Die Wiederentdeckung eines Jahrhundertautors
Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFriedrich Dürrenmatt zählt mit seinen nahezu dreißig Stücken zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren feierte er mit Der Besuch der alten Dame oder Die Physiker große Theatererfolge, die mit ihrer Aktualität und Popularität bis heute zu den meistgespielten Stücken auf deutschen Bühnen gehören. Auch seine abgründigen Parabeln und spannenden Kriminalromane – denken wir nur an Der Richter und sein Henker oder Das Versprechen mit ihren eigenbrötlerischen Kommissären Bärlach und Matthäi – gehören längst zum Bildungskanon unserer Zeit, ja sie sind Teil der Schullektüre geworden.
Der 100. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers am 5. Januar 2021 wird mit zahlreichen Anlässen begangen, mit Ausstellungen, Tagungen, Lesungen und Aufführungen. Im Diogenes Verlag hat Ulrich Weber, Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, eine neue Dürrenmatt-Biographie vorgelegt; angereichert mit einer Fülle an Dokumenten, fremden Zeugnissen und eigenen Erinnerungen berücksichtigt sie in sechs umfangreichen Kapiteln alle Lebensstationen und Werkphasen. Dürrenmatt selbst hatte gelegentlich gesagt, er habe keine Biographie, und damit sein äußerlich ruhiges, bürgerliches Leben gemeint.
In Konolfingen, einem Dorf im Kanton Bern, geboren, wuchs Dürrenmatt mit seiner jüngeren Schwester Verena im elterlichen Pfarrhaus auf. Als der Vater 1935 Seelsorger im Salemspital und im Diakonissenheim in Bern wurde, zog die Familie in die Kantonshauptstadt, wo der Junge das Gymnasium besuchte. Zunächst lagen seine künstlerischen Interessen im Bereich der Malerei, was zahlreiche Gemälde, Skizzen, Zeichnungen und Illustrationen aus der Schulzeit belegen. Auch später entstand parallel zu seinem literarischen Werk ein umfangreiches Bildwerk. 1941–1946 studierte Dürrenmatt in Zürich – später in Bern – Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie. Während der Studienzeit entstanden bereits erste Erzählungen und das Drama Es steht geschrieben (1947), das im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Dem personenreichen Stück lag die Wiedertäufer-Episode im westfälischen Münster von 1534/35 zugrunde. Nachdem der Erfolg ausblieb, zog Dürrenmatt das Stück zurück. Auch die beiden folgenden Stücke Der Blinde (1948) und Romulus der Große (1949) fanden wenig Beachtung.
Nach dem Studium entschied sich Dürrenmatt für eine Schriftstellerkarriere – unter anderem gefördert durch Max Frisch. 1946 heiratete er die Schauspielerin Lotti Geissler. Das junge Paar zog nach Basel, wo die drei Kinder Peter, Barbara und Ruth zur Welt kamen.1952 kaufte die Familie ein Haus in Neuchâtel, in dem Dürrenmatt bis an sein Lebensende wohnen sollte. Den Lebensunterhalt finanzierte er zunächst mit Theaterkritiken, Cabaret-Texten, Hörspielen und Zeitungsartikeln. In der ersten Hälfte der 1950er Jahren entstanden die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953), die ihn als Dramatiker einem breiten Publikum bekannt machten. Daneben veröffentlichte er Kriminalromane wie Der Richter und sein Henker oder Der Verdacht, die zunächst als Fortsetzungsromane in Zeitschriften wie dem Schweizerischen Beobachter erschienen.
Mit 35 Jahren gelang Dürrenmatt mit der Tragikomödie Der Besuch der alten Dame der Durchbruch als Bühnenautor von Weltgeltung. 1956 fand die Uraufführung in Zürich statt, mit Therese Giehse in der Titelrolle. Der Dreiakter wurde zum Klassiker und ist seither nicht mehr aus den Spielplänen wegzudenken. Mit schwarzem Humor ging Dürrenmatt der Frage nach: Wie reagieren Menschen, wenn ihnen jemand – wie die alte und schwerreiche Dame Claire Zachanassian – eine Milliarde für einen Mord böte? Alles hat seinen Preis. Fünfhundertmillionen für das heruntergekommene Städtchen Güllen und Fünfhundertmillionen auf die Bürger verteilt. Der Lehrer appelliert an Claires Menschlichkeit, doch sie antwortet ihm nur:
Die Menschlichkeit, meine Herren, ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung. Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell.
