Wenn Geschichten ein eigenes Leben bekommen

Charles Lewinskys historischer Roman „Der Halbbart“ rund um einen Gründungsmythos der Schweiz

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das war alles so erfunden und erlogen, dass ich gedacht habe, die Leute würden mich auslachen. […] Später, als alle nur noch betrunken waren, hat mich das Teufels-Anneli zur Seite genommen und gemeint: „Das war eine sehr schöne Geschichte. Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.“

Diese Anerkennung am Ende des fast 700 Seiten starken historischen Romans Der Halbbart des Schweizer Multitalents Charles Lewinsky, von dem neben Romanen – wie zuletzt Der Stotterer – unter anderem auch Drehbücher, Musicals, Grotesken, Theaterstücke, Sitcoms und Kinderbücher stammen, ist der Ritterschlag für dessen Protagonisten und Ich-Erzähler Eusebius, den alle nur Sebi nennen.

Mit seinen beiden älteren Brüdern, dem nachdenklichen und ausgleichenden Origines, genannt Geni, und dem hitzköpfigen Haudrauf Polykarp, genannt Poli, wächst Sebi nach dem frühen Tod seines Vaters bei einem Jagdunfall und dem Tod der Mutter in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz in der Nähe des unter Habsburger Einfluss stehenden Benediktinerklosters Einsiedeln auf. Es sind die Jahre vor der Schlacht von Morgarten 1315, eine Zeit, so will es einer der zentralen Gründungsmythen der Schweiz, als die Bauern der Talschaft gegen die Herrschaftsansprüche der Habsburger aufbegehren.

Mit dieser Schlacht und ihrer Umdeutung durch den Erzähler Sebi endet der Roman. Denn sie war weniger ein heldenhafter Kampf der Bauern gegen gepanzerte Habsburger und deren Söldner als vielmehr ein Hinterhalt, aus dem heraus die Schwyzer einen Großteil der Habsburger Delegation von Bäumen und Felsbrocken erschlagen ließen, bevor sie den verbliebenen Rest selbst brutal erledigten. Einer der Auslöser der Unruhen war der sogenannte Marchenstreit, die Nutzung von Wäldern und Weideland durch das habsburgisch dominierte Kloster Einsiedeln. Im Gefolge dieses Streits kam es nicht nur zu einem Kirchenbann, sondern auch zum Überfall und der Schändung des Klosters, was Sebi genauso miterlebt wie die Schlacht von Morgarten, die er als Heldenerzählung umdeutet, um seinen gefangenen Bruder Geni zu retten.

Damit verliert Sebi am Ende des Romans genauso seine Unschuld wie zuvor schon der janusköpfige Halbbart. Denn dieser entpuppt sich eben nicht nur als ein mit Gelehrten korrespondierender heilkundiger und hilfsbereiter Außenseiter, der Geni nach einem Unfall im Wald und einem falsch behandelten offenen Bruch mit der Amputation des Beins das Leben rettet und ihm später sogar eine Prothese anfertigt, sondern der mit der Halbbarte, der Hellebarde, auch eine neue Kriegswaffe erfindet und von Rachegelüsten gegen seine ehemaligen Peiniger, die Habsburger, beherrscht wird. Die Doppelgesichtigkeit verläuft auch durch Sebis Familie: der gewaltbereite und agitierende Onkel Alisi und sein nicht weniger verschlagener Neffe Poli auf der einen Seite und auf der anderen Seite der einbeinige Geni, der sich als Unterhändler verdingt – am Ende erfolglos.

Doch der Reihe nach: Es ist eine raue Zeit voll gnadenloser Brutalitäten, eine Zeit voller Aberglauben und einer Ständegesellschaft mit bizarren Teufels- und frömmelnden Gottesgeschichten, in der Sebi, hellwach beobachtend und mit einem guten Gedächtnis ausgestattet, aufwächst. In diese Welt bricht zu Beginn des Romans, bestehend aus 83 kurzen Kapiteln, eines Tages mit dem Halbbart ein Fremder ein.

Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da. Manche glauben sicher zu wissen, man habe ihn am Palmsonntag zu ersten Mal gesehen, andere behaupten steif und fest: Nein am Karfreitag sei es gewesen. […] Andere sagen, der Fremde sei vom Berg heruntergekommen, damals beim kleinen Felssturz, und sei dann ein ganzes Jahr in dem Steinhaufen liegen geblieben, von keinem bemerkt, vom Staub zugedeckt wie ein Wintergrab von Schnee. […] Ich glaube ja, er ist ganz gewöhnlich zu Fuß gekommen, nicht gerade auf dem breiten Weg vom Sattel herunter, aber an den Abhängen sind genügend Steige, auf denen man von niemandem gesehen wird, das wissen bei uns nur die Schmuggler.

