Das habe ich mir verdient
Ebenso tiefschürfend wie leichthändig erzählt der Moralphilosoph Michael J. Sandel in seiner beeindruckenden Analyse der real existierenden Leistungsgesellschaft „Vom Ende des Gemeinwohls“
Von Arne Koltermann
Wer es im Leben zu etwas bringt, hat es aus eigener Kraft geschafft. Verlierer haben es einfach nicht drauf. Oder sich nicht genügend angestrengt. Wir leben in einer Arbeitswelt, die persönlichen Erfolg oder Versagen der Leistung von Einzelnen zuschreibt. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel hinterfragt diese Ideologie in seinem Buch Vom Ende des Gemeinwohls – wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Er greift dabei auf Überlegungen des Yale-Professors Daniel Markovits in dessen Buch The Meritocracy Trap zurück. Ähnlich wie Sandel macht er die Leistungsgesellschaft sowohl für ökonomische Ungleichheit als auch für gesellschaftliche Spannungen verantwortlich.
Mit beeindruckender Leichtigkeit zeigt Sandel den Lesern zunächst die christlichen Grundlagen der Leistungsethik auf. Laut Augustinus konnte die Erlösung des Menschen nicht von seinen guten Taten abhängen. Denn dies hätte geheißen, Gott auf die Rolle eines Notars zu reduzieren. Allmächtig konnte keiner sein, der bloß noch abprüft, ob sich jemand das ewige Leben verdient hat – oder eben nicht. Dem Status Gottes schien einzig die Gnadenlehre zu entsprechen. Denn nur Gnade konnte den in der Erbsünde verfangenen Menschen erlösen. Es lag ganz in Gottes Belieben, ob jemandem ewige Erlösung zuteilwurde oder nicht. Verdienste und Gnadenlehre vertrugen sich nicht, so schien es. Doch damit die Leute sich gottgefällig verhielten, musste man ihnen schon etwas bieten. Die kirchliche Praxis des Mittelalters erfand mit dem Ablasshandel daher ein Instrument, wie Einzelne ihre ewigen Aussichten verbessern konnten. Dass man die Kirche beim Kampf um ewiges Wohlergehen durch milde Gaben schmieren können sollte – genau genommen die Wartezeit im Fegefeuer verkürzt, wie Sandel klarstellt – trug wesentlich zur Entstehung des Protestantismus bei. Für Martin Luther, wie Augustinus ein strenger Vertreter der Gnadenlehre, war die Ablehnung des Ablasshandels ein wesentliches Motiv. Im Gefolge des Genfer Reformators Calvin trat dann die Prädestinationslehre auf den Plan. Max Weber meinte in Die protestantische Ethik und der Kapitalismus schon 1904 zu erkennen, warum Calvinisten so arbeitsversessen und geschäftstüchtig wurden. Durch Werke kamen sie zwar nicht ins Paradies, wirtschaftlicher Wohlstand war aber äußeres Zeichen, dass jemand zu den Auserwählten gehörte. Webers Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte These ist nicht unumstritten, Sandel hält sie aber nach wie vor für plausibel. Da sich allerdings niemand mehr auf das Jenseits verlassen mag und Begriffe wie Sünde auch nicht mehr so richtig ziehen, hat die Meritokratie die ewige Ernte in das Leben vorverlegt.
Gegen die vermeintliche Durchlässigkeit der Leistungsgesellschaft spricht, dass die USA ebenso wie Europa – wenngleich in anderem Maße – von gleichen Bildungschancen für alle weit entfernt sind. Ob jemand in einem wohlhabenden Haushalt aufwächst oder die Eltern Sozialhilfe beziehen, ist für das individuelle Fortkommen entscheidend. Doch beim praktischen Einwand gegen die real existierende Leistungsgesellschaft, sie werde den egalitären Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht, bleibt Sandel nicht stehen. Er zieht darüber hinaus auch in Zweifel, ob sie selbst in dem steril-utopischen Zustand absolut gleicher Startbedingungen wünschenswert erscheint. Denn geerbte Gaben oder naturgegebene Intelligenz, wodurch bessere Leistungen erzielt werden, sind nicht durch Verdienste der Einzelnen bedingt, sondern hängen von vorteilhaftem Schicksal ab. Denn wieso, hier kommt der Moralphilosoph ins Spiel, hat jemand mehr verdient, bloß weil er über höheres Talent verfügt?
