„Ein bisschen mehr Jazz“

Ein Gespräch mit der Autorin Tamara Bach über den Begriff ‚Jugendliteratur‘, experimentelle Formen und das Schreiben in Corona-Zeiten

Von Gwendolin KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gwendolin Koch

Eigentlich war Tamara Bach dabei, Lehrerin zu werden, aber dann schrieb sie während ihres Referendariats in Irland Marsmädchen (2003). Das Buch, in dem es um eine Liebesgeschichte zweier Teenagerinnen geht, gewann noch vor seiner Veröffentlichung den Oldenburger Kinder- und Jugendliteraturpreis, danach auch den Deutschen Jugendliteraturpreis. Seitdem sind von ihr mehrere Kinder- und Jugendbücher erschienen, darunter Marienbilder (2014), Vierzehn (2016), Mausmeer (2018) und zuletzt Sankt Irgendwas (2020), die zum Teil ebenfalls für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert waren. Bach ist für ihr Experimentieren mit Formen sowie ihre markante Sprache bekannt. Darüber hinaus ist sie begeisterte Strickerin – und das nicht erst seit Beginn der Pandemie.

 

Dieses Interview findet ja im Rahmen einer Ausgabe zu „Jugendliteratur“ statt. Was halten Sie von diesem Begriff?

Das ist ein großes Thema, das lustigerweise nur ein Thema innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) ist. Sobald Leute aus der KJL rausgewachsen sind, wollen sie oft nichts mehr damit zu tun haben. Es kommt immer wieder vor, dass Leute, wenn sie meine Bücher zum ersten Mal lesen, sagen: „Oh, das kann man ja auch als Erwachsener lesen.“ Dann denke ich mir: „Ja klar, dir fällt ja nichts ab.“ Man kann als Erwachsener auch Kinderbücher lesen ohne sich total unterfordert zu fühlen. ‚Jugendbücher‘ heißt: Auch Jugendliche können das lesen, das ist wie bei Brettspielen, wenn es heißt ‚von 6 bis 99‘. Ich finde es immer erstaunlich, zum Beispiel beim Deutschen Jugendliteraturpreis, dass auch Bücher aus der Belletristik, die von Jugendlichen gelesen werden können, nominiert werden, während es andersrum so ist, dass Bücher, die in Kinder- und Jugendbuchverlagen erscheinen, nie für irgendwelche Buchpreise in Deutschland nominiert würden. Vielleicht irre ich mich da auch und das ist schon mal passiert, aber die Durchlässigkeit ist eher von der einen Seite zu der anderen.

Also haben Sie das Gefühl, dass das eher ein restriktiver Begriff ist?

Ja. Aber tatsächlich nicht immer, also nicht innerhalb des Bereichs, in dem man damit arbeitet, sondern eher von außen. Es gibt schon einige Leute, die die Augenbrauen heben und sagen „ugh, Jugendbücher“. Manche sagen direkt: „Ahh, Kinderbücher, das ist ja niedlich.“ Ich wurde auch schon gefragt, ob ich denn vorhätte, mal richtige Bücher zu schreiben. Hat sich im selben Satz dann auch noch entschuldigt, aber letzten Endes war das genau das, was er gemeint hat. Viele denken so, für die ist es eine mindere Art von Literatur, bzw. sogar gar keine Literatur. Sondern Unterrichtsmaterial. Oder Handreichungen zu irgendwelchen moralischen Problemen, die einen in diesem Alter begegnen. Es ist schon etwas anstrengend, dann erklären zu müssen, dass man nicht nach Lehrplänen schreibt. Auch in universitären Kontexten wird Jugendliteratur meist nur in der Didaktik behandelt.

Sie haben jetzt schon angesprochen, dass Erwachsene auch Jugendliteratur lesen können und das auch tun, aber ich würde trotzdem fragen, ob Sie glauben, dass es Unterschiede im Schreiben für Jugendliche und Erwachsene gibt? Bzw. ob Sie, wenn Sie schreiben, sich erstens überhaupt jemanden vorstellen und zweitens ob diese Person dann tatsächlich jugendlich ist? Beeinflusst die Person, die Sie sich vorstellen, wie Sie letztlich schreiben?

