„Schneefall“: Erster Band einer neuen Ausgabe von Grimms Märchen mit Bildern von Henrik Schrat und einem Vorwort von Nora Gomringer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Künstler Henrik Schrat hat in diesem Winter unter dem Titel Schneefall – Himmel & Hölle den ersten Band einer neuen, von ihm illustrierten „Gesamtausgabe in fünf Bänden“ von Grimms Märchen vorgelegt. Die folgenden Bände sollen in den nächsten vier Jahren erscheinen. Henrik Schrat setzt damit eine inzwischen über 200 Jahre dauernde Editionsgeschichte dieser Märchen fort. Die erste Ausgabe erschien 1812 und 1815 in zwei Bänden, die Ausgabe „von letzter Hand“ mit über 200 Märchen zu Lebzeiten der Grimms 1857. Auf sie vor allem greift die neue Ausgabe zurück. Die Märchen sind dort allerdings nicht, wie Henrik Schrat in seinem Nachwort „Warum das Buch so ist, wie es ist“ erläutert, „in der grimmschen Reihenfolge geordnet. Aus der Zusammenschau der Texte wurden inhaltliche Muster geformt. Das Vergnügen am Lesen der Bände stand bei der Anordnung im Vordergrund, Spannungsbögen aufzubauen, Themen zu streuen, aber auch Ähnliches vergleichbar zu machen.“

Nora Gomringer hat im Vorwort zu dem ersten Band den Obertitel der Gesamtausgabe Rodung – Kreuzung – Lichtung in diesem Zusammenhang so interpretiert: „Henrik Schrat hat sich der Grimm’schen Märchen angenommen, sie zergliedert (Rodung), ihre Ordnung umgestellt (Kreuzung), hat aus ihnen ein Instrument, eine Art Orgel gebaut und spielt diese laut und virtuos (Lichtung). Den Schneefall im Titel des ersten Bandes assoziiert sie mit „Weihnacht“. „Denn der Schneefall im Märchentext ist Symbol für Kälte und Wunder, Veränderung in der Natur als Bild der Schönheit bei gleichzeitiger Grausamkeit, denn den Elementen sind wir ausgesetzt.“ Der Band „enthält die Märchen, in denen es ums Ganze geht, um den Menschen in seiner Selbst- und Existenzbefragung, seiner Nacktheit und Ausgesetztheit in der Schöpfung, sichtbar mit seinen Wünschen, Sehnsüchten und Gelüsten und arm, immer wieder bettelarm und hungrig.“

An Traditionen früherer Editionen knüpft die neue Gesamtausgabe vor allem auch mit ihrer Bebilderung an. „Grimms Märchen gehören“, so Henrik Schrat in seinem Nachwort, „zu den meistbebilderten Texten, großartige Künstler wie Ludwig Richter, Otto Ubbelohde, Max Slevogt, Walt Disney oder Werner Klemke und viele, viele mehr haben sich mit ihnen befasst.“ Schrats neue Zeichnungen rücken die alten Märchen in Zusammenhänge mit dem, was wir heute lesen, sehen und hören. Sie verflechten die Grimm’schen Texte mit gegenwärtigen Situationen, Orten und Personen in der Realität oder auch der popkulturellen Fantasy-Welt. Schrat selbst bemerkt zur Entstehung seiner Bilder: „Wessen Gesicht soll der Riese bekommen und wie sieht die böse Schwiegermutter aus – wie ein Supermodel oder wie eine Politikerin? Wo steht das Hexenhaus? Vorm Kanzleramt oder in der Reihenhaussiedlung? Die Stadt als Wald, Zauber und Realität durchdringen sich, der Teufel steht am Würstchenstand.“

Weitere Informationen zu dem Editionsprojekt und eine Einladung, sich selbst daran zu beteiligen, stehen auf der  Website www.grimmschrat.de.

Die Redaktion unserer Zeitschrift dankt Henrik Schrat für die Genehmigung, ein Beispiel aus dem ersten Band in der Dezember-Ausgabe von literaturkritik.de zu veröffentlichen: das Märchen Die drei Brüder.

T.A.

Titelbild

Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Rodung – Kreuzung – Lichtung. Alle Grimmschen Märchen bebildert von Henrik Schrat. Band 1: Schneefall, Himmel & Hölle.
Vorwort von Nora Gomringer.
Textem Verlag, Hamburg 2020.
264 Seiten , 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783864852466

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