Wovon wir reden, wenn wir lesen
Sarah Reuss entwirft mit „Das Lesen als Handlung“ eine ‚Vollzugsästhetik‘
Von Christina Rossi
Sie tritt für eine performative – oder „realistische“ – Literaturwissenschaft ein, die das Lesen als Wahrnehmungshandlung in den Blick nimmt: Sarah Reuss kündigt mit ihrer Dissertation an, sich unter diesem Fokus einem noch kaum beachteten Aspekt innerhalb der Literaturwissenschaft zu widmen.
In Anschluss an Heidegger und Gadamer, zwei Denker des Performativen, ersetzt Reuss dann aber schon zu Beginn ihrer Studie den Begriff des Performativen durch den des Vollzugs. Im Rahmen der methodischen Konzeption ihres Ansatzes destilliert sie die für sie maßgeblichen vier Kategorien zur Analyse menschlichen Verstehens – Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Selbstbezug und Fremdbezug. Unter diese wird später dann auch das Lesen subsumierbar. Bereits hier gelingen Reuss eine auf ihr spezifisches Anliegen hin zugespitzte Reduktion des notwendigerweise raumgreifenden philosophischen Rekurses und eine strukturiert angelegte Argumentation in Hinblick auf die ästhetische Erfahrung, um die es ihr letztlich geht. Plausibel folgert sie, dass ästhetisches Verstehen eine besonders intensive Form der Weltbegegnung sei, die aus einer Situation mehr Sinnbezüge gewinne als der alltägliche Umgang dies erbringe. Diese Qualität mache letztlich auch ein Kunstwerk aus, denn indem es ästhetisch verstanden werde, erzeuge es Resonanzen. Der spezifische, ästhetisch geformte Vollzug des Werkes mache dies also erst zum Kunstwerk. Hier rekurriert Reuss nun auf die Ästhetik Martin Seels und seine These des Vollzugs als Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung, auf die sie ihre „Vollzugsästhetik“ maßgeblich stützt.
In Auseinandersetzung mit Ingardens Segmentierung der ästhetischen Erfahrung nimmt Reuss drei Etappen der Gesamtorganisation des Lesens an: die basale Schriftwahrnehmung, die Wahrnehmung des Sprachlauts und die komplexe Schriftwahrnehmung bzw. Anschauung. Hierunter fasst sie sämtliche Phänomene, im Rahmen derer der Leser in seiner Konstitutionsleistung über den eigentlichen Text hinausgeht. Diese Klassifizierung führt Reuss an einer Vielzahl konkreter Textbeispiele analytisch aus. Dabei knüpft sie in überzeugender Weise immer wieder an ihre theoretischen Vorüberlegungen an und erfasst zugleich nicht nur den schrittweisen Vollzug des Lesens, sondern auch die zuvor noch nicht weiter präzisierten Intensitätsgrade der (ästhetischen) Erfahrung.
Reuss‘ Fokus ist dabei nicht prinzipiell auf das Lesen literarischer Texte reduziert, wie ihre häufigen Rekurse auf das Ästhetische nahelegen könnten. Im Sinne ihrer theoretischen Grundlegungen konturiert sie ihren Untersuchungsgegenstand primär über die Art und Weise seines Vollzuges. Insofern konzentriert sie ihn auf das ununterbrochene Erstlesen eines Textes oder Textabschnitts, wobei sie ihre Perspektive nach und nach auf das ästhetische Lesen erweitert und ihre Denkschritte durchgängig an poetischem Material veranschaulicht.
Erkenntnisse der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung bezieht Reuss – vorgeblich, um ihre Argumentation nicht durch weitere theoretische Einwürfe zu stören – erst zuletzt und eigentlich nicht im Gestus einer ernsthaften Auseinandersetzung ein. Dabei konstatiert sie einen Mangel an Forschungsarbeiten vor allem zum ästhetischen Lesen, berücksichtigt aber nicht die in den USA lehrende deutsche Literaturwissenschaftlerin Sabine Gross. Deren Monographie Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß widmet sich der Leseforschung im Spannungsfeld von Literatur- und Kognitionswissenschaft bereits im Jahr 1994 in – bis heute – relevanter und origineller Weise. Gross führt etwa die Idee des Störfaktors im Leseprozess ein, der für sie zum Ausweis des spezifisch literarischen Textes – und damit eines ästhetischen Lesens – wird. Diesen leitet sie gerade poetisch und kognitionswissenschaftlich her. Dabei rekurriert Gross übrigens immer wieder auf das in der amerikanischen Literaturwissenschaft offenbar stärker reflektierte Feld einer „realistischen Literaturwissenschaft“, dessen Mangel Reuss beklagt, ohne aber in anderen Philologien entstandene Forschungsbeiträge aufzugreifen. In den anderen Abschnitten der Arbeit besticht Reuss‘ Argumentation dagegen durch die überzeugende und differenziert systematisierte Lektüre und Diskussion verschiedener, auch sehr aktueller, Forschungsbeiträge. Dabei entsteht nur bisweilen der Eindruck, dass es ihr insgesamt mehr um eine Abgrenzung des eigenen Theoriegebäudes als um die Integration verschiedener Konzepte zu einem umfassenden Ansatz geht.
Anstatt der Arbeit einen weiteren, ihrem großen Anspruch Rechnung tragenden Schwerpunkt, etwa im Bereich der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung hinzuzufügen (und Reuss resümiert ein solches Desiderat selbst), hält sie sich exkursartig mit weniger relevanten Einschüben auf – etwa zum Panfiktionalismus, dessen Bedeutung für ihr Vorhaben weniger schlüssig bleibt. Hier aktiviert und zerstreut sie zugleich den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionskategorien im Vollzugsakt. Überlegungen dahingehend, diese im Lotman’schen Sinne (und übrigens auch im Sinne Gumbrechts, dessen Argumenten Reuss schon anfangs nicht recht folgen möchte) strukturell zu erfassen, bleiben aus – sogar, als Reuss am Ende fordert, man müsse die literarischen Gattungen selbst auf ihre Qualität als Wahrnehmungs- oder Reflexionskategorien hin befragen. Dies bleibt methodisch konsequent, zeigt aber zugleich die auch von Reuss selbst wiederholt konstatierte enorme Dimension des Vorhabens – „Jede Lesesituation braucht […] ihre jeweils eigenen Kategorien“ – einer „Super-Ästhetik“ des Lesens auf.
Die Studie kann aufgrund der zahlreichen wichtigen Impulse sicherlich als ein grundlegender und systematisch differenzierter Beitrag für eine Leseforschung aus Richtung der „realistischen Literaturwissenschaft“ dienen. Ihr Erkenntnisgewinn wird zum Ende hin jedoch nicht ganz klar formuliert – so verweist Reuss vage auf das Vollzugsdenken als eine mögliche Analysekategorie. Das Potential einer an ihrer Vollzugsästhetik orientierten Textbetrachtung, so scheint es, liegt vor allem im Umgang mit visuellen Texten bzw. Texten, die ihre Materialität ausstellen – was kein geringfügiger Gewinn wäre.
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