Ich habe das irgendwann mal versehentlich angefangen. Beim ersten Buch natürlich nicht. Aber als sich herauskristallisierte, dass es jetzt mein Beruf ist, Jugendbücher zu schreiben, da kamen plötzlich diese Kopfschranken. Was wird der Verlag denken, die Lektoren, das Feuilleton? Es kommen diese ganzen Stimmen, die einem in den Text reinreden, und das blockiert einen. Dann ist es sehr wichtig, wieder zu diesem ursprünglichen Schreiben zurückzukommen. Ich schreibe, weil ich eine Geschichte erzählen will. Mein Schreiben ist tatsächlich auch eher intuitiv. Häufig weiß ich gar nicht, wie die Geschichte eigentlich aussieht, ich schreibe mich an die Geschichte heran. Andere wissen schon alles, wenn sie sich an den Text setzen. Ich lerne auch die Figuren erst beim Schreiben kennen. Also denke ich mehr an die als an eine Zielgruppe.

Für mich ist Schreiben ein Austausch mit den Figuren. Die Geschichte muss dann für diese Figuren funktionieren und nicht für vermeintliche Leser. Es ist tatsächlich so, dass ich manchen jugendlichen Lesern dann sauer aufstoße, weil sie sagen: „Oh mein Gott, die Sprache ist so komisch.“ Ich beschreibe selten das Äußere von Figuren, es gibt meist wenig Plot, der Großteil passiert in den Figuren. Meine Sprache mögen viele nicht, weil ich kurze Sätze schreibe, manche sagen: „Das stimmt grammatikalisch gar nicht.“ Aber so reden Menschen halt; Sätze werden nicht zuende geführt, Satzteile falsch zusammengesetzt. Viele denken, dass man für Jugendliche eine besondere Sprache benutzen muss, beim Schreiben das „Wörterbuch der deutschen Jugendsprache“ aufgeschlagen neben einem. Aber ich schreibe generell umgangssprachlich. Und Erwachsene reden ja auch so.

Wenn Sie Ihren Schreibprozess als eine Art Dialog mit den Figuren verstehen und die Figuren der Ausgangspunkt Ihres Schreibens sind, haben Sie dann eine Idee – oder vielleicht sogar einen bewussten Gedanken dahinter – warum die Figuren, über die Sie schreiben, meistens Kinder oder Jugendliche sind?

Ich weiß es tatsächlich nicht. Ein Grund ist wahrscheinlich, dass ich sehr lange Kinder- und Jugendbücher gelesen habe, sehr viel länger als andere, weil ich in dieser Phase, in der man von Jugend- zu Erwachsenenliteratur übergeht, meine Nische in der Erwachsenenliteratur nicht direkt gefunden habe. Das waren alles Texte über alte Menschen, die nichts mit meiner Welt zu tun hatten. Inzwischen weiß ich natürlich, dass ich auch andere Bücher hätte finden können, aber damals hatte ich keinen Zugang zu denen. Und ich mochte Kinder- und Jugendbücher einfach gerne.

Kinder haben auch immer wieder eine Rolle in den Kurzgeschichten gespielt, die ich geschrieben habe. Meine erste Kindergeschichte habe ich mit 18 Jahren beim Treffen junger Autoren geschrieben im Rahmen von einem Workshop, „Schreiben für Erstleser“. Da haben alle gesagt: „Hey, du kannst das ja richtig gut.“ Ich war da in einem Alter, in dem man das nicht so häufig gesagt bekommt. Später habe ich dieses Buch geschrieben, Marsmädchen, ein Jugendbuch, aus Langeweile. Das hatte mehrere Ansätze gehabt und dann war es irgendwann fertig und Menschen sagten wieder: „Ey, du kannst das ja total gut.“ Also, das hat natürlich ein bisschen gedauert, aber ich habe einen Preis bekommen, bevor das Buch herauskam und danach noch mal und ich war plötzlich in der Kinder- und Jugendliteratur in aller Munde, weil ich noch relativ jung war und neu. LGBTQ-Themen waren damals in dieser Form in der Kinder- und Jugendbuchliteratur auch noch nicht behandelt worden. Und dann war das auch ein bisschen so: „Oh, ich kann was, dann mache ich das mal weiter.“

