Wie sage ich es meiner Tante?

In „Pax“ erzählt Eva Roman die Geschichte eines Coming Outs unter verschärften Bedingungen

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schicksal hat es mit Pax schon sehr früh nicht gut gemeint. Da seine Eltern und sein älterer Bruder auf rätselhafte Weise nicht von einer Urlaubsreise zurückkamen, wächst er bei der Schwester seiner Mutter, bei Tante Beatrix, auf. Vater, Mutter und Bruder suchen ihn in Tagträumen und Visionen auf. Im Laufe des Romans werden diese Erscheinungen aber seltener, als der Junge beginnt, sich zu emanzipieren. Seine Homosexualität, das enge Weltbild seiner Tante – es erscheint im Roman in sich mit der Zeit noch verhärtenden Sprachschablonen und Realitätsverweigerungen –, und die bayerisch-schwäbische Provinz erschweren diesen Prozess erheblich. Am meisten von allem aber die Tante.

Die besondere psychologische Qualität der Beziehung zwischen Tante und Neffe bildet das Epizentrum von Eva Romans zweitem Roman. Manches in diesem Verhältnis ist statisch. So nennt Tante Beatrix Pax niemals bei seinem wirklichen Namen, sondern verwendet stets die geläufigere Ausweichform Max. Während er sich damit arrangieren kann, schmerzt es ihn, dass seine andauernden Fragen nach dem Schicksal seiner Familie unbeantwortet bleiben. Anderes dagegen gerät im Laufe der Jahre in Bewegung. Pax fühlt sich zunehmend verantwortlich für seine Tante und als sie eines Tages infolge eines Schwächeanfalls stürzt, halten ihn seine Sorge und ihre Nörgeleien davon ab, einen Lebensentwurf außerhalb ihrer Reichweite auch nur für möglich zu halten.

Tante Beatrix ist eine schillernde, wirklich geglückte Romanfigur. Ihre große, ungestillte Sehnsucht nach Liebe bringt Eva Roman dadurch zum Ausdruck, dass sie sie immer wieder in Szenen zeigt, in der sie zur Beobachterin von Liebeshandlungen wird, bei denen sie entweder den Blick senkt oder schroff ihre Ablehnung artikuliert. Pax beobachtet sie dabei. Es tut ihm leid. Und es ist ihm peinlich.

Eva Roman beschreibt all dies in einer eleganten, ausgewogenen Sprache, die unaufgeregt für Anschaulichkeit sorgt, gerade wenn sie auf die Gerüche und Geschmäcke der charakteristischen Küche von Tante Beatrix oder der Nachbarin Oma Peschka zu sprechen kommt, aber auch für Farben, Lichtverhältnisse und andere, das Ambiente bestimmende Parameter den richtigen Ton trifft. Es zeichnet sie außerdem aus, dass sie an den richtigen Stellen schweigt. Oft ist es ein schmerzhaftes Schweigen, das die Leerstellen des durch überkommene Moralvorstellungen und Dünkel schwach ausgebildeten Selbstbewusstseins der Hauptfiguren wirksam verdeutlicht.

Pax ist auch ein gelungenes Epochenporträt, das die Provinz am Anfang der 90er Jahre in einer erstaunlichen Kontinuität zu möglicherweise längst überwunden geglaubten Zeiten zeigt: „Väter waren nicht im Freibad, wer sich als Mann über achtzehn, aber unter sechzig nachmittags ohne triftigen Grund dort blicken ließ, konnte nur arbeitslos sein oder ein Perverser.“ Die Enge der Vorstellungswelten ist offensichtlich kein Exklusivproblem der unmittelbaren Nachkriegsgenerationen.

Freilich verbirgt sich hinter den kräftig und stilsicher aufgeführten Schichten aus Zeitkolorit ein gerüttelt Maß an Nostalgie, wenn die Insignien einer untergegangenen Welt heraufbeschworen werden: „Die Telefonzelle war nicht grau und magenta, sondern noch immer bemoostes Postgelb, vielleicht hatte man sie vergessen unter der großen Fichte.“ Das soll aber kein Vorwurf sein. Bewahrung und Beschwörung der Vergangenheit ist eines der ältesten Anliegen der Literatur und als solches völlig legitim. Gerade der Kontrast zu den weniger gerne erinnerten Elementen machen das Bild lebendig und interessant.

Pax scheint diese Brüche zu spüren. Da er sich von den moralischen Anforderungen seines Umfelds zu sehr bedrängt fühlt, stellt er sie auf Distanz, indem er eine Kamera dazwischenschaltet. Die Video-AG und die Entdeckung der Filmkunst werden sein Vehikel, um sich in größerer Freiheit zur Umwelt zu verhalten. Ohne nennenswerte Unterstützung wird es allerdings schwierig mit der Selbstverwirklichung. Deshalb kompensiert er bald mit größeren Mengen Alkohol und Gras.

Der erste Teil des Romans ist viel stärker als der zweite. Während in der Schulzeit die geballte Ladung soziologischer und psychologischer Probleme behandelt werden, die das Biotop Schule zu einem so gefahrenvollen Ort machen, und auch die Beziehung zu Tante Beatrix in der Phase der Adoleszenz am spannungsreichsten erscheint, werden die Themen homosexuelles Outing und das gestörte Essverhalten seiner Kindheitsfreundin Leni einigermaßen routiniert in den vorgezeichneten Bahnen der üblichen Bewältigungsstrategien abgewickelt. Es wird nahegelegt, alles ließe sich lösen, wenn man nur mal mit den wichtigen Menschen in seinem Leben spricht. Da ist wohl auch etwas dran. Es ist nur eben auch sehr langweilig.

Etwas arg alltäglich sind auch die Schwierigkeiten, die Pax in seiner ersten Beziehung begegnen. Sie haben längst nicht die Sprengkraft der Probleme aus seiner akuten Selbstfindungsphase. Und doch hat der zweite Teil des Romans natürlich seine Berechtigung, weil der zentrale Konflikt zwischen Pax und seiner Tante noch auf seine Auflösung wartet. Es der besten Freundin und den Kollegen mitzuteilen, ist natürlich etwas ganz anderes, als es der engsten Bezugsperson beizubringen, mit der man durch ein schier unübersichtliches Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten verbunden ist. Und dann ist da ja noch das Geheimnis vom Schicksal der Eltern, dem Pax am Ende des Romans ein Stück näherkommen wird. Das Warten lohnt sich, denn der letzte Dialog mit Tante Beatrix ist tatsächlich fulminant. Die Figur bekommt dadurch eine tragische Größe, die man ihr angesichts ihres fortschreitenden Verfalls nicht mehr zugetraut hätte. Das Finale ist eine echte Meisterleistung.

Eva Romans Pax ist sicher nicht die erste Coming-of-Age-Geschichte, in der ein junger Mann seine Homosexualität entdeckt. Sie schildert die Entwicklungsschritte ihrer Hauptfigur aber in einer psychologisch glaubwürdigen, atmosphärisch dichten Szenerie, der die Epoche vergegenwärtigt und das Leiden an der Individualität erfahrbar macht. Zudem hat sie mit der Figur der Tante Beatrix dem tragischen Verhängnis vom Geborenwerden und Kindergroßziehen eine neue Seite abgewonnen, die überraschend ist und berührend. Auch wenn der zweite Teil deutlich hinter dem ersten zurückbleibt, ist Pax ein guter Roman.

 

Titelbild

Eva Roman: Pax.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133274

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