Sandel versteht es, seine These vom Ende des Gemeinwohls mit geschickt platzierten Statistiken zu unterfüttern. 1987 bezogen öffentliche Hochschulen in den USA dreimal mehr Geld durch staatliche Finanzierung als durch Gebühren. Inzwischen machen etwa an der Universität von Madison in Wisconsin öffentliche Gelder nur noch 14 Prozent aus. Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander: „1979 verdienten Hochschulabsolventen etwa 40 Prozent mehr als diejenigen mit einem High-School-Abschluss; in den 2000ern lag ihr Einkommen 80 Prozent höher.“ Während CEOs in den Siebzigern das Dreißigfache des durchschnittlichen Arbeiters erhielten, war es 2014 das Dreihundertfache. Und „obwohl das Pro-Kopf-Einkommen seit 1979 um 85 Prozent gestiegen ist, verdienen weiße Männer ohne den akademischen Grad eines Vollstudiums inzwischen effektiv weniger als damals.“ Doch 70 Prozent der Amerikaner verfügen nun mal nicht über ein abgeschlossenes Studium. Man mag Eltern noch damit motivieren, dass ihr Kind alles schaffen kann. Doch was ist mit denen jenseits der 40, die noch Jahrzehnte im Berufsleben stehen und sich nach einer Arbeit sehnen, die sie ernährt und bei der sie zugleich Anerkennung finden, und was geschieht mit den Kindern, die durch die Raster fallen? Menschen, die es im Wettbewerb nicht auf die vorderen Plätze geschafft haben und es auch nicht mehr schaffen werden, kamen über Jahrzehnte in der Rhetorik vorgeblicher progressiver Parteien links und rechts des Atlantiks nicht mehr vor. Erst nach Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten 2016 fiel den Demokraten auf, die soziale Frage links liegen gelassen zu haben. Da war aber schon ein Vierteljahrhundert der Ignoranz ins Land gegangen. Ebenso wie europäische Politiker wie Tony Blair und Gerhard Schröder verschrieben sie sich dem unter Reagan groß gewordenen wirtschaftsliberalen Dogma, man müsse den Blick weg von gesellschaftlichen Veränderungen auf die Einzelnen lenken.
Wer mehr Verdienste in Form von Universitätsabschlüssen und ähnlichem erworben hat, kann dank der dabei gewonnenen Fähigkeiten jedenfalls besser regieren. Oder etwa nicht? Sandels klare Antwort: „Die Vorstellung, die ‚besten und hellsten Köpfe‘ seien besser für die Staatsgeschäfte geeignet als ihre weniger mit Referenzen gesegneten Mitbürger, ist ein aus meritokratischer Überlegenheit geborener Mythos.“ Im britischen Nachkriegskabinett Clement Attlees, das die Einführung des nationalen Gesundheitsdiensts NHS verantwortete, war Außenminister Bevin schon im Alter von elf Jahren von der Schule gegangen, Vize-Premier Morrison mit 14. Auch Roosevelts epochemachender New Deal wurde nicht von Akademikern konzipiert. Sandel weist darauf hin, dass die Krise der sozialdemokratischen Parteien in Europa mit der immer weiter sinkenden Repräsentation der Arbeiter in den Parlamenten korrespondiert. Im Bundestag beträgt der Anteil der Hauptschulabsolventen nicht einmal 2 Prozent.
Während sich die sozialen Verlierer des Ausleseprozesses abgehängt fühlen, wähnen sich die Gewinner in der Illusion, ihren Erfolg einzig eigenem Wirken zu verdanken. Wenn Sandel, der selbst in Harvard lehrt, seine Studenten daran erinnert, wie entscheidend Herkunft, Schicksal und Glück für persönlichen Erfolg sind, reagieren sie abwehrend. Denn es stellt ihr Selbstverständnis in Frage, sich alles hart erarbeitet zu haben. Derlei Demut ist dem Wertesystem der Leistungsgesellschaft fremd. Doch die Illusion der umfassenden Selbstwirksamkeit wirkt sich auf Werte wie Solidarität zersetzend aus. Denn wo Menschen ihre Not selbst verschuldet haben, verdienen sie auch kein Mitgefühl. Es wird nicht mehr in Kategorien von Gesellschaft und Gemeinwohl gedacht. Nur folgerichtig erscheint da, wenn Reiche sich weigern, Steuern zu bezahlen, und, wenn überhaupt, lieber spenden. Denn sie wollen entscheiden, wer ihr Geld bekommt. Wo es keinen Sinn für Gemeinwohl mehr gibt, regieren die individuellen Moralvorstellungen der Betuchten. Ein alter Spruch Margaret Thatchers ist wahr geworden: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Nicht mehr.