In der Zeit des Wirtschaftswunders beschrieb Dürrenmatt die Käuflichkeit der Menschlichkeit und die Korrumpierbarkeit der Gesellschaft in Gestalt einer Kleinstadt. Sind unsere moralischen Normen nur eine Fassade, die in einer Krisensituation wie ein Kartenhaus zusammenbricht?
In der Komödie Die Physiker (1962) setzte sich Dürrenmatt mit der Rolle der Naturwissenschaften und der atomaren Aufrüstung auseinander. Der brillante Kernphysiker Möbius (alias König Salomon) hat die Weltformel der Atomphysik entdeckt. Da deren Anwendung katastrophale Folgen für die Menschheit hätte, hat er Wahnsinn vorgetäuscht, um sein Wissen in einer privaten psychiatrischen Klinik zu verstecken. Dort trifft er auf „Einstein“ und „Newton“, ebenfalls zwei prominente Physiker, die aber Geheimagenten zweier konkurrierender Geheimdienste sind, die sich ebenfalls als geisteskrank ausgegeben haben.
Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnisse tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen. Es gibt keine andere Möglichkeit, auch für euch nicht. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eins. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschheit aus, oder die Menschheit erlischt.
Die machtbesessene Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd hat jedoch die Möbius-Manuskripte längst fotokopiert, bevor Möbius sie verbrannt hat. Das Schicksal der Welt liegt nun in den Händen einer alten, buckligen Irrenärztin. Dürrenmatt begründete das groteske Ende mit der Überzeugung: „Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ Die Uraufführung im Züricher Schauspielhaus unter der Regie von Kurt Horwitz – mit Therese Giehse, Theo Lingen, Gustav Knuth und Hans Christian Blech in den Hauptrollen – wurde stürmisch gefeiert. Mit dem Stück wollte Dürrenmatt zeigen, was passiert, wenn Wissen, das die ganze Menschheit vernichten könnte, in falsche Hände geriete. Nach seiner Überzeugung konnte man den gefährlichen Zustand der Welt im Zeitalter des Kalten Kriegs nur noch mit Komödien abbilden. Mit Der Meteor, eine Tragikomödie über einen Schriftsteller und Nobelpreisträger, konnte Dürrenmatt 1966 einen weiteren Erfolg als Dramatiker feiern. Das Theater hatte jedoch längst avantgardistische Züge angenommen, von denen sich Dürrenmatt aber weitgehend fernhielt.
Anfang der 1960er Jahre war Dürrenmatt ein weltberühmter Autor. Für einige Jahre verlegte er sich mehr und mehr auf die Verwaltung seines bestehenden Werkes und sein Schreiben war weitgehend publizistisch ausgerichtet. Darüber hinaus war er als Regisseur und Direktionsmitglied am Basler Theater (1967–1969) und als Berater des Zürcher Schauspielhauses (1970–1972) tätig und bearbeitete Stücke anderer Autoren, so von Shakespeare, Lessing, Goethe, Büchner und Strindberg. Nach 1972 trat Dürrenmatt gelegentlich wieder als Dramatiker in Erscheinung, doch die Stücke – darunter die Komödie Der Mitmacher – waren meist nicht sehr erfolgreich.
In seinem umfangreichen Spätwerk, dem Stoffe-Projekt (Labyrinth. Stoffe I-III und Turmbau. Stoffe IV-IX) setzte er sich über zwei Jahrzehnte mit dem eigenen bildnerischen und literarischen Schaffen auseinander; gleichzeitig war diese Dramaturgie der Phantasie eine kritische Spurensuche, ergänzt durch zahlreiche philosophische und fiktionale Texte. Im Nachlass fanden sich rund 30.000 Manuskriptseiten dieses persönlichen Erinnerungsprozesses, in dem Dürrenmatt aber die herkömmliche Form der Autobiographie strikt ablehnte:
Wenn ich trotzdem über mich selbst schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus…
Nach dem Tod seiner Ehefrau Lotti 1983 heiratete Dürrenmatt ein Jahr später die Journalistin, Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr, die Tochter des Literaturkritikers Alfred Kerr. In den 1980er Jahren erschienen noch die beiden Romane Justiz und Durcheinandertal. In dem Kriminalroman Justiz siegt nicht die Gerechtigkeit, vielmehr wird die Justiz zum Spielball von Einzelinteressen und damit selbst zum Opfer. Durcheinandertal könnte man als Heimatburleske bezeichnen mit versteckten Wilhelm-Tell-Anspielungen.