Der Halbbart ist aus dem österreichischen Klosterneuburg geflohen, wo er vom Vikar eines Hostienfrevels bezichtigt wurde und mit Rebekka, seiner Tochter vermutlich, auf dem Scheiterhaufen gelandet war, was er aber halbverbrannt durch einen glücklichen Zufall überlebt hat. Daher rührt sein Aussehen und sein Name: „Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen.“ So erscheint der Halbbart wie eine Mischung der beiden biblischen Könige Melchior und Balthasar, weshalb er anfangs auch „Melchipart“ von manchen genannt wird.

Dieser Außenseiter, der sich am Rand des Dorfes niederlässt, wird zum väterlichen Mentor des jungen Sebi. Der wiederum taugt als „Stündelerzwerg“, als „Finöggel“, als „Ins-Hemd-Scheißer“ weder so recht als Totengräber, noch als Bauer und Handwerker und erst recht nicht als Soldat, wie sein permanent auf Krawall gebürsteter, verschlagener Onkel Alisi, der nach dem Tod seiner Schwester ins Dorf zurückkehrt und wie sein Neffe Poli Händel sucht. Deshalb soll Sebi am besten ins Kloster eintreten und Mönch werden, zumal er sich sehr für Wörter, für Geschichten, für Geschriebenes interessiert: „Wenn ich wirklich einmal Mönch werde, will ich im Kloster nicht im Stall arbeiten müssen, sondern das Schreiben lernen.“ Doch so weit kommt es nicht. Sebi kommt zwar als „Postulant“ ins Kloster Einsiedeln, flieht aber, als von ihm verlangt wird, einen getöteten Säugling den Schweinen zu verfüttern. Sebi begräbt das kleine Mädchen, Tochter eines Mönchs, tauft es zuvor auf den Namen Perpetua, und versteckt sich beim Schmied Stoffel und seiner Tochter Kätterli.

Dort trifft er auch immer wieder den Halbbart, der mit dem Schmied die Prothese für Geni wie auch die Kriegswaffe erfindet. Seinen Geschichten lauscht Sebi genauso gern wie den satanischen Schauergeschichten der erzählenden Außenseiterin, dem Teufels-Anneli, deren gelehriger Schüler Sebi am Ende wird.

Der überbordenden Fabulierlust seines Sebi wie vor allem seiner Lehrmeisterin, dem Teufels-Anneli, die geschickt immer wieder cliffhanger in ihren Geschichten einbaut, verzeiht die Leserin und der Leser des Habbarts bestimmt den einen oder anderen „Schlenker“, die eine oder andere allzu detaillierte Ausschmückung. Für das Teufels-Anneli ist sie ohnehin lebensnotwendig, wenn sie von Dorf zu Dorf zieht, um immer an der spannendsten Stelle zu unterbrechen, damit ihr Honorar, eine Mahlzeit, entsprechend nachgebessert wird. Das tut dem Text, der es zurecht auf die Longlist des Deutschen Buchpreis‘ geschafft hat und für den Schweizer Buchpreis nominiert war, genauso wenig Abbruch wie die Tatsache, dass der im Mittelalter spielende Roman mit dem anfangs vermeintlich naiven Sebi und dem Titelgebenden Flüchtling Halbbart zwei reflektierende und handelnde, durchaus modern zu nennende Individuen zeigt. 

Es geht Lewinsky neben der historischen Ebene immer auch darum zu zeigen, wie aus Geschichten Geschichte werden kann, wie Fiktionen zu vermeintlichen Fakten umerzählt werden, wie Erfindungen Realität werden können. Oder wie das Teufels-Anneli ihrem Schüler die Wirkung von zweifelhaften Geschichten beschreibt: „Das Schlimme daran sei nicht, dass manche Leute darauf hereinfielen, […] sondern dass solche Geschichten ein eigenes Leben bekämen […] und irgendwann seien sie dann von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden.“ Und wie der väterliche Mentor Halbbart Sebi erklärt, „wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert habe“, schließlich gelte: „Eine gute Geschichte ist besser als eine schlechte Wahrheit“ zumal „Erzählen […] wie Seichen“ sei: „Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.“ Das gilt offenbar auch für die immer abstruseren Fake News und Verschwörungstheorien unserer Tage.

Titelbild

Charles Lewinsky: Der Halbbart.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
688 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071368

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