Im Geröll des ewigen Gesprächs

Ein Sammelband der Universität Würzburg arbeitet sich tief hinein in die Widersprüche menschlicher Einsamkeit

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Nachdenken über Einsamkeit in spätmodernen Zusammenhängen fordert heraus: Einerseits ist sie (enorm verstärkt durch die Auswüchse der Pandemie) mindestens in der Vorstellung omnipräsent – sei es als Realität, sei es als diffuse Angst; anderseits wird sie mithilfe der Lautstärken geforderter Solidarität, fortwährender Kommunikation und Netzwerkbildung oder der Daueranwesenheit des Anderen im Internet gekonnt überspielt, ignoriert, verdrängt.

Zunächst scheint es dabei so, dass das Bestreben der Einzelnen, sich permanent stärker zu individualisieren, zu singularisieren, ja bewusst vom Anderen abzugrenzen, die Möglichkeiten, Rückzugsräume des Eigenen zu finden, darin so etwas wie Einsamkeit zu entdecken, zunehmen. Und doch kommt an dieser Stelle eine markante Dialektik zum Tragen, die diese Ursprungsidee eigentlich – so wäre viel eher anzunehmen – wieder zurücknimmt: Eine Gesellschaft, die das Prinzip des Individuellen zur Norm erhebt, verallgemeinert auf diese Weise etwas zunächst maximal Subjektives und schafft so wieder Konzentrationspunkte des Kollektiven, die Individualität erneut dementieren. Konkret gedacht wollen plötzlich alle die vermeintlich abseits vom Touristenstrom gelegenen, ‚unberührten‘ Naturparadiese entdecken, finden sich über Internetrankings in den ausgefallensten Szenerestaurants wieder oder speisen ihre Instagram-Accounts mit absolut individuell arrangiertem Bildmaterial der dann aber doch immergleichen Sehenswürdigkeiten im In- und Ausland. Diese Spannung wirft auch die Frage auf, wie derlei Tendenzen in einen Dialog zu bringen sind, wie stark bestimmte Narrative des Individuellen nicht auch einem ökonomischen Interesse der Konsumentenbindung folgen – während im Hintergrund eine „Logik des Allgemeinen“ (Reckwitz) mit starker Sogkraft wirkt und neue Abhängigkeitsverhältnisse konstituiert.

In diesem Sinne wird die diskursive Konstruktion von Einsamkeit gerade auch durch die sich gegenwärtig enorm verschärfende Grenzziehung zwischen privaten und öffentlichen Räumen wesentlich beeinflusst: Die einstige Grundidee, den öffentlichen Raum als Möglichkeit zu begreifen, spielerisch konnotierte Rollen einzunehmen, die als Selbst-Schutz von Privatheit und Intimität funktionierten und ein komplexes Interaktionsfeld darstellten, in dem die Mitglieder der Gesellschaft im Modell von Empathie und Rollenübernahme eine Identität entwickelten, wirkt heute antiquiert: Wer nicht möglichst echt, authentisch, emotional und ‚ehrlich‘ sein Innerstes nach außen kehrt und sich „so wie er ist“ auf dem sozialen Parkett zeigt, wirkt schnell sonderbar, jenseits der Norm, verdächtig.

Die durch den Internetraum und soziale Netzwerke forcierte Überflutung des öffentlichen Raumes mit jedermanns Privatheit (von der Geburtstagsrede über das delikate Abendessen bis zum Amateur-Porno am Waldrand) lässt die produktive Grenzmarkierung obsolet werden und verhindert Rückzugsräume, die nicht zuletzt fruchtbare Orte der Konzentration und Einsamkeit darstellen können. Die permanente Anbindung an das weltweite Netzwerk, die dem methodischen Arsenal der Staatssicherheit nachempfundene Unterhaltungssklavin Alexa (die – wo bleibt eigentlich der feministische Aufschrei? – unverständlicherweise einen weiblichen Namen trägt) oder die ‚Flatscreenisierung‘ des gesamten öffentlichen und privaten Raumes sind nur ein paar Beispiele für gewaltsame Angriffe auf das menschlich grundlegende Einsamkeitsbedürfnis und das permanente Bespielen mit Reizen. Überhaupt ist der Rückbezug auf sich selbst in einer Gesellschaft, die das Loblied der Vernetzung, des Austauschs, der Kommunikation und des permanenten Sendens singt und vor allem den Modus des Aktiven, der Bewegung in Permanenz (alles interessanterweise grundlegende Paradigmen kapitalistischer Produktivkraft) bevorzugt, wenig honoriert, ja geradezu bemerkenswert ‚unsozial‘ und deshalb ablehnenswert.

In diesen holzschnittartig umrissenen Dunstkreis aktueller Diskurse schreibt sich der Ringvorlesungssammelband des Kollegs „Mittelalter und Frühe Neuzeit“ der Universität Würzburg (in Kooperation mit diversen weiteren Akteuren) notwendigerweise ein – ist das historische, bewusst gegenwartsüberschreitende Nachdenken über „Kulturen der Einsamkeit“ doch immer gebunden an den Betrachterstandpunkt einer Jetzt-Zeit, die dazu in ein dialogisches Verhältnis gesetzt wird. Das interdisziplinäre Projekt, dass Wissenschaftler*innen sämtlicher Philologien, der Theologie und der Sinologie versammelt und sowohl Vortragstexte als auch dazu arrangiertes Material integriert, begreift Einsamkeit als eine „anthropologische Konstante“: Mit beeindruckendem Horizont wird der dem Text zugrundeliegende Leitbegriff als in einem Spannungsfeld lokalisiert verstanden, das Einsamkeit sowohl als (pathologisch konnotierten) Mangel begreift als auch die produktiven Dimensionen von Autonomiegewinn und künstlerischer Schaffenskraft thematisiert, das räumliche Komponenten mitdenkt (Stichwort Isolation) und Einsamkeit als Emotion und Geisteshaltung perspektiviert.

Neubetrachtungen von Klassikern wechseln sich mit bisher wenig berücksichtigten Autor*innen und Texten ab, Nachbardiskurse werden flankiert, verschiedenste Kulturräume in deren spezifischer Ausgestaltung und diskursiven Besetzung des Begriffes konsultiert und skizziert: Ausgehend von religiösen Implikationen und einem Verständnis von Einsamkeit als Form der Einkehr und Spiritualität, der Selbstsorge und Heilserwartung greift der Sammelband aus auf Bezugspunkte zum intellektuellen Leben, zu sprachlichen Modi des Einsamen, zu Verständnishorizonten der Musik und des physisch fassbaren Geographischen oder der künstlerischen Darstellung des persönlichen Rückzugs bzw. seiner ideologischen Aufladung. Die Beiträge halten den Betrachtungsfokus zwischen Antike und Moderne dabei gekonnt in Waage und entwickeln damit subkutan auch eine Idee davon, welche Reichweite und Produktivität ein historisches Kontextualisieren gegenwärtiger Problemstellungen besitzt, wie voraussetzungsreich und zugleich anwendungsfähig das Einbetten eines diskursiv starken Begriffs in lange Traditionslinien ist. Die Grundidee, über das Phänomen der Einsamkeit gleichzeitig Gesellschaftskritik und utopisches Potenzial formulieren zu können, bildet den bestechenden Kern dieser ungemein reichhaltigen Analyse und darf als vorbildhaft gelten für weitere Arbeiten, die in diesem Zusammenhang ansetzen.

Titelbild

Dorothea Klein / Ina Bergmann (Hg.): Kulturen der Einsamkeit.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
402 Seiten , 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069529

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