Ich habe Kinder und Jugendliche auch als Erwachsene immer noch beobachtet. Es ist erstaunlich, wie viel Erwachsene über ihre eigene Pubertät vergessen und wie sehr sie sich davon distanzieren. Und vergessen, wie sie selbst waren. Warum sie zum Beispiel mit dreizehn immer die Hände in den Jackenärmeln hatten. Es ist eine spannende Zeit, die Pubertät und die Kindheit, weil eben so viele neue Sachen passieren. So viele erste Male, so viel Weltveränderndes. Gefühle sind sehr groß und sie sind oft neu und man muss erst mal lernen, damit umzugehen. Vielleicht ist es diese Art, unschuldig der Welt zu begegnen, die spannend für mich ist. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.

Eine Sache, die ich an Ihren Büchern so herausstechend finde, ist, dass Sie häufig mit Formen experimentieren – Vierzehn ist in Du-Form geschrieben, Sankt Irgendwas besteht aus einem Protokoll und E-Mails, die von einem nur wörtlich wiedergegebenen Gespräch umrahmt sind. Sie haben gesagt, dass Ihr Schreiben von den Figuren ausgeht. Wie und wann kommt dann diese experimentellere Form dazu und inwiefern unterscheidet sich der Schreibprozess von einem eher konventionellen Text?

Es ist dann nicht mehr so trennbar. Ich kann mich nicht nur an den Figuren orientieren, es wirken viele Faktoren reziprok aufeinander ein. Wenn ich die Figur habe, braucht sie eine eigene Sprache, was die Perspektive natürlich beeinflusst. Reicht eine Perspektive oder brauche ich mehrere? Welche Teile der Geschichte will ich erzählen und welche nicht? Bei Sankt Irgendwas hatte ich an Anfang die Idee, den Text nur in Dialogform zu schreiben, das hat sich allerdings nach 14 Seiten sehr schnell erschöpft. Und das war etwas, was ich beim Schreiben feststellen musste. Es war eine wunderbare Idee, keine neue natürlich, am schönsten umgesetzt bei Wolf Haas, Das Wetter vor 15 Jahren. Das würde ich auch gerne noch mal machen, aber da hat es eben nicht funktioniert. Und dann habe ich mir gedacht: Es ist ein Buch über Hören-Sagen. Das wusste ich. Ich wusste auch, was die Themen sind, was Tendenzen des Erzählens sind. Und diese Tendenzen beeinflussen, wie ich die Geschichte erzähle, mit welchen Formen, welcher Sprache, mit welcher Perspektive. Welche Chronologie vor allem auch. Da war es eben so, dass ich mir dachte, dass es wird wie bei einem Kriminalfall. Man sucht nach Beweisen, Unterlagen. Was wurde alles schriftlich festgehalten? Emails, Postkarten. Und dieses Protokoll. Lehrer scheinen das gar nicht mehr so zu machen, aber ich habe tatsächlich immer noch Tagebücher und Klassenfahrtsprotokolle aus meiner Schulzeit. Manchmal waren sie freiwillig, manchmal eine Schulaufgabe oder sogar vom Lehrer verfasst. Und ich fand die Vorstellung interessant, dass es erst mal rumgegeben wird, aber dann bei der einen Figur bleibt.

Beim Schreiben probiere ich häufig Dinge aus. Ob eine Perspektive funktioniert. Wenn ich auf der Stelle trete, braucht es wohl mehr als eine Perspektive. Oder ich muss mich aus der Ich-Perspektive wegbewegen, weil ich nicht die ganze Zeit aus einer Figur erzählen kann. Manchmal ist der Ton auch schon von Anfang an da. Bei Vierzehn zum Beispiel wusste ich von Anfang an, dass es die Du-Form sein musste, und dann hat es auch gepasst. Man ist sehr nah an der Figur dran, aber auch gleichzeitig außerhalb. Man kann Dinge sagen wie: „In zwei Wochen wirst du dasunddas machen.“ Das geht in der Ich-Perspektive nicht so leicht. Und als das Buch veröffentlicht war, hat sich für mich auch herausgestellt, dass die Leser durch die Perspektive auch in die Figur reingeschubst wurden. Was einige aber auch nicht mögen.