Sandel untersucht also die Auswirkungen des Leistungsdenkens sowohl auf die Profiteure als auch auf die Unterlegenen. Und stellt dabei fest, dass auch die Sieger Schaden nehmen. Der enorme Stress, dem sich die Anwärter auf die begehrtesten Studienplätze ausgesetzt fühlen, führt zu Depressionen und steigenden Suizidraten. Auch scheint das Erfolgsempfinden nicht lang anzuhalten. Wie ein Junkie immer neue Highs erstrebt, setzt sich der Erfolgreiche pausenlos weiteren Challenges aus, die er ebenso zwanghaft auch in sein Privatleben integriert. Doch für die gesellschaftlichen Verlierer des Wettbewerbs sind die Auswirkungen viel verheerender. Arbeit ist seit jeher eine Quelle persönlicher Anerkennung. Und diese Anerkennung ist nicht nur materiell, sondern auch seelisch zu fassen. Entwicklungen wie der massenhafte Missbrauch von Opioiden sind Nebenwirkungen der Leistungsgesellschaft, wie die Ökonomen Anne Case und Angus Deaton in ihrem Buch Deaths of Despair and the Future of Capitalism untersucht haben.
Sandels Analyse ist auch für hiesige Diskussionen erhellend, wenngleich besonders bei der Hochschulbildung gewichtige Unterschiede bestehen. So spielen Studiengebühren jedenfalls an öffentlichen Hochschulen in Deutschland kaum eine Rolle. Auch aktive Arbeitsmarktpolitik macht in den USA nur etwa ein Zehntelprozent des BIP aus. Doch immer neue Abschlüsse und Zertifikate als vermeintlicher Ausweis von fachlicher Kompetenz greifen auch hier um sich. Sandel nennt diese Praxis Kredentialismus – „das letzte akzeptable Vorurteil“. Auch die ständige Messung von IQ und SAT-Zugangstests, um im Wettbewerb die angeblich Geeigneteren auszuwählen, hält er für absurd. Inhalte werden uninteressant – ob jemand in Harvard studiert hat, ist am Ende viel entscheidender als das, was er dort eigentlich gelernt hat. Die Elite-Unis fördern das gegenseitige Zerfleischen und rühmen sich damit, dass ihre Aufnahmequoten von Jahr zu Jahr zu sinken. Die angekommenen Happy Few sind eher Auserwählte als Studenten. Sandel zeigt, dass selbst bei ehrenamtlichen Tätigkeiten in Harvard ausgesiebt wird:
Die Crimson Key Society, die die Orientierungswoche für Studienanfänger organisiert und Führungen über den Campus anbietet, wirbt ebenfalls mit ihrer Selektivität; nur 11,5 Prozent der Bewerber werden angenommen. „Wir wollen nicht bloß irgendjemanden vor die Touristen stellen“, erklärt der Auswahlleiter der Vereinigung.
Der Autor schlägt vor, anstelle der sinnlosen Testorgien und Aufnahmeprüfungen die Studienplätze unter den zahlreichen geeigneten Bewerbern zu verlosen.
Teenager, die an eine Uni wollen, würden ebenso wie ihre Eltern merken, dass Schüler abgesehen von der Fähigkeit, bei Kursen auf Hochschulniveau gute Leistungen zu zeigen, es nicht mehr nötig hätten, ihre Jugend einem mit Aktivitäten und Errungenschaften gespickten Rüstungswettlauf zu opfern, die darauf abzielen, Zulassungsausschüsse zu beeindrucken.
Zudem sei zu überlegen, „wie wir Erfolg im Leben weniger davon abhängig machen, ob wir ein vierjähriges Studium abgeschlossen zu haben.“ Darüber hinaus solle man „den Rückzug von der öffentlichen höheren Bildung umkehren, die Vernachlässigung technischer und beruflicher Ausbildung überwinden und die – Bezahlung wie Ansehen betreffende – schroffe Unterscheidung zwischen Hochschulen und anderen Modellen der postsekundären Bildung aufbrechen.“ Er wünscht sich statt der Leistungsgesellschaft eine Beitragsgesellschaft, in der jeder Einzelne unabhängig von seinem sozialen Status Anerkennung findet. Hier mag man nun einwenden: Aus der sicheren Warte des Wissenschaftlers kann Sandel eine solchen Wunsch leicht postulieren. Aber es wäre zu billig, seine Anregungen damit abzutun.
Warum sollten die Erfolgreichen den Unterlegenen etwas schuldig sein? Sandel rät seinesgleichen anzuerkennen, „dass wir es glücklichen Umständen zu verdanken haben, wenn die Gesellschaft unsere Fähigkeiten schätzt.“ Dabei wird er am Ende beinahe pastoral: „Eine solche Demut steht am Anfang des Weges, der uns von der brutalen Ethik des Erfolges, die uns auseinandertreibt, zurück führt. Sie weist über die Tyrannei der Leistung hinaus auf ein weniger erbittert geführtes, großzügigeres öffentliches Leben.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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