private Mäzene, speist mit Großindustriellen, wird vom Reichskanzler unterstützt, Gerhart Hauptmann schreibt ihm bewundernde Briefe, Cosima Wagners Anfangsskepsis überwindet er in einem grandiosen Kapitel (dem 12.) mit modernen Umdeutungen deutscher Kunst, und selbst der Staatskünstler Menzel, der die Könige für Könige malt, muss seiner Museumspolitik Anerkennung zollen. Aber in der Öffentlichkeit gibt es auch Gegenstimmen, der Kaiser facht Intrigen gegen Tschudi an. Und der trotzt der Wolfskrankheit, die sein Gesicht entstellt, mit einer Maske, angefertigt von Virchow, und an der Seite seiner spanischen Frau, deren Schönheit mehrfach meisterhaft beschrieben wird.  

Tschudi ist ein listiger Held. Die Mittel für die teuren Ankäufe der französischen Impressionisten verschafft er sich bei Sponsoren. Der Staat braucht kein Geld auszugeben. Dem Kaiser, der das letzte Wort hat, auch bei Schenkungen von Werken, zeigt er bei einer Museumsvisite zuerst romantische Naturidyllen. So wird der im Dienst der Nation verordnete Kunstpatriotismus relativiert. Manets Der Wintergarten an einer Stirnwand der Nationalgalerie ist das erste Gemälde des Künstlers, das von einem Museum erworben worden ist. Es zeigt ein Paar, das mit sich und den Farben allein ist. Dieses „Treibhaus“ mit seinen erotischen Assoziationen entsprach nicht dem Menschenbild, das sich der Kaiser wünschte. Wohl aber dem „exotischen Auge“ Tschudis.

Der Roman begleitet Tschudi durch das moderne Berlin, die Autorin lässt ihren Helden kaum einmal allein und zeigt ihn im Weinhaus Rheingold, bei der Ordensverleihung im Stadtschloss, bei privaten Führungen, aber auch im privaten Schlafgemach. Am Ende schlägt der Operettenkaiser seinem Helm den Reichsadler ab, während Tschudi, vom Kaiser seines Amtes enthoben, seinem Lupus erliegt. Was am Ende bleibt, ist das Silbrige seiner Augenwimpern, das mit dem „Silberlicht des Winters“ am Anfang den Roman rahmt. Der Roman selbst ist ein großartiges Porträt, eine farbenkunstvolle Erzählung von der im doppelten Sinne bildenden Kunst der Moderne.

Titelbild

Mariam Kühsel-Hussaini: Tschudi.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
320 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001377

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