Bei einem Schreibworkshop meinte mal jemand zu mir, das sei die übergriffigste Perspektive, die es gibt. Fand ich ganz spannend. Es ist eben ein Ausprobieren. Ich suche nicht nur nach der Geschichte, sondern auch nach der Erzählweise, der Form. Wenn alles klappt, geht das Hand in Hand. Und es macht auch einfach mehr Spaß, mit Formen zu spielen. Bei A anzufangen und bei Z aufzuhören kann natürlich auch funktionieren, aber das wird mir schnell langweilig. Ich möchte lieber zwischendurch andere Sachen ausprobieren. Ein bisschen mehr Jazz.

Abschließend dann noch die obligatorische Corona-Frage: 2020 war für beinahe jeden ein ziemlich turbulentes Jahr, das viele Veränderungen mit sich gebracht hat. Die Kulturszene steckt momentan ziemlich in der Krise, Lesungen werden abgesagt, etc. Hat das Jahr auch Ihr Schreiben verändert?

Ja. Das Nachdenken darüber, was danach kommt, ist ganz zentral. Ich schreibe realistische Texte und momentan wissen wir nicht, wie der Alltag in der Zukunft sein wird. Wie lange wird sich das halten mit den Masken? Die kleinen Dinge. Dass man sich einfach so umarmt auf der Straße. Sollte die Pandemie irgendwann vorbei sein und zwar richtig vorbei… Das ist eben so das Ding. Die Leute reden davon, „wenn alles wieder normal ist“, und sie denken, ‚normal‘ ist der Zustand, den wir vorher hatten. Ich bezweifle, dass es diesen Zustand jemals wieder geben wird, ich kann mir das nicht vorstellen. Ich glaube, Dinge werden sich verändern.

Gerade schreibe ich ein Buch, das wird nächstes Jahr im Herbst rauskommen, und ich weiß nicht, wie deckungsgleich der erzählte Alltag darin mit der Realität sein wird. Naja. Jugendbücher veralten eh. Marsmädchen zum Beispiel, da hatte niemand ein Handy. Das Internet hat keine Rolle gespielt. Das ist absolut realitätsfern von dem, was Jugendliche heute erleben. Aber trotzdem: Man weiß momentan nicht, über was für eine Realität man schreiben soll, weil wir nicht wissen, wie lange das alles geht.

Und der andere Teil eben auch: Dass Lesungen ausfallen, ist ganz, ganz schlimm, das verstehen die meisten gar nicht. Die meisten Kinder- und Jugendbuchautoren finanzieren sich durch Lesungen, das ist die größte Einnahmequelle, die alle haben und die jetzt einfach weggebrochen ist. Die meisten Menschen denken, dass das nur ein bisschen Werbung ist, aber tatsächlich ist es eben das, womit wir Geld verdienen. Manche sagen dann: „Ja, aber dafür haben die Leute ja dieses Jahr mehr gelesen.“ Ich weiß gar nicht, ob sich das tatsächlich in den Verkaufszahlen niedergeschlagen hat. Viele Leute sind wirklich ans Existenzminimum gebracht worden.

So langsam kommt es an, dass Lesungen und Gespräche mit Kindern und Jugendlichen auch digital gemacht werden können. Wie es mit dem Schreiben, also wirklich mit den Inhalten, bei anderen aussieht, weiß ich nicht. Ich habe aber gemerkt, dass mein Verhalten als Konsumentin von Serien, Filmen oder Büchern, sich verändert hat. Ich möchte Sachen sehen, die mir Hoffnung machen. Es gibt Filme und Serien, die mich absolut verunsichert und für mehrere Tage runter gerissen haben, auch wenn sie eigentlich richtig gut waren. Wir sind alle sehr viel dünnhäutiger und suchen nach Geschichten, die uns entweder in eine ganz andere Welt entführen oder uns ein bisschen Hoffnung geben. Zum Lächeln bringen oder sowas. Ich schreibe selbst auch gerade etwas über Hoffnung. Mal gucken, wie das nächstes Jahr dann so ankommt.