Seinen gesamten literarischen Nachlass vermachte Dürrenmatt 1989 der Schweizer Eidgenossenschaft, allerdings unter der Bedingung, dass man ein Literaturarchiv gründen werde. Im Oktober 1990 fand sein Stoffe-Projekt mit der Veröffentlichung von Turmbau. Stoffe IV-IX seinen vorläufigen Abschluss. Kurz vor seinem 70. Geburtstag, am 14. Dezember 1990, starb Friedrich Dürrenmatt in seinem Haus in Neuchâtel.
In seiner Biographie vermittelt Weber, der viele Gespräche mit Zeitzeugen geführt hat, ein möglichst adäquates Bild von Dürrenmatts Leben und seinem langen Entwicklungsprozess von der „Schriftstellerei“ über den Erfolgsdramatiker bis hin zum Spätwerk. Die Künstlerfreundschaften, die Filmproduktionen, der Verlagswechsel zu Diogenes oder die Verselbstständigung seines Werkes werden ebenfalls beleuchtet. Mosaikartig wird diese Vielzahl von persönlichen, familiären und literaturhistorischen Teilaspekten zu einem Gesamtporträt eines universalen und streitbaren Künstlers vereinigt. Daneben zeigt Weber auch den politischen Dürrenmatt, der als kritischer Denker in Essays und Vorträgen immer wieder Stellung zur internationalen Politik nahm. In seinem Werk verbirgt sich hinter all der Komik ein tiefgründiges politisches Denken, wobei er hauptsächlich linke und linksliberale Positionen vertrat. Selbst in seinem Heimatland hat er immer wieder provoziert – so sorgte er im November 1990 mit seiner Laudatio für den tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel für Aufruhr, indem er die Schweiz mit einem selbst gewählten und selbst produzierten existentiellen Gefängnis verglich.
Im umfangreichen Anhang finden sich der Stammbaum der Familie Dürrenmatt, eine Chronik zu Leben und Werk sowie zahlreiche Literaturquellen und ein detailliertes Register. Die Biographie – mit zwei Bildteilen versehen – eignet sich hervorragend als Einstieg in den literarischen Kosmos Dürrenmatts. Für Fortgeschrittene ist sie eine willkommene Ergänzung zu der umfassenden Biografie Dürrenmatt – oder Die Ahnung vom Ganzen von Peter Ruedi, die 2011 bei Diogenes erschien.
Neben dieser Biographie erscheinen im Diogenes Verlag zum Dürrenmatt-Jubiläum außerdem eine Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden – revidiert und in neuer Taschenbuch-Ausstattung. Für den April ist darüber hinaus eine textgenetische Edition des gewaltigen Stoffe-Projektes angekündigt. Dieses Spätwerk, von Dürrenmatt selbst als „literarisches Testament“ konzipiert, das bisher in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben ist, liegt damit nach vierzig bzw. dreißig Jahren wieder geschlossen in fünf Bänden vor.
Für Hörbuchfreunde gibt es eine Neuauflage (2011) der Audio-CD mit den Lesungen der beiden Erzählungen Der Hund und Der Tunnel. Es sind historische Aufnahmen mit dem bekannten, 2016 verstorbenen Sprecher Hans Korte. Beide Erzählungen stammen aus dem Jahre 1952. In der ersten Geschichte begegnet dem Erzähler in einer Stadt ein Prediger mit einem großen, wolfsähnlichen Hund mit schwefelgelben Augen, der mit seinem Aussehen Grauen verbreitet. Der Erzähler folgt dem Prediger schließlich bis in dessen Keller in einem reichen Wohnviertel. In Der Tunnel wundert sich ein 24-Jähriger bei seiner alltäglichen Fahrt, dass der Zug ungewöhnlich lange in einem Tunnel bleibt, den er sonst nie sonderlich bemerkt hat. Mit dem Zugführer kämpft er sich zum Führerstand vor, den der Lokomotivführer durch einen Sprung verlassen hat. Der Zug rast immer schneller… in einen dunklen Abgrund.
Der Dürrenmatt-Biograph Ulrich Weber ist auch Mitherausgeber des Dürrenmatt-Handbuches, das wenige Tage vor dem Jubiläum im J. B. Metzler Verlag erschien. Es entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Literaturarchiv und beinhaltet Beiträge von über 60 Forscherinnen und Forschern, die Dürrenmatts literarisches und bildkünstlerisches Schaffen sowie seine ästhetischen Ansichten umfassend beleuchten.
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