Simultane Bedürfnisse – parallele Enttäuschungen

Christoph Höhtker reizt in „Schlachthof und Ordnung“ das Spektrum zwischen Ordnung und chaotischen Zuständen gnadenlos aus – und setzt seinen ambitionierten Ton auf eine paralysierte Gegenwart an

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die blockbusterhaft vermarkteten Filme Christopher Nolans genauer betrachtet (jüngst etwa den als „Rettung des Kinos“ apostrophierten Streifen Tenet), bemerkt ein Phänomen, das interessanterweise mit Blick auf viele kulturelle Erzeugnisse zutrifft: Janusköpfig bieten sie gewissermaßen eine doppelte Perspektive an und changieren zwischen einer Unterhaltungsebene, dem oberflächlichen Blick auf Plot, Form und Erzählstrategien im Sinne des Kurzfristigen und der Sensation einerseits (dem Film etwa als Actionspektakel mit Dramatik und Rasanz), und dem tiefergehenden, fast kultur- und gesellschaftsdiagnostischen Blick andererseits, der das Werk als Ausdruck substanzieller Fragen der Gegenwart begreift. Markant ist dies deshalb, weil es komplexer ist als die kühne Behauptung, man könne „in alles ja einfach alles“ interpretieren, entscheidend sei nur die Frage der Plausibilitäten. Mir scheint vielmehr, dass jene Werke in bewusster Weise so angelegt sind, dass (vielleicht auch mit ökonomischem Kalkül gedacht) unterschiedliche Zielgruppen an disparaten Zugängen arbeiten können – das Werk gerade als mehrschichtiges Werk lesbar wird.

Unter diesen Gesichtspunkten liest man sich auch durch die kritische Kommentierung des vielseitigen Bielefelder Schriftstellers Christoph Höhtker: Große Einigkeit herrscht hier mit Blick auf die Frage des Unterhaltungsfaktors, des Spielerischen, Effektgeladenen, Splatterhaften, Aufmerksamkeit erzeugenden „Verrückten“ seines jüngst publizierten Romans Schlachthof und Ordnung. Jenseits der Frage, welche Substanz derlei literaturkritische Kriterien besitzen und welche Aussagekraft sie mit Blick auf die Einordnung ästhetischer Texte besitzen, sind diese Aspekte auch für den Rezensenten hier zwar sichtbar, erweisen sich aber als enorm in den Schatten gestellt durch die aus meiner Sicht fundamentale politische Kernidee, die diesen Roman lange nachhallen lässt als krisenhaften Gegenwartskommentar.

Sog, Zentrum und Protagonist des Romans ist eine unpersönliche Pille als ultimatives Glücksversprechen für die Vielzahl an stimmhaft montierten Akteuren und Akteurinnen. Weil Familie, Nation und Religion als identitätsstiftende Refugien im Scheitern begriffen sind, übernimmt die Droge als prothesenhafte Verheißung einen zentralen Stellenwert in den zuweilen arg richtungslosen und ramponierten oder fundamentalistisch überregulierten Lebensläufen der Personen: Zwischen einer radikalisierten politischen Gruppierung (die „Jagd auf Nazis“ in Ostdeutschland macht und den Urheber der Pille, das Pharmaunternehmen Winston, zerstören will), windig-sadistischen Managern auf Schlachthöfen, Sozialhilfeempfängern und Literaten und dem „kleinen Mann“, Tagebücher füllend ob der Abhängigkeit, des Glücks und des Scheiterns in Anbetracht der Droge, existiert letztere, zynisch gesprochen, als gesellschaftlicher Kitt. Sie verspricht – und hier bricht des Autors Gegenwartsbewusstsein radikal ein – den Menschen, effektiv, reaktionsschnell, euphorisiert, politisiert, interaktiv und gleichzeitig genügsam in der Sucht zu sein.

„Zupackend, energetisch, völlig gleichgültig“ wird zum Credo einer radikal funktionalisierten und das quantitative Mehrsein glorifizierenden Ich-Gesellschaft der Extreme, der Affekte und des Unmittelbaren. All das sagt Höhtker nicht, dennoch breitet sich ein kulturkritischer Deutungs- und Hallraum als wabernder Geist in seiner Literatur aus. Verstärkt wird dieser durch die mit der Bedeutungsmacht der Ökonomie verschränkte Sehnsucht nach einem neuen Heroismus, nach persönlicher Bedeutsamkeit und Leistung – letztlich nach Motiven des Krieges und der Überwältigung des Anderen. Genial mit diesem Bezugssystem verschaltet sind hier die Rekurse auf das Internet als ursprünglich militärische Technologie sowie der Drogenmissbrauch als Form des Umgangs mit militärisch-soldatischen Erfahrungen der Überforderung, Entfremdung und zugleich Intensivierung von Erleben.

Dennoch verkürzt und vereinfacht man Höhtkers Roman erheblich, deutet man ihn lediglich aus in seinen gesellschaftspolitischen Implikationen, sieht nicht sein gekonntes und extrem ambitioniertes ästhetisches Potenzial: Der Thematisierung einer Gesellschaftsstruktur „im Rausch“ folgt gewissermaßen logisch und konsequent die Grundkonfiguration des Textes als rauschhafte – hintereinander geschnitten sind so soghaft zu durchstreifende Textteile als collagierte Formen, Erfahrungsberichte, Fußnoten, dramatische Handlungsschilderungen und weitreichende medizinische Erklärungen. Das fragmentarische Simultane und Montierte ergibt ein rustikales Stimmengewirr, das am Ende darin gipfelt, dass es sich metatheoretisch selbst als ein von einer Figur gemachter Text entlarvt, infrage stellt und dementiert.

Etwas ratlos ist man am Ende ob der fast ästhetischen Überforderung durch die enorme Vielschichtigkeit der Darstellungsdimensionen, die Höhtkers Text bereithält; doch das ausgebreitete für Leser und Leserinnen präzis erfahrbar werdende literarische Szenario steht eben sinnbildlich für die Wirrnis der Gegenwart, die vielleicht nur zu bewältigen ist im Modus ihrer Ausstellung und Thematisierung.

Titelbild

Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung. Roman.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2020.
409 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863371807

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