Heimat-Epos mit Kapitalismus-Kritik

Mit „Die Unverhofften“ legt der Dramatiker Christoph Nußbaumeder ein weit verzweigtes und üppiges Epos vor, das von der vorletzten Jahrhundertwende bis in die heutige Gegenwart reicht

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgangs- und durchgehender Dreh- und Angelpunkt des Romans Die Unverhofften ist ein kleines Dorf im Bayrischen Wald, in dem die Glashütten-Dynastie von Sigismund Hufnagel den Bewohnern Arbeit bietet und eine kärgliche Existenz sichert. Mit naturalistischer Wucht schildert Nußbaumeder die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die aufkommenden Arbeiterbewegungen, die aber unter den Bismarckschen Sozialistengesetzen gnadenlos bekämpft werden. Aber nicht nur die Arbeiter sind hier Freiwild für den Dynasten, sondern auch seine Haushaltshilfe Maria, die von Amerika träumt. Nach einer Vergewaltigung durch Hufnagel legt sie Feuer an der Glashütte und flieht, um sich in Antwerpen nach Übersee einzuschiffen.

Danach springen wir an das Ende des Zweiten Weltkriegs und zu den Brüdern Josef und Vinzenz Hufnagel. Während der kriegsversehrte Josef mit Unterstützung der amerikanischen Besatzer in der Gemeinde und dann darüber hinaus Karriere macht, versinkt sein Bruder, ein ehemaliges SA-Mitglied, im Suff und heiratet die als Flüchtling in das Dorf zurückgekehrte Erna – die zuvor vorgeblich von Josef geschwängert worden war und wiederum die Tochter Marias ist.

In der Folge rückt Ernas zielstrebiger Sohn Georg in den Fokus der Erzählung. Es bahnt sich nicht nur eine unglückliche Liebesgeschichte von Shakespearscher Tragik, sondern auch eine unglaubliche Karriere an – vom Geschäftsführer eines Sägewerks wird er zum Trockenbau-Unternehmer und schließlich zum Immobilienmilliardär. Vom fürsorglichen, sozial eingestellten Unternehmer entwickelt er sich dabei nicht zuletzt aufgrund persönlicher Enttäuschungen zu einem skrupellosen Geschäftsmann, der alle Lücken in einer neoliberalen und deregulierten Wirtschaft zur Gewinnmaximierung nutzt – um dann nach dem unwürdigen Tod seiner heimlichen lebenslangen Liebe eine abrupte Kehrtwende einzulegen.

Christoph Nußbaumeder erzählt sein Epos in einem ruhigen, klaren Ton und einem sachlichen Stil mit viel Lokalkolorit. Er folgt dabei nicht ganz der exakten Chronologie, sondern lässt immer wieder Lücken, die er dann erst später mit einem Überraschungseffekt füllt. Geschickt verknüpft er dabei die Schicksale seiner Protagonisten, die alle irgendwie und zuweilen nur im Geheimen mit der Hufnagel-Dynastie zusammenhängen. Auf der Folie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland seit 1900 geht es dabei in klassischer Mixtur um Liebe, Hass, Macht, Neid, Erfolg, Absturz, Verblendung, Erleuchtung sowie um die kleinen und großen Wendepunkte im Leben. Die Unverhofften ist ein ebenso unterhaltsamer wie auch kritischer Roman, der den ewigen Gegensatz von Arm und Reich, Täter und Opfer, Einheimischen und Zugewanderten extrapoliert und unsere jüngste neoliberale gesellschaftliche Entwicklung kritisch in den Blick nimmt.

Titelbild

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
700 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429624

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